AKW in Schweden: 30 Minuten bis zum Super-GAU
Vor einer Woche wäre es im Atomkraftwerk Forsmark fast zu einer Kernschmelze gekommen.
Am Dienstag vergangener Woche ist Europa haarscharf an einem neuen Tschernobyl vorbeigeschlittert: Im Reaktor 1 des schwedischen AKW Forsmark nördlich von Stockholm wäre es fast zu einem Super-GAU gekommen. Zuerst ereignete sich ein Kurzschluss, danach fiel die Stromversorgung aus und verschiedene Sicherheitssysteme funktionierten nicht wie vorgesehen. «Es war reiner Zufall, dass es zu keiner Kernschmelze kam.» Das sagt ein Mann, der es wissen sollte: Lars-Olov Höglund, der als langjähriger Chef der Konstruktionsabteilung des schwedischen Vattenfall-Konzerns - der das AKW Forsmark betreibt - den betreffenden Reaktor bestens kennt. Nach seiner Einschätzung lösten verschiedene Konstruktionsmängel eine Kette von Fehlfunktionen aus, die dazu führten, dass der Reaktor zeitweilig nicht mehr gekühlt wurde. Man hatte noch eine Zeitmarge von eine halben Stunde - dann wäre der Reaktor nicht mehr zu kontrollieren gewesen. In der Folge wäre es eineinhalb Stunden später unaufhaltbar zu einer Kernschmelze gekommen.
Begonnen hatte die Beinahe-Katastrophe am 25. Juli kurz vor 14 Uhr: Bei Wartungsarbeiten verursachten Mitarbeiter des AKW in einem Stellwerk einen Kurzschluss, der das Atomkraftwerk auf einen Schlag vom übrigen Stromnetz trennte. Automatisch erfolgte daraufhin eine Schnellabschaltung des Reaktors 1. In einer solchen Situation sollten normalerweise vier Notgeneratoren anspringen und den Hilfsbetrieb aufrechterhalten. Vor allem sollten sie die Pumpen, die den Reaktorkern kühlen, mit Strom versorgen. Tatsächlich pflanzte sich aber der Kurzschluss über die gesamte Versorgungskette zwischen dem äusseren Wechselstrom- und dem inneren Gleichstromsystem fort, sodass sich auch die Hilfsgeneratoren kurzschlossen. Ein Konstruktionsmangel, den man offenbar all die Jahre übersehen hatte. Nur weil zwei der Generatoren nach einiger Zeit trotzdem gestartet werden konnten und einen Teil der Notkühlung übernahmen, gelang es, den Reaktor nach 23 Minuten wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Das Bedienungspersonal musste dabei laut Höglund gegen eine grundsätzliche Sicherheitsvorschrift - die «Halbstundenregel» - verstossen. Laut dieser Regel soll nach der Schnellabschaltung eines Reaktors dreissig Minuten lang kein menschlicher Eingriff in den computergesteuerten Ablauf erfolgen, um unüberlegte Massnahmen zu vermeiden. Das zusätzliche Problem in Forsmark: Der Stromausfall hatte zu einem Computerblackout geführt, sodass die Bedienungsmannschaft teilweise «blind» war. Viele Messgeräte funktionierten nicht, die Operateure wussten deshalb nicht, in welchem Zustand sich der Reaktor befand und welche Auswirkungen ihre Eingriffe hatten. Im konkreten Fall war laut Höglunds Einschätzung der Verstoss gegen die Halbstundenregelung absolut korrekt und notwendig, um eine Katastrophe zu verhindern. Was aber gleichzeitig beweise, wie wenig perfekt die Sicherheitssysteme westlicher Reaktoren tatsächlich sind: «Höchst unzureichend», urteilt Höglund. «Dieser Vorfall ist ein Beweis dafür.»
Die Tatsache, dass die Sicherheitssysteme nicht funktionierten, nimmt auch die staatliche Atomkraftbehörde «Statens Kärnkraftinspektion» (SKI) sehr ernst; sie hat eine umfassende Untersuchung angeordnet. Ingvar Berglund, Forsmark-Sicherheitschef, findet die Konstruktionsfehler des AKW, «nicht akzeptabel»: «Ich hatte davon vorher erst einmal gehört, das war bei einem russischen Reaktor.» Laut Berglund stellte sich nach dem Vorfall heraus, dass der Herstellerfirma AEG, die die fraglichen Generatoren Anfang der neunziger Jahre geliefert hatte, diese Konstruktionsschwäche durchaus bekannt war. AEG habe es aber nicht für notwendig gehalten, dieses Wissen weiterzugeben. Im Widerspruch dazu meldete am Mittwoch die Tageszeitung «Upsala Nya Tidning», AEG habe die Leitung des AKW Forsmark informiert, nachdem es einen ähnlichen Zwischenfall in einem deutschen AKW gegeben hatte. Fest steht mittlerweile, dass verschiedene schwedische und finnische Reaktoren mit den gleichen fehlerhaften Generatoren arbeiten. Berglund will nicht ausschliessen, dass dies ein «weltweites» Problem sein könne. Worüber man auch die Internationale Atomenergieagentur IAEA informierte.
Sowohl der AKW-Betreiber wie die staatliche SKI weisen die Einschätzung des Forsmark-Konstrukteurs, der Reaktor habe vor einer Kernschmelze gestanden, als «übertrieben» zurück. Bei SKI bezeichnet man die Ereignisse in Forsmark als «ernsten Vorfall», ordnet ihn aber auf der internationalen siebenstufigen INES-Skala doch nur auf Stufe 2 ein, was einem «Störfall» entspricht; ein «ernster Störfall» wäre Stufe 3. Begründung hierfür: Es sei keine Radioaktivität freigesetzt worden. Für Lars-Olov Höglund ist diese Einstufung eine Verharmlosung. «Das ist die gefährlichste Geschichte seit Harrisburg und Tschernobyl», betonte er diesen Mittwoch im Stockholmer «Svenska Dagbladet»: «Es war nur Glück - näher kann man einer Kernschmelze nicht kommen.» Dass man offiziell den Vorfall «bagatellisiert», kann Höglund aber nachvollziehen: «Man will den Weiterbetrieb nicht in Frage stellen. Und natürlich steuert das Geld.»