Aufschwung in Indien: Zum Sklaven in nur 24 Tagen

Nr. 22 –

Bangalore gilt als Silicon Valley Indiens. Hier arbeiten tausende aus dem ganzen Land in Callcentern und Backoffices. Ein Augenschein in der Millionenstadt, die um ihre Vormachtstellung bangt.

«Bangalore Burns» - «Fünf getötet, acht ernsthaft verletzt» - «Tränenreicher Abschied von Raj» («The Times of India», 14. April 2006)

Am Tag, als Raj Kumar stirbt, sind auch die Leitungen in den Callcentern tot. Der Verlust des 77-jährigen Schauspielers führt in Bangalore zu zweitägigen Ausschreitungen und weiteren Toten. Ein Schrei gehts durchs Land, Empörung. Eine Schande für die Stadt, die weltweit für ein modernes Indien steht, ein Indien des wirtschaftlichen Aufschwungs.

Zehn Jahre ist es her, seit Indien anfing, sich zum Backoffice der englischsprachigen Welt zu entwickeln. Es ging rasant: Waren im Geschäftsjahr 1999/2000 mehr als 280 000 Personen im Sektor der Informationstechnologie (IT) angestellt, so schätzt die Nasscom (Nationaler Verband der Software- und Service-Unternehmen) für das laufende Jahr die Zahl der IT-Beschäftigten auf rund 1,3 Millionen. Bei den Umsätzen rechnet man gegenüber 2005 (fast 22 Milliarden US-Dollar) mit einem Wachstum auf über 36 Milliarden Dollar.

Die Callcenter, bei uns im Westen Inbegriff dessen, was man unter «Offshore-Outsourcing» versteht, sind nur ein Teil der ganzen Auslagerung von Produktions- und Dienstleistungen an Externe in Billiglohnländer. So wird von indischen IT-Firmen aus mittlerweile nicht nur McDonald’s-Angestellten geholfen, die verzweifelt an einer verklemmten Kasse rumwürgen, oder AustralierInnen, die ihr Flugticket umbuchen möchten. Die Branche diversifiziert und emanzipiert sich, erledigt Personalverwaltungsarbeiten ebenso wie Patentrecherchen und juristische Abklärungen - und wird gerade in Bereichen wie Forschung und Entwicklung immer stärker. All das ist kein Problem mehr, seit sich über Glasfaser-Breitbandkanäle und E-Mail riesige Daten innert Sekunden von einem Kontinent auf den andern verschieben lassen.

Latte und Morddrohungen

Die Jobs sind begehrt. Selbst auf der tiefen Stufe der Callcenterangestellten verdient man zwischen 12 000 und 18 000 Rupien im Monat, umgerechnet rund 350 bis 550 Franken. Das ist sehr viel mehr als jemand bekommt, der in Indien in der Industrie, im Kleingewerbe oder auf der Post arbeitet.

Marc (richtiger Name Markandeya) und Jake (richtiger Name Shokh) arbeiten in solchen Callcentern. Der eine für Microsoft, der andere für Infosys. Infosys ist mit 52 000 Angestellten neben Wipro und der zum Tata-Konzern gehörenden TCS eine der drei führenden indischen New-Economy-Firmen. Ihre seltenen freien Abende verbringen die beiden in den Lounges, die es punkto Coolness mit jedem Szenelokal in Zürich aufnehmen könnten. Die «13th-Floor Lounge» liegt im obersten Stock eines Hochhauses an der MG Road. In dieser Gegend flaniert der junge Mittelstand, isst bei Pizza Hut und diskutiert mit FreundInnen über einem Wegwerfbecher Latte macchiato bei «Baristo».

Marc arbeitet seit einem Jahr für Microsoft. Indiens Callcenterangestellten würde neuerdings, so liest man auf Blogseiten, von Seiten frustrierter US-AmerikanerInnen sogar mit Mord gedroht. Das habe er noch nicht erlebt, sagt der 24-Jährige, der aus dem nordöstlichen Sikkim in die mehrere tausend Kilometer entfernte Hauptstadt Karnatakas gekommen ist. Auch er hilft Leuten in den USA, die mit ihrem Computer nicht zurechtkommen. «Oberstes Ziel ist dabei die Zufriedenheit des Kunden», sagt er. Dafür arbeitet er 48 Stunden die Woche, hauptsächlich in der Nacht. Alles, was es brauche, um ein guter Callcenteragent zu sein, sagt Marc, lerne man in der Ausbildung.

