Naturwissenschaft versus Sozialwissenschaft: Nicht ernst genommen

Nr. 22 –

Was passiert, wenn sich ein Chemiker und eine Soziologin über Wissenschaft verständigen sollen? Ein Experiment.

Etwas haben die Naturwissenschaften und die Geistes- und Sozialwissenschaften im Prinzip gemein: Sie sind Erfahrungswissenschaften. Sie beobachten die Welt und analysieren die Aufzeichnungen, die sie von dieser Erfahrung gemacht haben. Und etwas trennt die beiden Disziplinen: Während die Naturwissenschaften die stochastische, also die zufallsabhängige Realität untersuchen, beschäftigen sich die Geistes- und Sozialwissenschaften mit der sinnstrukturierten Wirklichkeit. Sie behandeln das, was Menschen mit Sinn versehen.

Wissenskulturen

Können sich Natur- und SozialwissenschaftlerInnen über die Grundprinzipien ihrer Fächer verständigen? Einfach ist das nicht, wie ein Experiment zeigt, das am 18. Mai im «Novotel» in Zürich - allerdings nicht unter streng wissenschaftlichen Voraussetzungen - stattfand. Am Seminar «Das Forschen erforschen», das der Schweizer Klub für Wissenschaftsjournalismus und der Schweizerische Nationalfonds organisiert hatten (federführend unter anderen WOZ-Redaktor Marcel Hänggi), referierte unter anderen die Konstanzer Wissenschaftssoziologin Karin Knorr Cetina über «Wissenskulturen» - worauf der Zürcher Chemiker Richard Ernst ein äusserst dezidiertes Koreferat hielt.

Knorr Cetina berichtete den vorwiegend naturwissenschaftlich interessierten WissenschaftsjournalistInnen von ihren Feldstudien im Physiklabor. Am Cern (Organisation Européenne pour la Recherche Nucléaire) in Genf hatte sie unter anderem beobachtet, dass die Organisationskultur der Wissenschaftsproduktion, in die heute bis zu 2000 Forschende involviert sind, nichthierarchisch und sozusagen überindividuell sei. Dass das Individuum autonom Erkenntnisse gewinne, lasse sich mit dem Beispiel des Cern als Illusion entlarven, das für eine «Verteilung der Kognition» im Team sorge, was sich nicht zuletzt an den Publikationen ablesen lasse, auf denen dutzende von AutorInnen firmierten. Das Cern-Modell habe mit seinen kommunitaristischen Elementen sogar eine Vorbildfunktion und Vorreiterrolle inne.

Von diesem schmeichelhaften Bild einer Naturwissenschaft wollte Ernst nichts wissen. In seinem Koreferat wies er die Erkenntnisse der Wissenschaftssoziologin umgehend zurück. Wichtig sei nicht das Labor, sondern der einzelne Experimentator, der Verantwortung für sein Forschen übernehme, das zu einem guten Teil von der Intuition vorangetrieben werde. Das Modell der 2000 kooperierenden Wissenschaftler sei zum Glück ein Auslaufmodell. «Wir brauchen Leader, die um die gesellschaftlichen Probleme wissen, nicht Rädchen», schloss Ernst abrupt.

Wieso die leicht gereizte Reaktion? Offenbar sträubte sich der Naturwissenschaftler dagegen, von einer Nichtnaturwissenschaftlerin quasi ethnologisch betrachtet zu werden. Zum Widerwillen kam das Missverständnis: Ernst verstand Knorr Cetinas Hermeneutik fälschlicherweise als Wertung. Was die Soziologin wortreich als ein Organisationsprinzip der Naturwissenschaften enthüllen wollte, deutete der Naturwissenschaftler als uninformiert-kulturalistische Kritik am einzelnen Forscher und dem Naturwissenschaftsmodell.

Idealisierung

Dazu kam noch ein weiterer Punkt: Ernst fühlte sich wohl auch angegriffen, weil Knorr Cetina in ihrer Betrachtung auf halber Strecke stehen blieb. Sie beschrieb zwar - ziemlich idealisierend - die Kooperations- und Produktionsmechanismen der physikalischen Wissenskultur, kam aber nicht auf die Crux zu sprechen: Was bedeutet das nun generell für das naturwissenschaftliche Wissen, für dessen Ergebnisse? (Zu fragen wäre auch: Was bedeutet demgegenüber die hierarchische und auf das Individuum zentrierte Wissenskultur für die sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse?) Ernst fühlte sich als Wissenschaftler, der primär auf Resultate hinarbeitet, zu Recht nicht ernst genommen.

Was aber besagt das Experiment? Die oft beschworene Interdisziplinarität scheitert nicht an mangelndem Verständniswillen. Die Differenz kann auch in der Sache selbst stecken.