Gesundheit: Wie ist Ihr Arzt denn so?

Nr. 26 –

Nach dem Willen des Parlaments soll das Schweizer Gesundheitssystem mit mehr Markt reformiert werden. Doch dieser Versuch richtet vor allem Schaden an.

«Mehr Markt» ist die Zauberformel der Zeit. Auch die Krankenkassen fordern ihn für das Gesundheitswesen. Doch was ist eigentlich ein Markt?

Da alle etwas anderes darunter verstehen, empfiehlt sich ein Rückgriff auf Klassiker mit klaren Definitionen. Zum Beispiel auf den Soziologen Max Weber. Er spricht in «Wirtschaft und Gesellschaft» (1921) von einem Markt, wenn Tauschwillige «sich örtlich auf dem Lokalmarkt, Fernverkehrsmarkt (Jahrmarkt, Messe), Kaufmannsmarkt (Börse) zusammenfinden». Dies sei «die konsequenteste Form der Marktbildung, welche allerdings allein die volle Entfaltung der spezifischen Erscheinung des Markts: des Feilschens, ermöglicht». Doch ÄrztInnen, die an Messen um PatientInnen feilschen und mit diesen über den Preis der Leidensminderung verhandeln – das wollen auch hartgesottene Marktideologen nicht. Und doch soll Markt herrschen. Wie geht das?

Simulierter Wettbewerb

Bereits heute herrscht in der Schweiz Wettbewerb zwischen den Krankenkassen. Nun soll gemäss dem Willen des Parlaments und der Kassen der «Kontrahierungszwang» aufgehoben werden: Die Kassen sollen sich anders als bisher nicht mehr an jeder massgeblichen Arztrechung beteiligen. Bevor künftige PatientInnen krank werden, müssten sie also abklären, ob die Kasse, bei der sie versichert sind, mit der Ärztin ihrer Wahl einen Vertrag abgeschlossen hat, damit die Behandlungskosten mitfinanziert werden. National- und Ständerat haben der Lockerung des Kontrahierungszwangs bereits zugestimmt, sich aber nicht auf die Rahmenbedingungen einigen können. Im Herbst 2006 wird der Ständerat erneut über die Bedingungen der Vertragsfreiheit beraten.

Wenn also das für den Markt charakteristische Feilschen nicht zwischen ÄrztInnen und PatientInnen stattfinden soll, sondern zwischen Kassen und ÄrztInnen, stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien denn Kassen ÄrztInnen auswählen sollen, mit denen sie Verträge abschliessen. Damit man Qualität und Preis optimieren kann, müssen nämlich Produkte auf einem Markt miteinander vergleichbar sein. Doch ärztliche Leistungen sind dies nicht: zum einen, weil eine sinnvolle Behandlung auf den Einzelfall ausgerichtet ist, zum andern, weil die PatientInnen selber massgeblich zum Heilungsprozess beitragen. Dieser erfordert ein auf Vertrauen basierendes Arbeitsbündnis zwischen ihnen und ihrer Ärztin.

Weil also der Markt nicht unmittelbar funktioniert, soll er simuliert werden: Leistungen, die nicht vergleichbar sind, sollen vergleichbar gemacht werden. Dafür müssen allerdings legitimierte Instanzen definieren, was als Produkt gilt und welchen Preis es wert ist – die Instanzen sind die Krankenkassen und die Politik. Bruno Frick, CVP-Ständerat, hat dieses Prinzip schon 2003 in der Debatte um das Krankenversicherungsgesetz ins Feld geführt: «Ein Rating und eine Beurteilung der einzelnen Leistungserbringer sind Zeichen eines reifen Marktes. Beispielsweise beurteilt der Hotelierverband seine Mitglieder und verteilt Sterne. Da kann der Gast abschätzen, was das einzelne Hotel anbietet.»

