Coronaforschung: Grenz­überschreitung auf beide Seiten

Nr. 13 –

Eine Konferenz in Thun brachte die medizinische und die sozialwissenschaftliche Forschung zu Covid-19 zusammen. Eine Fülle an neuen Erkenntnissen und differenzierten Debatten – aber wer hört noch zu?

«Wir waren nicht gut vorbereitet», sagt Lone Simonsen. «Wir waren nicht gut im Teilen. Wir hatten Glück, dass der Impfstoff früh entwickelt wurde.» So das Coronafazit der dänischen Epidemiologin, die in ihrer Heimat so bekannt ist, dass sie den Übernamen «Corona-Lone» trägt. Drei Tage lang treffen sich in der zweitletzten Märzwoche rund hundert Forschungsteams, die sich mit Covid beschäftigen, im Kultur- und Kongresszentrum Thun. Der zweite Tag ist für Interessierte offen. Doch nur wenige Journalist:innen sind gekommen.

In ihrem Referat blendet Simonsen auf vergangene Pandemien zurück, auf die Spanische Grippe 1918 mit 75 Millionen Toten und die weniger bekannten heftigen Grippewellen von 1957 und 1968. Sie hat auch eine Erklärung für die schlechte Vorbereitung auf Corona: «Alle erwarteten ein neues Grippevirus.» Und die Schweinegrippe von 2009 sei trotz Befürchtungen mild verlaufen. Viele hätten daraus den Schluss gezogen: Wir müssen uns nicht zu viele Sorgen um Pandemien machen, zumindest nicht in Ländern mit guter Infrastruktur. Wir haben das im Griff.

Die Pandemie als Spiegel

Ende April 2020 beauftragte der Bundesrat den Nationalfonds, das Nationale Forschungsprogramm (NFP) 78 zu lancieren – mit dem Ziel, mehr über das Virus zu lernen. Seit Ende 2021 wird es durch das NFP 80, «Covid-19 in der Gesellschaft», ergänzt. Die Forschenden der beiden Programme und damit Medizin und Sozialwissenschaften zusammenzubringen, ist ein Ziel der Thuner Konferenz. Sie sei beeindruckt von der Interdisziplinarität, die sie hier erlebe, sagt Simonsen. Die Vielfalt der Posterpräsentationen ist tatsächlich riesig. Neben verschiedensten medizinischen Fragen geht es etwa um Treffpunkte für die Jugend, häusliche Gewalt und den Schutz des Gesundheitspersonals, den Einfluss von Religion auf das soziale Verhalten in der Pandemie und von Coronarestriktionen auf touristische Reiseziele, Proteste, «loneliness prevention» und «pandemic governance».

Nach Simonsen spricht die Genfer Bioethikerin Samia Hurst. «Pandemien sind Spiegel», sagt sie. «Sie zeigen uns Dinge über uns selbst. Und manche lernen wir nicht gern.» Hurst übt Kritik: «Wir sind eine arbeitszentrierte und ableistische Gesellschaft.» Eine Gesellschaft also, die Menschen aufgrund ihrer Fähigkeiten bewerte – oder abwerte. Man habe sich im Lockdown darauf konzentriert, die Arbeitswelt neu zu organisieren; die Bedürfnisse von Jugendlichen, Alten, Risikogruppen und Menschen mit Behinderung seien zu kurz gekommen. Doch die Ethikerin macht keine Vorwürfe, sondern betont, wie wichtig es sei, Widersprüche auszuhalten: «Wir sollten mit Uneinigkeiten leben und Diskurse, die irrational scheinen, nicht dämonisieren.» Es mache pluralistische Gesellschaften gerade aus, dass man sich nicht einig sei. Sie benennt auch ein zentrales Dilemma der Coronamassnahmen: «Die Menschen nicht zu schützen, ist eine Grenzüberschreitung. Ihre Freiheit einzuschränken, ist auch eine.»

Zur Konferenz gehören Workshops nach der «Weltcafé»-Methode: Eine zufällig zusammengewürfelte Gruppe diskutiert über vorgegebene Fragen. Zum Beispiel über die Fallstricke der Wissenschaftskommunikation: Soll man Prognosen abgeben oder nicht? Soll man, wie es ein Teilnehmer formuliert, «die Öffentlichkeit ins Labor schauen lassen» – oder Ergebnisse erst mitteilen, wenn sie gesichert sind? Manche am Tisch plädieren dafür, auf Prognosen zu verzichten: Vorläufige Ergebnisse würden mit ihren Widersprüchen bloss zu Misstrauen führen. «Aber wenn man keine Prognosen abgibt, gilt das als Versagen», meint eine Forscherin.

Umstrittener Kantönligeist

«Von der Pandemie lernen» ist das Thema des Schlusspodiums, und am meisten in Erinnerung bleibt davon Emanuela Keller, Intensivmedizinerin am Universitätsspital Zürich. Sie klingt eindringlich und unendlich müde zugleich, wenn sie von den ersten Tagen der Pandemie erzählt, von den Patient:innen, deren Zustand sich so schnell verschlechterte, dass sie schon in der Nacht nach der Einlieferung starben, von den Telefongesprächen, die die Mitarbeiter:innen mit den Angehörigen führen mussten. Sie denke viel über die Langzeitfolgen jener Zeit nach, sagt Keller. Auch über die Kinder, die im Lockdown den Anschluss verloren hätten, die Medizinstudent:innen, die aus Sicherheitsgründen kaum je Patient:innen vor sich gehabt hätten. «Wir müssen die Sozialwissenschaften früher einbeziehen. Das ist fundamental.» Es klingt, als spräche sie schon von der nächsten Pandemie.

Je länger Corona dauerte, desto stärker prägten Wut und Verhärtung viele Debatten. Offene Diskussionen, die auch Widerspruch und Widersprüche zuliessen, waren kaum noch möglich. Das ist in Thun zum Glück anders, etwa als es um die Rolle des Föderalismus in der Pandemie geht: Die Teilnehmer:innen sind sich überhaupt nicht einig, ob der Kantönligeist vor allem schädlich gewesen sei – oder manchmal genau das Richtige. Doch wer soll diese Debatten und Erkenntnisse an die Öffentlichkeit bringen, jetzt, wo das grosse Interesse vorbei ist? In einer ausgedünnten Medienlandschaft, in der es kaum noch Wissenschaftsjournalist:innen gibt, weil Wissenstexte in Deutschland eingekauft werden oder Feuilletons nur noch dem Kulturkampf dienen.