In der Schule

Das Callcentercollege ist eine von vielen Privatschulen, die Leute für den Telefonservice fit machen. Es hat seine Räume an einer Parallelstrasse zur MG Road. Einer der Lehrer hier ist Renush, ein 28-Jähriger aus Kerala. Am ersten Schultag verkündet er seinen Anvertrauten: «Wenn ihr am Ende der Ausbildung, also in 24 Tagen, diese Schule verlässt, seid ihr nicht, was ihr jetzt seid. Understand?!» Die Klasse, vierzehn Männer und eine Frau, im Chor: «Yes! Yes, Sir!» Renush ist ein geistreicher, witziger und auch charmanter Gesprächspartner - in den Pausen. Steht er vor der Klasse, gibt es kein Pardon. Dasselbe gilt für Siddharth, den zweiten von drei Lehrern an der Schule. Sie haben den Job, aus berufsunerfahrenen StudienabgängerInnen und ehemaligen VerkäuferInnen selbstbewusste, durch Sozialkompetenz bestechende GesprächspartnerInnen zu machen - respektive DienerInnen mit einer Persönlichkeit, die der westlichen Vorstellung von kultiviert entspricht. Siddharth, der früher selber in Callcentern gearbeitet hat, steht in weissen Jeans und weissem Jackett vor der weissen Wandtafel. Mit dem Rücken zur Klasse kritzelt er «service» auf die Tafel. Dann kehrt er sich um. «Service - woher kommt dieses Wort?» Die Klasse schweigt. Siddharth dreht sich wieder um und schreibt ein zweites hin, «slave». «Service kommt von Sklave!», ruft er, «ist das klar?» Die Klasse: «Ja!» - «Okay, dann fahren wir weiter.» Im Callcentercollege werden die Klassenzimmer mit Video überwacht. Neben Wille und Leistung spielt auch das Auftreten der SchülerInnen eine Rolle. «In diesen Räumen spricht niemand etwas anderes als Englisch. Auch nicht privat. Ist das klar?» - «Ja!» - «Gut. Denn wir haben ja unsere eigene Personalvermittlungsabteilung», sagt Renush seiner neuen Klasse, «gebt euch also Mühe, wenn ihr ernsthaft einen Job wollt.»

Thomas L. Friedman, der Starkolumnist der «New York Times», ist begeistert von Indiens Callcentern. Er rühmt den Aufschwung der indischen Wirtschaft, insbesondere der New-Economy-Branche, der diese traumhaften Wachstumsraten zu verdanken sind, sorgt sich aber auch ein bisschen um die von Stellenabbau gefährdeten Beschäftigten in seiner Heimat. Ein Hoch auf die InderInnen, ein «Wacht auf!» an die US-AmerikanerInnen. Er scheint davon auszugehen, dass in Indien nicht nur die über eine Million Menschen in der IT-Branche profitieren werden, sondern irgendwie auch die Armen, von denen es über dreihundert Millionen gibt.

KritikerInnen dieses Booms, unter ihnen auch die Autorin und Aktivistin Arundhati Roy, sind da pessimistischer. Für Roy stellen die IT-Komplexe in Städten wie Bangalore, Hyderabad und Pune Sicherheitszonen dar, «internationale, höchst privilegierte Gebiete inmitten eines Meeres von Verzweiflung und Armut», wie sie in einem Interview sagt. Sie verweist auf das enge Zusammenspiel zwischen Regierungen und den New-Economy-Gurus. Tatsächlich sind die IT-Firmen seit 1996 von Steuern auf ihren Exportgewinnen befreit, fordern gleichzeitig aber die Verbesserung kommunaler Infrastrukturen, damit die Städte mit ihren Ansprüchen und ihrem Prestige mithalten können. Damit die Probleme, die sie selber verursachen, gelöst werden. Zum Beispiel in Bangalore.

Smitha Rao ist in der Bangalore-Redaktion der «Times of India» fürs Lokale zuständig. Sie sagt: «Seit der IT-Boom startete, sind zehntausende von Jobs entstanden. Innert weniger Jahre hat sich die Stadt gewaltig verändert». Die Menschen, eine gebildete Mittelschicht, kommen aus dem ganzen Land nach Bangalore - die Stadt gehört zu den am schnellsten wachsenden in Indien. Die Konsequenzen? Rao: «Der Privatverkehr hat um das Achtzehnfache zugenommen. Die IT-Leute verdienen in einem Monat, wofür ihre Eltern ein ganzes Jahr schuften. Sie haben Mittelstandsträume, wollen westliche Markenklamotten, Ferien in der Schweiz und ein modernes Haus. Die Immobilienpreise sind ins Unermessliche gestiegen.»

Zwanzig Prozent der EinwohnerInnen Bangalores leben in Armut. Manche Slums liegen in Zonen, die plötzlich attraktiv werden. Menschen werden umgesiedelt. Während die IT-Giganten auf politischer Ebene ihre Macht zur Schau tragen, um die Behebung von Infrastrukturproblemen einzufordern, wächst das Ungleichgewicht in der Bevölkerung. Bei der Frage, welche Verbesserungsmassnahmen Priorität haben, hat ihre Stimme kein Gewicht.

Mittelstandsträume

Neben den neuen Lounges und Shoppingcentern sind auch die schicken Restaurants Symbol für eine indische Stadt im kapitalistischen Delirium: Wer das nötige Kleingeld hat, konsumiert hier hinter meterhohem Glas. Draussen passieren diejenigen, für die die gläserne Transparenz nur eine einzige Bedeutung hat: die des leeren Versprechens.

