Nahost: Das dauerhafte Exil
Hunderttausende sind vor Saddam Hussein aus dem Irak geflohen. Sie wollten nach seinem Sturz zurückkehren.
May Musafar steht vor der offenen Tür eines kleinen Hauses in Jabal al-Weibdeh, einem der dicht bebauten Quartiere von Amman, und winkt herüber: «Hallo, hier sind wir», ruft sie auf Englisch. Die aus Bagdad stammende May ist Schriftstellerin, Journalistin und Kunstkritikerin. Seit acht Jahren lebt sie mit ihrem Mann Rafa Nasiri, einem der bekanntesten irakischen Künstler, in der jordanischen Hauptstadt. May führt in die kleine Wohnung, die heute eine Werkstatt und eine kleine Galerie beherbergt. Dort steht hinter einem grossen Tisch - ein Tuch in der einen, einen Pinsel in der anderen Hand - Rafa Nasiri in seiner Arbeitskleidung, eine randlose Brille sitzt tief auf seiner Nase.
Das Studio ist Treffpunkt für irakische KünstlerInnen, die aus ihrer Heimat geflohen sind. Seit der US-Invasion 2003 sind es immer mehr geworden, erzählen die beiden, die wenig von der neuen Politikerelite in ihrer Heimat halten. «Manche von ihnen haben noch nicht einmal irakische Pässe», empört sich Rafa. Rasch ist eine politische Debatte im Gange, beiden ist anzumerken, wie sehr ihnen die Lage im Irak zu schaffen macht. Sie hatten gehofft, nach dem Sturz des alten Regimes wieder zurückkehren zu können, doch angesichts der Situation kann Rafa sogar Saddam Hussein mehr gute Seiten abgewinnen als all den neuen Politikern zusammen. Korruption, Gewalt, Einfluss der USA - beide glauben nicht mehr an eine Rückkehr.
Auch Widad al-Orfali, deren kleine Galerie in Bagdad mit ihren wunderbaren Fantasielandschaften und einem Tanz-, Theater- und Kinoprogramm sogar dreizehn Jahre Uno-Sanktionen überstanden hatte, lebt heute in Amman. Ihre Galerie war im April 2003 von der Privatarmee Ahmed Dschalabis beschlagnahmt und später zur Polizeiwache von al-Mansur umfunktioniert worden. Ihre Bilder hatte sie schon vor dem Krieg ins Haus ihres Sohnes gebracht. Doch nachdem ihre Tochter dreimal nur knapp einer Autobombe entkommen war und sie selber mehrfach von Unbekannten bedroht wurde, floh die heute 77-Jährige mit pflegebedürftigem Ehemann, Tochter und Enkelkindern zunächst nach Damaskus, dann nach Amman. In der Nähe ihrer neuen Galerie in Amman hat sie ein Zuhause gefunden. Malen kann sie nicht mehr, erzählt sie, Arthritis plagt die Gelenke, ihre Augen haben die Kraft verloren. «Ich sehe so wunderbare Farben vor mir und kann den Pinsel nicht mehr halten.» 2005 lud man sie nach Abu Dhabi in die Emirate ein, dort zeigte sie ihre letzte Ausstellung. «Es geht zu Ende», sagt sie leise, «wir müssen das akzeptieren.» Bei dem Gedanken, ihr geliebtes Bagdad nie mehr wieder zu sehen, strömen ihr die Tränen über das Gesicht.
18 000 oder eine Million?
Noch nie war die Zahl der irakischen Flüchtlinge in Syrien, Libanon, Jordanien, Jemen, in den Vereinigten Arabischen Emiraten und Katar so hoch wie jetzt. Nach offiziellen Angaben leben allein in Jordanien rund 250 000 IrakerInnen. Das Regionale Informationsnetz der Vereinten Nationen (IRIN) zitiert jedoch Hilfsorganisationen, die von bis zu 800 000 Flüchtlingen ausgehen. Manche sprechen sogar von einer Million - und das bei einer jordanischen Gesamtbevölkerung von sechs Millionen.
UNHCR, das Uno-Flüchtlingshilfswerk hat insgesamt jedoch nur 18 200 IrakerInnen registriert. Und nur ein Bruchteil von ihnen habe Chancen, anerkannt zu werden und in einem Land wie Neuseeland, Kanada oder Schweden siedeln zu dürfen, sagt Jara Scharif vom UNHCR-Büro in Amman. Besonders hart sind iranische KurdInnen betroffen, die seit Ende 2004 im Niemandsland zwischen der irakischen und der jordanischen Grenze in einem Zeltlager leben. Das UNHCR hat ihnen den Transfer in ein Lager im kurdischen Nordirak angeboten, wo bereits andere iranische Kurden untergebracht sind. Doch die Gruppe im Niemandsland fühlt sich dort nicht sicher. Ein Grund, so ein Sprecher der Gruppe, sei, dass die neue Regierung in Bagdad eng mit dem iranischen Mullahregime zusammenarbeite.
