Literatur: Der Trost des Normalen

Nr. 43 –

Sally Rooney hat unter viel Trubel einen neuen Roman veröffentlicht. Wer «Intermezzo» als politisches Buch liest, landet notgedrungen im Bett.

Foto von Sally Rooney
Öffnet die Tore der Wahrnehmung: Die irische Autorin Sally Rooney.   Foto: Kalpesh Lathigra

Und wenn sie in der Öffentlichkeit fälschlich für etwas gehalten werden, was sie sind, Peter und seine Liebschaft? Es sind nicht ganz leichte Fragen, die sich in seinem Kopf drehen. Peter verbringt die Vorweihnachtstage «in seltsam zerbrechlicher Ruhe», sein Leben, vor allem sein Liebesleben, erscheint ihm als Scherbenhaufen, verworren, ausweglos. Was ist das eigentlich, eine romantische Beziehung? Und wie lässt sich etwas leben, was in den gebräuchlichen Kategorien nicht vorgesehen ist? Irgendwann schiebt sich ein Zitat des Philosophen Ludwig Wittgenstein zwischen die Gedanken: «Der entscheidende Schritt im Taschenspielerkunststück ist getan, und gerade er schien uns unschuldig.» Wie magisch scheinen die Kategorien verschiedener Beziehungen immer schon zurechtgerückt, ohne dass man gemerkt hätte, wie das passiert ist.

Es zeugt von solidem Selbstbewusstsein, dass die irische Autorin Sally Rooney in dieser Passage aus ihrem kürzlich erschienenen vierten Roman «Intermezzo» den von ihr geliebten Philosophen zitiert. Ihr ist kaum entgangen, dass dieser Satz auch wunderbar für ihre Literatur zutrifft, die ihre Wirkung entfaltet wie das Kunststück einer Taschenspielerin: Für sich genommen sind die meisten ihrer Sätze unscheinbar, sie fliessen so dahin, während sich die Beiläufigkeiten über die Zeit zu komplexen Figuren und Konstellationen verdichten. So kommt es, dass die gegen 500 Seiten dieses Romans, auf denen eigentlich nicht allzu viel passiert, zu fesseln vermögen bis zum Schluss.

Amouröses Kammerspiel

So kommt es auch, dass manche von Rooneys Figuren und die Gegensätze zwischen ihnen zunächst klischiert wirken. «Intermezzo» ist der erste ihrer Romane, der primär aus der Perspektive männlicher Figuren erzählt ist, aus der zweier Brüder: eben Peter (32), ein erfolgreicher, eloquenter und tablettenabhängiger Anwalt, und Ivan (22), ein hochbegabter, schüchterner Schachspieler mit Zahnspange. Den Gegensatz betont Rooney zusätzlich stilistisch: Ivan wirkt gelassen, wenn er in überlegten, ausholenden Sätzen denkt, Peter dagegen rasend, sein Innenleben kommt sprachlich abgehackt und sprunghaft daher.

Gleich geblieben ist, wie Rooney ein amourös-psychologisches Kammerspiel entwickelt. Peter führt eine wenig verbindliche Beziehung mit der 23-jährigen, betont als aufreizend beschriebenen Hausbesetzerin Naomi, während ihn auch die ungeklärte Beziehung zu seiner gleichaltrigen, betont ruhig und vernünftig auftretenden Expartnerin und Literaturprofessorin Sylvia beschäftigt. Ivan seinerseits lernt bei einem Schachturnier in einem ländlichen Kulturzentrum die dortige 36-jährige Mitarbeiterin Margaret kennen.

Dynamik entsteht auf verschiedenen Achsen und mit gegenläufigen Tendenzen. Nach dem Tod ihres Vaters verbindet Ivan und Peter zwar ihre Trauer, doch ihre Beziehung ist angespannt und von früheren Verletzungen belastet. Ivan und Margaret kommen sich näher, doch sie hadert mit der möglichen Ächtung, wenn sie nun kurz nach der zerbrochenen Ehe mit einem Alkoholiker mit einem deutlich jüngeren Mann im Dorf aufkreuzen würde. Und Peter ist sichtlich überfordert von der Tatsache, dass er sich von zwei Frauen gleichzeitig angezogen fühlt.