Irreführende Fragen

Auf welche Weise sollen nun ÄrztInnen zu ihren Sternen kommen? Durch Erhebung, Messung und Vergleich. Was das konkret bedeutet, zeigt ein Blick auf einen Fragebogen, den die Krankenkasse Helsana im Rahmen eines «Ärzteratings» an PatientInnen verschickt hat. Auf Anhieb scheint es durchaus vernünftig, PatientInnen nach ihren Erfahrungen mit ihren ÄrztInnen zu befragen. Ein standardisierter Fragebogen mit fünf Antwortstufen zwischen «schlecht» und «ausgezeichnet» enthält jedoch ein grosses Potenzial für Missverständnisse. Im Sprechzimmer gehen komplexe Prozesse mit allerhand projektiven Vorgängen vor sich. Im günstigen Fall tragen sie zur Heilung der PatientInnen bei, im ungünstigen behindern sie sie. Doch keinesfalls können sie von den vorgegebenen Fragebogenkategorien angemessen erfasst werden.

Irritierend ist bereits die Überschrift des Fragebogens: «Welches ist Ihre Meinung über Ihren Arzt/Ihre Ärztin und seine/ihre Praxis?» Die Formulierung befremdet: Eine Meinung ist in erster Linie ein Positionsbezug in einer umstrittenen Angelegenheit. So verwendet, steht «meinen» denn auch im Gegensatz zu «wissen». Gewöhnlich werden Meinungen von Meinungs- und Marktforschungsinstituten abgefragt; bevorzugte Themen dabei sind politische Sachfragen, Einstellungen, Parteien oder Waschmittel. Mögliche Antworten sind meist vorformuliert; man macht ein Kreuz, wo man es für richtig hält.

Nun geht es hier aber nicht um die Meinung zu Fluglärm, Managergehältern oder Christoph Blocher, sondern um «meinen Arzt/meine Ärztin und seine/ihre Praxis». Das passt nicht zusammen: Einer Ärztin kann man Vertrauen schenken oder nicht. Gründe dafür – rationale und irrationale – gibt es unzählige. Einen Arzt sucht man auf, wenn man ein gesundheitliches Problem hat. Man vertraut oder misstraut seinem Fachwissen, seiner persönlichen und damit auch professionellen Integrität. Wenn das Vertrauen irreversibel gestört ist, dann wechselt man den Arzt. All das hat nichts mit einer «Meinung» zu tun.

Die ersten 22 Fragen des Fragebogens beginnen mit «Wie hat Ihr Arzt bzw. Ihre Ärztin in den letzten 12 Monaten ...», anschliessend folgt der Rest des Fragesatzes. Die erste Frage lautet: «Wie hat Ihr Arzt bzw. Ihre Ärztin in den letzten 12 Monaten Ihnen während der Sprechstunde das Gefühl vermittelt, dass er/sie Zeit für Sie hat?» Die Frage zielt darauf ab, ob es der Ärztin gelungen sei, die Patientin zu manipulieren («das Gefühl vermittelt, dass ...»). Die Frage ist damit nicht nur Ausdruck des latenten Vorurteils, Ärzte würden sich nicht genügend Zeit nehmen, sondern sie erzeugt und festigt diese sogar. Der Patientin, die ein Kreuz setzt, bleibt nichts anderes übrig, als sich dazu zu äussern, ob der Arzt ein geschickter Verkäufer einer Illusion ist. Zudem tritt das subjektive Gefühl, dass die Zeit schnell vorbei geht, gerade dann ein, wenn man sich intensiv mit einer Sache beschäftigt. Das aber ist während einer Sprechstunde wahrscheinlich, weil es um die eigenen gesundheitlichen Probleme geht. Bereits bei der ersten Frage ist es also fast unmöglich, das Kreuz am richtigen Ort zu setzen. Doch das ist erst der Anfang.