Manche IrakerInnen, die es bis Amman schafften, konnten ihr Vermögen retten, das oft in Gold angelegt ist. Wohlhabende - meist Ärzte, Wissenschaftlerinnen oder Geschäftsleute - hatten sich schon zu Beginn der Uno-Sanktionen ein zweites Standbein in Amman geschaffen, von wo aus sie ihre Familien im Irak unterstützten. Wer von den «neuen» Flüchtlingen über Vermögen verfügt, kauft Häuser und Wohnungen in Amman, was die Preise enorm in die Höhe getrieben hat.
Doch die Mehrzahl der ExilirakerInnen muss jeden jordanischen Dinar mehr als einmal herumdrehen. Mahad al-Dschadi zum Beispiel, die mit ihrer Mutter Sara und sechs Schwestern ebenfalls seit acht Jahren in Amman lebt. Anders als Rafa Nasiri und May Musafar erhielt Mahads Familie nie eine Aufenthaltsgenehmigung, sie hatten einfach nicht genügend Geld. «Wir waren die ganze Zeit illegal hier, jetzt gehen unsere Ersparnisse zu Ende, und wir wissen nicht, wie es weitergehen soll», sagt Mahad, die früher in Bagdad bei einer ausländischen Firma gearbeitet hat. Weil sie nicht bereit war, dem irakischen Regime Auskunft über die Arbeit der Firma zu geben, wurde sie verhaftet und ihre Familie bedroht. Kurz nach ihrer Freilassung 1998 flohen sie nach Jordanien. Heute leben sie in einer Zweizimmerwohnung in der so genannten Sportstadt, einem Wohngebiet im Norden Ammans. Ohne Status und ohne Papiere fand Mahad nur Arbeit als Babysitterin. Warum das UNHCR sie damals nicht als Flüchtlinge anerkannte, weiss Mahad nicht. Vielleicht, weil sie Details in ihrem Pass fälschte, um den Irak verlassen zu können. Eine Schwester hatte Glück, sie wurde als Flüchtling in Kanada aufgenommen, wo sie seit 2003 lebt. Die Familie würde überall hingehen, sagt Mahad, nur nicht zurück in den Irak. Da sei es noch besser, in Jordanien in der Illegalität zu leben.
Schuldentilgung in Bagdad
Auch in Katar, dem kleinen Scheichtum am Arabisch-Persischen Golf, haben mehrere tausend IrakerInnen Zuflucht gefunden, eine offizielle Zahl gibt es nicht. Den meisten hat Staatschef Scheich Hamad bin Chalifa ath-Thani einen sicheren Status und Arbeit verschafft. Thanna, die mit ihren drei Töchtern und Enkelkindern ihrem Mann im Sommer 2003 nach Doha folgte, konnte sogar die umfangreiche Bibliothek ihres Mannes mitbringen. Doch nicht alle Familienangehörigen kamen damals der Einladung nach, sagt Thanna. Ihre Schwester, eine Kinder- und Frauenärztin, hoffte auf einen Neubeginn im Irak. Während Thanna erzählt, drücken ihre Hände ein Taschentuch. Denn eines Tages, auf dem Weg zum Krankenhaus, sei ihre Schwester entführt worden. Man beleidigte sie, riss ihr das Tuch vom Kopf, schlug auf sie ein; sie verlor das Bewusstsein. Eine Million US-Dollar forderten die Entführer, 250 000 lieh sich die Familie zusammen und kaufte die Schwester frei. Sollte sie den Irak nicht umgehend verlassen, würden sie sich den Rest des Geldes später holen, drohten die Entführer.
Auf dem Weg zum Übergabeort kam der Wagen mit Thannas Schwester und den Entführern in eine US-Kontrolle. «Das ist unsere Tante, sie hatte einen Herzinfarkt, wir müssen sie ins Krankenhaus bringen», logen die Entführer. Ihre Schwester habe einen kurzen Moment überlegt, ob sie das Risiko eingehen und die Wahrheit sagen sollte. Doch dann nickte sie nur stumm, simulierte die Herzbeschwerden, und die Soldaten winkten den Wagen durch. Auf die Frage, ob ihre Schwester nun auch in Katar lebe, schüttelt Thanna den Kopf: «Nein, sie war einige Wochen in Amman, dann kehrte sie nach Bagdad zurück. Sie muss doch arbeiten, um das geliehene Lösegeld eines Tages zurückzahlen zu können.»