Toxisch könnte man seine Art, den eigenen Unsicherheiten mit Angriffen und Zurückweisungen aus dem Weg zu gehen, auch nennen. Über und mit Naomi denkt und spricht er mit unverhohlener Verachtung, sie scheint ihn zunächst vor allem als Sexspielzeug zu interessieren. Nein, er ist nicht der sympathischste Zeitgenosse, dieser Peter. Doch Rooney ist mit ihm auch eine komplexe Figur gelungen: verantwortungs- und orientierungslos zwar, aber auch reflektiert und durchaus fähig zu Einsicht und Empathie. Das zeigt sich in den bissigen, mit beidseitigem Machtbewusstsein geführten und oft auch lustigen Dialogen mit Naomi, die bald schlagfertiger wirkt, als es das anfänglich naive Bild von ihr hätte vermuten lassen. Und auch Ivan wandelt sich, erlebt eine Art Erweckung, indem Margaret und er sich ineinander verlieben, einnehmend erzählt von Rooney.

Rooney-Backlash

Ihre literarische Kunst ist eine sozialpsychologische: Wie Rooney in glaubhaften, lebendigen Dialogen greifbare Figuren schärft, wie sie diese stets in Beziehung zueinander entwickelt und reifen lässt, darin ist sie unschlagbar. Es ist diese Dynamik, die «Schöne Welt, wo bist du» (2021), ihrem über weite Strecken in Briefen erzählten dritten Roman, gefehlt hat. In «Intermezzo» mit seiner wechselnden personalen Erzählperspektive nun fällt jede Beschreibung einer Figur auch auf diejenige zurück, von der sie gerade gesehen wird. Speziell Naomi, die einzige Figur, in die wir nicht hineinsehen können, ist immer auch ein Spiegel von Peter.

Über diese Stärken ist sich die mehrheitlich euphorische Kritik einig. Kaum ein:e Autor:in wird heute medial derart breit rezipiert wie Rooney, deren neuer Roman bereits in über zehn Sprachen erschienen ist. In einer hymnischen Besprechung fragt der «Guardian», ob die 33-Jährige vielleicht die beste Autorin der Gegenwart sei. Und auch im deutschsprachigen Raum, wo man sich mit ihrer Literatur anfangs etwas schwerer tat und Rooney oft lieber als «Stimme ihrer Generation» rezipierte, hat sie sich mittlerweile Respekt erschrieben.

Obwohl Rooney sich kaum selber vermarktet, nicht auf Social Media ist und selten Interviews gibt, verkaufen sich ihre Bücher seit dem internationalen Durchbruch mit «Normal People» (2018, 2020 auf Deutsch) millionenfach. «Intermezzo» ist der Hit der Saison auf Booktok, dem Tiktok für Bücher, und bei der Veröffentlichung standen Fans vor extra schon um Mitternacht geöffneten Buchhandlungen Schlange. Gleichzeitig habe das zu einem Rooney-Backlash geführt, wie Dwight Garner in seiner sehr lobenden Besprechung für die «New York Times» bemerkt; zu weiss, zu unpolitisch, zu kitschig seien ihre Romane, diese zu mögen, erscheine vielen zunehmend als uncool.

Interessant ist, wie es in der Bewertung dieses Werks am Schluss oft um Politik geht. Obwohl diese in «Intermezzo» vordergründig kaum mehr eine Rolle spielt; auf die oft eher ermüdenden Ausführungen ihrer Figuren zum Weltgeschehen aus früheren Romanen verzichtet Rooney hier weitgehend. Während ihr das die Rezensentin der konservativen «Welt» lustigerweise als Scheitern vor der Wirklichkeit auslegt, feiert Joanna Biggs den Umgang mit ihren Figuren in der «London Review of Books» als eine Art von literarisch gelebtem Kommunismus. Weil sie Figuren nie als Individuen, sondern als Teil von kollektiven Dynamiken denke und weil ihren Romanen die Idee zugrunde liege, dass auch «gewöhnlichen Menschen die Turbulenzen und der Trost eines Gefühlslebens zugestanden werden sollten».