Als die Zeitungen und Fernsehsender der Nation im April berichteten, Bangalore brenne, suchten sie nach Erklärungen. War es allein die Trauer über den Tod der Ikone Raj Kumar, sein Gurustatus im Kampf um den Erhalt der regionalen Sprache, des Kannada? Oder vermischte sich diese Trauer noch mit etwas anderem? Es wurde spekuliert, wie sehr die Entwicklung der IT-Branche - die Tatsache, dass immer mehr Menschen hierher kommen, die Englisch sprechen und besser verdienen als die lokale Mehrheit - die Lokalkultur bedrängt. Auch dass die IT-Gurus ihre Forderungen an Infrastrukturverbesserungen und Landnutzung unter Missachtung des Allgemeininteresses und demokratischer Regeln durchpowern, stand zur Debatte. Es war nicht das erste Mal in der Geschichte Bangalores, dass wütende Massen zerstörend durch die Strassen zogen, und darum zu einfach, die Ereignisse einzig mit dem sich vertiefenden Graben zwischen der IT-Gesellschaft und den davon Ausgeschlossenen zu erklären. Aber sie zu ignorieren wäre auch nicht richtig, zumal sich keine indische Stadt so sehr und so schnell von einer einst von staatlichen Industriebetrieben mit tausenden von sicheren Arbeitsstellen geprägten Stadt hin zum Playground einer neoliberalen Elite entwickelt hat.

Vor diesem Hintergrund haben manche Intellektuelle im Land nur ein müdes Lächeln übrig für die gesundheitlichen Probleme, die Callcenterangestellte plagen. «Die billigen Löhne sind nicht der einzige Grund, weshalb westliche Firmen gerne Jobs nach Indien verlagern», sagt Thomas Friedman, «das dreckige Geheimnis ist, dass die Leute dort härter zu arbeiten gewillt sind als in den USA und Europa.» Sein eigenes dreckiges Geheimnis und das der IT-Bosse ist, dass sie sich bislang nicht dafür interessierten, wie es diesen hart arbeitenden Leuten über kurz oder lang geht.

Eine im November 2005 veröffentlichte Studie des Nationalen Instituts für Arbeit ermöglicht nun erstmals einen Blick hinter die Kulissen und in die Psychen der Angestellten. Die konstante Überwachung und Bewertung der Arbeit, die langen (Nacht-)Einsätze, kaum Pausen, hoher Druck und Wettbewerb innerhalb der Firma und schliesslich die emotionale Belastung, verursacht durch Misstrauen und Beschimpfungen vonseiten der KundInnen, resultieren in Gesundheitsproblemen wie Burn-outs, aber auch in sozialer Isolation.

Für die Studie wurden 280 Callcenterangestellte in Noida bei Delhi befragt. Die Ergebnisse würden in den andern Städten vergleichbar ausfallen, selbst in Kalkutta, das im kommunistisch regierten Westbengalen liegt. Auch dort hat die linke Regierung Firmen, die im Outsourcing-Bereich tätig sind, kurzerhand vom Industrial Disputes Act befreit. Damit wurden beispielsweise Kündigungsschutz und Arbeitszeitenregelungen gelockert. Wie in Bangalore gilt dort jetzt die 48-Stunden-Woche.

Der Standortwettbewerb ist in vollem Gang. Nebst dem einst als hoffnungslos geltenden Kalkutta kämpfen auch Chennai, Pune, Hyderabad und Gurgaon/Noida bei New-Delhi um den ersten Platz. Unzufriedene Menschen, die tobend durch die Strassen ziehen, kann sich Bangalore in Zukunft nicht mehr leisten, heisst es. Unklar ist, wie die PolitikerInnen, die - im Unterschied zu den IT-Gurus vom Volk gewählt werden - dem entgegenwirken wollen.


Outsourcing

Outsourcing bedeutet das Auslagern von Arbeiten an externe Geschäftspartner. Das können Firmen im eigenen Land sein (Inshoring) oder in weit weg liegenden Billiglohnländern (Offshoring). Besonders in den nicht englischsprachigen Ländern wird aber vor allem das Auslagern in nicht so entfernte Billiglohnländer (Nearshoring) immer populärer. Polen und Ungarn beispielsweise sind aus sprachlichen Gründen für die Schweiz und Deutschland interessant.

Hat sich ein Land auf dem internationalen Markt etabliert, so wie Indien, steigen automatisch die Löhne - und die Firmen im Westen suchen dann nach neuen, billigeren Ländern. Für den englischsprachigen Markt sind so auch Pakistan, Sri Lanka und die Philippinen zu einer valablen Destination geworden. In Indien wiederum versucht man, auch AuftraggeberInnen anderssprachiger Länder zu gewinnen. Weil es betreffend die Sprachkompetenz noch riesige Lücken - also Chancen - gibt, werden plötzlich Deutschkurse attraktiv. Oder andersrum: EuropäerInnen schauen sich auf dem indischen Arbeitsmarkt um, obwohl sie dort viel weniger verdienen als im Heimatland.