Mit Frage Nummer 6 kommt eine neue Ebene der Absurdität ins Spiel: «Wie hat Ihr Arzt bzw. Ihre Ärztin in den letzten 12 Monaten auf die vertrauliche Behandlung Ihrer Daten und Unterlagen geachtet?» Auch wenn die Patientin nach wie vor guten Willens ist, zum Erkenntnisgewinn im Gesundheitswesen beizutragen, ist sie nun ratloser denn je: Wie soll sie wissen, was der Arzt mit ihren Daten macht? Zeigt er am Ende ihre Röntgenbilder am Stammtisch, weil ihm keine gescheiten Witze mehr einfallen? Oder leitet er sie an die Krankenversicherung weiter? Oder lässt er die Krankengeschichte übermorgen im Wartezimmer offen herumliegen?

Zerstörtes Vertrauen

Die Frage ist nicht nur unbeantwortbar, sie ist auch fahrlässig: Bei der vertraulichen Behandlung der Daten handelt es sich um eine in der ärztlichen Ethik ebenso wie im gesellschaftlichen Wissen darüber verankerte Verpflichtung. Der Patient muss die Gewissheit haben, dass die Ärztin diese zentrale Voraussetzung ihrer Tätigkeit ernst nimmt und sich strikte daran hält. Wenn nun diese Frage als Bestandteil einer «Meinungsumfrage» oder einer «Beurteilung» mit fünf abgestuften Antwortmöglichkeiten gestellt wird, kann dies zur Beeinträchtigung der gesellschaftlichen Erwartung in die Selbstverständlichkeit dieses fundamentalen Gebotes führen.

Mit der Relativierung gerät nicht nur die Vertrauensbasis ins Wanken: Sie führt auch zu einer Verharmlosung allfälliger Verletzungen dieses Fundaments ärztlicher Ethik. Der Ärztin wird hier also unterstellt, was tendenziell in der Logik der Versicherung – also der Urheberin des Fragebogens – liegt: die Grundsätze des Datenschutzes zu unterlaufen, weil sie daran interessiert ist, möglichst viele Daten aus den Krankengeschichten der Versicherten zu dokumentieren, zu überprüfen und miteinander zu vergleichen. So kann sie rentable Versicherungsmodelle anbieten und vermutetem Versicherungsbetrug auf die Spur kommen.

Ein Instrument wie der Fragebogen, das dazu dienen soll, Markt zu simulieren, kann ärztliches Handeln nicht adäquat messen, und schon gar nicht kann man dieses als markttaugliches Produkt mit anderen vergleichen. Ein solches Instrument kann im Gegenteil sogar dazu führen, dass ÄrztInnen sich den oberflächlich abgefragten Kategorien anpassen – und zunehmend so handeln, wie es ihnen unterstellt wird: als geschäftstüchtige «homines oeconomici». Oder wie Jeremias Gotthelf in «Annebäbi Jowäger» (1844) beobachtet hat: «Ich bin dessen gewohnt», sagt der Doktor, «bin überhaupt gewohnt, dass man mir alles bös auslegt. Gerade solche Auslegungen sind schuld daran, dass uns das Interesse an den Menschen vergeht, und wundern soll man sich dann gar nicht, wenn zuletzt uns allerdings die Menschen nicht anders vorkommen als dem Kesselflicker die alten Pfannen, welche er ausbessern soll.»

Da solche Vorgehensweisen das Vertrauen der PatientInnen in die ÄrztInnen weiter erschüttern, tragen sie letztlich entgegen ihrem Anspruch zur Steigerung der Gesundheitskosten bei. Denn, wie Freud sagte: «Es gibt nichts Kostspieligeres im Leben als die Krankheit – und die Dummheit.»

Marianne Rychner, Historikerin und Soziologin, ist Verfasserin der Studie: «Grenzen der Marktlogik. Die unsichtbare Hand in der ärztlichen Praxis». VS Verlag. Wiesbaden 2006. 300 Seiten. Fr. 52.20.