GERICHTSMEDIZIN: Hammer und dann Zug

Nr. 29 –

Thomas Krompecher hat in seinem Berufsleben 13 000 Leichen untersucht und blickt wehmütig auf diese Zeit zurück.

Ein Spezialgebiet? Die Leichenstarre. Ein weiteres? Humor. «Aber wenn ich öffentlich auftrete, ist es erst mal totenstill im Raum.» Seine Frau habe es ihm dann einmal erklärt: «Dein Metier sind die Leichen», habe sie gesagt, da sei es schon möglich, dass das Publikum einen seltsamen Menschen erwarte. Seltsam oder gar morbid ist er allerdings nicht, der Gerichtsmediziner Thomas Krompecher. Umgänglich, fröhlich und schlagfertig schon eher. Kaum aus seinem schnittigen Cabriolet ausgestiegen, lupft der mittlerweile pensionierte Professor die Baseballkappe und marschiert ins Lausanner Institut für Gerichtsmedizin. Für das Interview im Auditorium zieht er sich um: weisser Kittel und weisse Zoggeli - so, wie er wohl jahrelang vor seinen StudentInnen stand. Er doziert auch heute noch: «Notez!», sagt er gern, wenn man ihn anschaut, statt die Punkte eins bis sechs zur Beurteilung einer Schussverletzung genau aufzuschreiben. Und er sagt, er sei wehmütig, dass seine Zeit als Dozent nun vorbei ist.

Bloss keine Spekulationen

Dreizehn ÄrztInnen verteilt auf drei Generationen gebe es allein im engsten Kreis der Familie, sagt Krompecher. So, als ob es immer schon klar gewesen sei, was beruflich aus ihm werden würde. Und für seine Spezialisierung hat er sich auch irgendwie automatisch entschieden: Einen Anatomieprofessor, seinen Vater, gab es schon, einen Pathologen ebenfalls. «Also entschied ich mich für die Forensik», sagt er grinsend.

Etwa 3000 Autopsien hat er im Laufe seiner Karriere selbst durchgeführt, bei weiteren 10 000 hat er assistiert. Im Unterschied zur Pathologie, die die Ursachen einer Krankheit erforscht, sind des Gerichtsmediziners Gebiet die durch äussere Einwirkung hervorgerufene Verletzung und deren Umstände. «Ich will zum Beispiel die Frage beantworten, wer den Tod verursacht hat», sagt er. «Nehmen wir einen Tod durch Enthauptung: Ein Unfall? Mord? Oder Selbsttötung?» Kann man sich den Kopf selbst abschlagen? «Natürlich», sagt Krompecher. Man könne sich mit dem Hals auf eine laufende Kettensäge fallen lassen. «Alles ist möglich.» Dann aber entscheidet sich der Professor doch für das einleuchtendere Beispiel «Schussverletzung in der Schläfe». «Notez!», also.

GerichtsmedizinerInnen stellen simple Fragen, beispielsweise: Ist eine Selbsttötung möglich? Wenn der Schusswinkel und die Schussnähe stimmen, so lautet die Antwort «Ja». Was noch lange nicht heisst, dass es so gewesen sein muss. Es gibt eindeutige Antworten, doch es gibt auch solche, die lassen alles offen. «Die Interpretation der wissenschaftlichen Fakten überlassen wir den Gerichten und der Polizei», sagt Krompecher. Die Überinterpretation - «overinterpretation», wiederholt er auf Englisch - sei eine grosse Gefahr. Man bewege sich schnell im Raum der Spekulationen: «Ein Beispiel: Nach einem Brand werden vier Leichen gefunden, von einer gibt es keine ‹Elemente ante mortem›, weder Röntgenbilder, Zahnarztunterlagen noch DNS-Proben. Sieben Zeugen haben Herrn X am Unglücksort gesehen, also schliesst man darauf, dass die Leiche jene von Herrn X ist.» Selbst wenn es 300 ZeugInnen gewesen wären, sei das kein wissenschaftlicher Beweis, sondern eine Interpretation und bestimmt nicht Aufgabe eines Gerichtsmediziners.

Röntgenbilder und DNA-Spuren

GerichtsmedizinerInnen machen nicht nur Autopsien von plötzlichen und unerwarteten Todesfällen oder wenn ein Todesfall sonst irgendwie verdächtig erscheint. Ein wichtiger Bereich der Forensik ist die Identifikation der Opfer grosser Unglücksfälle oder Kriegsverbrechen wie etwa die Massaker von Srebrenica in Bosnien. 1996 wurde die ICMP (International Commission on Missing Persons) gegründet, um die Opfer in den Massengräbern im ehemaligen Jugo slawien zu identifizieren. Krompecher war für die Planung der Untersuchung zuständig. «Normalerweise werden Menschen anhand von ärztlichen oder zahnärztlichen Unterlagen identifiziert, das heisst mit Röntgenbildern von früher», erläutert Krompecher. Für die meisten Opfer in Bosnien gab es keine Unterlagen, die einzige Möglichkeit zur Identifikation waren also DNS-Vergleiche mit Blutsverwandten. 1999 seien DNS-Proben noch enorm teuer gewesen, und die Technik, um diese Proben von Skeletten zu gewinnen, war praktisch inexistent. Die ICMP entschied sich, wissenschaftliche Arbeit zu leisten. Also wurden die Methoden verbessert, die Programme für die Vergleiche präzisiert, die Datenbanken mit DNS-Proben von Familienmitgliedern gefüllt. Auch für eine Identifikation der 800 000 Opfer der Massaker in Ruanda wurde Krompecher angefragt. «Wir haben dies aber abgelehnt», erzählt er. Weshalb? Es wäre unmöglich gewesen, eine Equipe hätte hundert Jahre daran gearbeitet. Und die wissenschaftlichen Voraussetzungen in Afrika wären noch schlechter als jene im ehemaligen Jugoslawien gewesen. Er habe die Absage zwar bedauert, sagt er. «Aber ein Job muss auch machbar sein.»

