«Die Spange»: Magische Mundhöhle

Nr. 25 –

Was passiert, wenn der Zahnarzt in meiner Mundhöhle Überreste einer jahrtausendealten Anlage entdeckt? Eine Versenkung in Michel Mettlers stupenden Romanerstling, der das Zeug zum Klassiker hat.

Am Ende des Romans «Die Spange» sagt die Hauptfigur Anton Windl an einer Medienkonferenz über ein Buch, das Dr. Berg über ihn geschrieben hat: «Ich denke, dass es in dem Buch um die menschliche Existenz im Allgemeinen geht und erst in zweiter Linie um meine Person», und: «Lesen Sie selbst.»

Doch was ist das für ein Buch, das gelesen werden soll? Ist es «Die Spange», Michel Mettlers Roman, den wir soeben beendet haben? Oder ein uns (noch) unbekanntes Buch von diesem Dr. Berg, Spezialist für degenerative Medizin und Leiter eines Projekts, dessen Versuchskaninchen Windl ist?

Dr. Berg erklärt Windl einmal: «Lesen ist meine Methode, Verstehen mein Beruf. In Ihrem Fall dürfte es wohl mehr um ein Entziffern gehen.» Das ist auch als Handlungsanleitung für LeserInnen der «Spange» zu verstehen. Zu entziffern gibt es beträchtliche Mengen Text in unterschiedlichsten Formationen: Gesprächsprotokolle, Dialoge, ein Zeitungsinterview, ethnologische und his-torische Studien, Berichte eines Ich-Erzählers; ein Rätselroman, ja, aber mit Grund: «Die Spange» fordert Scharfsinn und Aufmerksamkeit, weil der Roman eines der grossen Themen moderner Literatur, nämlich «die Schwierigkeit, ‹ich› zu sagen», wie es etwa Christa Wolf formuliert hat, nicht nur inhaltlich, sondern auch formal fasst.

Mit Kafka in der Mundhöhle

Ungewiss ist dem neuzeitlichen Individuum und damit Anton Windl sein Sein; zu leben, impliziert der Roman, heisst deshalb, die Konstruktionsbedingungen des Subjekts und dessen Verhältnis zur Gesellschaft erkunden. Wer Windl als exemplarischer Vertreter der «menschlichen Existenz» wirklich ist, kann «Die Spange» nicht definitiv eruieren; aber der Text beschäftigt sich auf seinen 350 Seiten unablässig mit dessen Ich - auch wenn er uns gleich zu Beginn ein erstes Mal in die Irre führt. Denn eher als um Windl scheint es auf den ersten Seiten, wie der Titel suggeriert, um die Mundspange und die Mundwissenschaft im Allgemeinen zu gehen.

Der Aargauer Michel Mettler, Jahrgang 1966, ist Dramaturg, Musiker, Autor. Und zusammen mit dem Schriftsteller Peter Weber Mitglied eines dichtenden Maultrommlerquartetts. Die vier Maultrommeln, hiess es in einer Konzertankündigung, «geleiten durch ein Textgewebe, das von unterschiedlichen, merkwürdigen Klangereignissen handelt. In diesem Mundoratorium wird der Gaumen zur Landschaft, die Landschaft zum Gaumen.» «Die Spange», Mettlers erster Roman, beginnt also auf vertrautem Gelände: Der Autor inszeniert einen magisch-realistischen Einstieg in die Mundhöhle des Anton Windl, wo dessen Zahnarzt, «es war ein sonniger, leicht föhniger Apriltag», auf eine über 5000 Jahre alte Zahnspange, dann auf eine ebenso prähistorische Anlage von beträchtlichen Ausmassen stösst. WissenschaftlerInnen unterschiedlichster Disziplinen sind entzückt, Windl verlässt Zeit seines Lebens die Praxis nicht mehr, Franz Kafka grüsst recht freundlich.

Wahrheit mit Tschador

Die Geschichte hat beträchtlichen Schwung, aber das reicht Mettler nicht. Er braucht die überzeugend gestaltete Eröffnungssequenz, die andern vielleicht für ein ganzes Buch gereicht hätte, als Ausgangspunkt zum wilden Spiel, ein so weit als möglich kohärentes Universum namens Anton Windl zu bauen, und das macht «Die Spange» zu einem der interessantesten Bücher der letzten Jahre. Der Roman allerdings ist heimtückisch. Ständig verzweigen sich die Erzählstränge, bald wähnen wir uns in einem zwar ansprechend gestalteten, aber sinnlosen Labyrinth. Vor allem Windls Vertrauensarzt Dr. Berg verlängert den Roman durch seine Hartnäckigkeit, mit der er auf psychologischer Ebene der unglaublichen Ereignisse in Windls Mundhöhle Herr werden will, beträchtlich. Weil sich der Patient schlecht an seine Vergangenheit erinnert, lässt Dr. Berg gar einen «Narrator» bauen, eine Maschine, die Windls Fabulierlust anregen und somit helfen soll, seinem Ich auf die Schliche zu kommen. - «Ich handelte mich nun um eine plutoniumgesättigte Halbkugel, die man mit symmetrisch angeordneten Sprengstofflinsen zu einer überkritischen Masse komprimierte», heisst es einmal. Aber da sind wir schon mittendrin und erkennen, dass der Irrgarten kunstvoll angelegt ist. Die gewöhnlichen Erwartungen von Einheit und Zusammenhang täuscht dieser Roman oft. Wer aber echten systematischen Instinkt hat, entdeckt, je tiefer sie oder er forscht, je mehr innere Beziehungen und Verwandtschaften, je mehr geistigen Zusammenhang.