Hyperachtsam und höflich

In einer Abrechnung mit dem progressiven Image von Rooney, die sich wiederholt als Marxistin bezeichnet hat, nimmt sich Marianela D’Aprile im «Jacobin» die Genderperspektive vor. Die Kritik ist zugespitzt, aber D’Aprile zeichnet plausibel nach, wie die vier Romane auf einem verblüffend ähnlichen Set von Figurentypen aufbauen. Alles drehe sich bei Rooney letztlich um eine konservative Geschlechterdynamik: Der Mann findet Erfüllung darin, dass er Liebe gibt, die Frau, dass sie diese empfängt. Neuralgisch sind für D’Aprile die wiederkehrenden Szenen, in denen eine Frau sich einem Mann sexuell unterwirft.

In «Intermezzo» spielt sich dies wenig überraschend zwischen Naomi und Peter ab. Doch während ausserhalb des Betts ein klares Machtverhältnis besteht, der gut verdienende Peter überweist der Studentin Naomi regelmässig Geld, ist es beim Sex etwas komplizierter. Während sie ihr Bedürfnis klar formuliert, hadert er mit der Rolle, in der sie ihn haben will. Während die Jungen heute so locker mit sexueller Unterwerfung und Dominanz spielen würden, falle ihm das noch schwer, sagt er einmal zu ihr, seine Generation sei eben noch «normal».

Das Normale, es ist ein Schlüsselbegriff bei Rooney. Und zwar – das ist entscheidend – in seinem doppelten Sinn: als das Gewöhnliche, Durchschnittliche, die «normalen Menschen» aus dem Titel ihres zweiten Romans; aber auch in Form von Regeln und Normen, denen die Figuren genügen müssen oder wollen. (Darin liegt übrigens auch die Verwandtschaft zu Wittgenstein, der in seinem Spätwerk untersucht hat, wie die ungeschriebenen Normen einer sozialen Praxis der Sprache Bedeutung geben. Leider hat Zoë Beck den eingangs zitierten Satz aus den «Philosophischen Untersuchungen» aus dem englischem Text übersetzt, statt ihn aus Wittgensteins deutschem Original zu übernehmen.) Rooneys Figuren befinden sich in einem Zustand permanenter Verunsicherung, ständig haben sie ein schlechtes Gewissen, oder es plagt sie die Angst, falsch verstanden zu werden, Ansprüchen nicht zu genügen.

Es ist teilweise schwer erträglich, das zu lesen. Wie Margaret sich etwa immer wieder darum sorgt, dass sie den deutlich jüngeren Ivan ausnützen könnte. Aber man kann das auch als individuelle Zuspitzung einer moralisch aufgeheizten Gegenwart verstehen. Die Doppelbödigkeit von Leif Randt, einem anderen Seismografen der romantischen Gegenwart, bei dem oft auf reizvolle Weise unklar bleibt, ob er mit seinen abgeklärten Figuren gerade etwas abbildet oder karikiert, geht Rooney ab.

Bei ihr öffnen sich die Tore der Wahrnehmung, ihre hyperachtsamen, höflichen, reflektierten Figuren, die sich ständig entschuldigen und bedanken, erleben die gleichzeitig anspruchsreiche wie orientierungslose Gegenwart als akute Überreizung. Natürlich möchte uns Rooney diese Tugenden ans Herz legen – im melodramatischen Schluss werden sie ausgiebig belohnt –, aber es wird dafür auch genug gelitten in diesem nasskalten, dunklen, nebligen Herbst in Irland.

Buchcover von «Intermezzo»
Sally Rooney: «Intermezzo». Aus dem Englischen von Zoë Beck. Claassen Verlag. Berlin 2024. 496 Seiten. 35 Franken.