Viel Aufmerksamkeit erregte einer der berühmtesten Fälle des Lausanner Professors: Er musste 1994 die 53 toten Mitglieder der Sonnentempler-Sekte identifizieren, zeitweise waren bis zu 87 Kamera- und Journalistenteams bei der Pressekonferenz im Hörsaal des Instituts zugegen. Er war auch an der Untersuchung der Opfer des Flugzeugattentats von Lockerbie 1988 und des Absturzes eines Airbus bei Mont St-Odile im Elsass im Januar 1992 beteiligt.

GerichtsmedizinerInnen werden eigentlich erst bei einer Leiche, am Ende eines Lebens, hinzugezogen. Ist das kein bedrückendes Gefühl? «Ich nehme jeden Fall als spannendes Rätsel, das ich zu lösen habe», antwortet Thomas Krompecher. Ohnmacht empfinde er nur, wenn er Kinder auf dem Autopsietisch habe, das sei fast nicht auszuhalten. Gerichtsmedizin sei eine andere Art, den Menschen zu helfen, sagt der Professor. Zu diesem Thema hielt er auch seine Abschiedsvorlesung am Lausanner Institut: « Une autre façon d’aider». Wenn die Resultate seiner Untersuchungen dazu beitragen könnten, beispielsweise die Schuldigen eines Völkermordes zu verurteilen, dann sei das eine Hilfe für die Menschheit, sozusagen ein letzter Dienst an den Toten. Und wenn die Verurteilung eines Mörders weitere Morde verhindern könne, erst recht.

Falsche Fährten

Krompecher ist ein Liebling der Medien, und auch ihm ist diese Aufmerksamkeit nicht unlieb. Medienarbeit gehört für ihn zum Job. «In den letzten Jahren hat sich das Image der Gerichtsmedizin ja auch deswegen verbessert, weil wir bereitwillig Auskunft gegeben haben», sagt er. Dass er über viel Charme und Humor verfügt, hat ihm dabei geholfen. Nach der Sendung «La soupe est pleine» des Westschweizer Radios im vergangenen November wollten die Verantwortlichen ihm gar einen Job als Satiriker anbieten. Mit seinen lakonischen Bemerkungen hatte der gebürtige Ungar («Ich habe keinen Akzent, Sie haben vielleicht einen, ich spreche einfach meine Sprache») das Publikum im Nu erobert.

Auch im Fernsehen gibt es immer mehr ProtagonistInnen der Gerichtsmedizin, die das Publikum gewinnen können. Krimis spielen heute häufig in den wissenschaftlichen Labors: «CSI», «Die Gerichtsmedizinerin», «Crossing Jordan». Krimis wie «Der Alte» kann man gar nicht mehr ruhig ansehen, sobald PolizistInnen ein Auto durchsuchen. Man sitzt auf dem Sofa und will ihnen zurufen: «Mein Gott, zieht doch Handschuhe an, ihr verwischt ja die Spuren!» Krompecher grinst. Er hat kürzlich für das Westschweizer Fernsehen einige Folgen von «CSI» angeschaut und wurde danach gefragt, ob die Darstellungen realistisch seien und inwieweit. Und? «In der Serie brauchen die Wissenschaftler 45 Minuten vom Fund der Leiche bis zum Überführen des Mörders. Da fehlt ganz viel.» Vor allem die falschen Fährten, die Irrtümer, würden unterschlagen. «Derrick» und «Der Alte» seien eigentlich viel näher an der Realität - abgesehen von den mittlerweile viel verbreiteten DNS-Beweisen vielleicht.

Und was ist, wenn ein Mord nicht gelöst werden kann, was ist mit dem perfekten Mord? «Technisch ganz simpel», meint Krompecher, «an der Schwiegermutter beispielsweise.» Man haue ihr ganz leicht mit einem Hammer auf den Hinterkopf, sodass sie nur was wegtrete. Und dann schmeisse man sie vor einen Zug. Das richte die Schwiegermutter so übel zu, dass eine Delle im Schädel nicht weiter auffalle. Sehr hilfreich sei auch, wenn man vorher schon Gerüchte verbreitet habe, die Schwiegermutter habe möglicherweise eine ganz schlimme Depression und man mache sich fürchterliche Sorgen deswegen. Oder Vergiftungen: Toxikologische Untersuchungen seien teuer und umständlich, und wenn kein Hinweis auf eine Vergiftung bestehe, würden solche Untersuchungen nicht angeordnet. Und nichts sei einfacher, als jemanden zu vergiften. «Apropos, möchten Sie einen Kaffee?» ◊