Das beginnt ganz profan. Ein nettes Fräulein Breuninger, Lehrerin des jungen Windl, begleitet die Klasse zur Schulzahnprophylaxe: «Dann nichts wie los, gehen wir!» 78 Seiten später ist es aber Dr. Berg, der Windl auf dem Weg zu seiner temporären Einfrierung begleitet: «Nichts wie los, gehen wir.» Zufall? Nicht in diesem Buch! Auch thematische Parallelen fallen auf: Zweimal ist beispielsweise unverhofft von Tennis die Rede. Zuerst erinnert sich Windl, wie er als krankes Kind eine Fernsehübertragung vom Pariser Tennisturnier Roland Garros verfolgt hat - «Game, Set and Match» blieb ihm im Ohr. Tatsächlich? Die Franzosen verlangen an ihrem Turnier von den Schiedsrichtern ein «Jeu, Set et Match». Später erzählt Dr. Berg eine Geschichte von einem Tennisprofi, während Windl über sein Verhältnis zur Wahrheit philosophiert: «Die Wahrheit hat immer einen Tschador getragen und dahinter ihre Stimme verstellt - wenn sie mich überhaupt ins Zimmer liess. So sage ich wohl mit ehrlicher Absicht etwas Falsches, wenn Sie mich fragen.»

Der Roman - dies eine von vielen Lesarten - untersucht, wie sich im instabilen Ich die Welt sammelt und verschiedene Wahrnehmungen zusammenfinden, die eine gewisse Einheit gewährleisten. Aber das funktioniert nie ohne Probleme. Vernunft und Verstand alleine reichen nicht, «die Schwierigkeit, ‹ich› zu sagen», aufzulösen. Fähiger ist die Fantasie, wenn sie mit Mitteln der Ironie agiert, als ständiges Alternieren von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung, was allerdings auch keine endgültigen Resultate zeitigt: Die Berichte, die sich aus der Benutzung von Dr. Bergs Narrator ergeben, sind in kaum geordneter zeitlicher Folge über das ganze Buch verstreut und mit dreistelligen Nummern versehen: «001, 002, 003 und so weiter.» Mitten im Roman taucht dann aber eine Aufzeichnung Nummer 000 auf; kann sie den Ursprung klären?

Ein Ich-Erzähler ist darin Testperson bei Experimenten, die die Todesstrafe humaner machen sollen - «weil ich ja nicht sterbe». Nach jeder Testexekution «legte ich mich in meinen Schüttelbecher, um die durcheinander geratene Zellstruktur zu reorganisieren». Diese «Fixzelle» wird detailliert beschrieben und ähnelt frappant dem Narrator. Die Forscher machen nur kleine Fortschritte, aber dann gelingt «eines sonnigen Apriltages» - ja, wie bei der Entdeckung der prähistorischen Mundspange - der Durchbruch: «Mein leicht unterkritischer Hohlbauch wurde mit kreisförmig angeordneten Linsen aus konventionellem Sprengstoff so weit komprimiert, dass ich binnen Zillionstelsekunden zum Wirt von bis zu sechzig Nukleidengenerationen werden konnte. (...) Ich spaltete mich immer weiter und noch weiter auf. Ich umarmte das Weltall, ich umarmte mich selbst.» Am Schluss hört er eine Stimme aus dem Off: «‹Bin ich das?› ‹Bin ich das?› ‹Bin ich das?› Obwohl es hörbar nicht die meine war, konnte ich ihr keinen Glauben schenken.»

Ich? Nicht-Ich?

Windl, der bereits als Neunjähriger in die Mühlen der Zahnkorrekturindustrie geraten ist, wünscht sich nichts sehnlicher als die Rekonstruktion seiner originalen Zahnstellung. Er will wissen, «wie ich ausgesehen hätte, wenn gar nichts an mir manipuliert worden wäre». Doch er muss sich belehren lassen, dass das unmöglich sei - die originale Zahnstellung «konnte also nur eine Fiktion sein, eine Fantasie oder ein Phantom». Und nicht nur bei ihm selber schwindet die Seinsgewissheit, wie Windl sagt, auch bei seinen Mitmenschen, auch den allernächsten, sieht er nur noch Regelgebisse statt Naturstellungen. Wirklich echt ist da nichts, und dass in Windls Mundhöhle eine prähistorische Anlage gefunden wird, die zeigt, dass am Ich schon immer rumgebastelt wurde, kann deshalb nicht erstaunen. Das Ich, so es überhaupt existiert, entbehrt eines letzten absoluten Grundes, ruht ungefähr so in sich wie die spielenden Personen, die sich ohne Stuhl, bloss eine auf der andern Knie kreisförmig hinsetzen.

Michel Mettler hat mit grosser Konzentration und Präzision einen Text in der Tradition der grossen Romane der modernen Literatur gefertigt. Zugegeben, «Die Spange» verlangt nach intensiver Lektüre. Aber wer sich auf die wunderliche Welt des Anton Windl einlässt, wird viel erleben. Und vielleicht lässt sich der Schluss - «Lesen Sie selbst» - dann mit dem Barockdichter Angelus Silesius als «Leben Sie selbst» verstehen: «Freund, es ist genug. Im Fall du mehr willst lesen, so geh und werde selbst die Schrift und selbst das Wesen.»

Michel Mettler: Die Spange. Suhrkamp. Frankfurt am Main 2006. 351 Seiten. 36 Franken