Schwedens AKW: Pfusch lässt die Krone rollen

Nr. 32 –

Der ehemalige Sicherheitschef des Atomkraftwerkes Forsmark macht die Liberalisierung im Stromgeschäft für den Beinahe-Super-GAU verantwortlich.

Nach wie vor stehen fünf von zehn schwedischen Atomreaktoren still. Vier davon sind wegen Sicherheitsbedenken auf bislang unbestimmte Zeit abgestellt worden. Dies als Folge eines Stromausfalls im AKW Forsmark am 25. Juli (siehe WOZ Nr. 31/06). Dabei handelte es sich vermutlich um den schwerwiegendsten Zwischenfall in einem Atomkraftwerk seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986. Nach einigen Tagen der Sprachlosigkeit haben beide Firmen, welche die schwedischen AKW betreiben, Vattenfall und E.ON, ihren Propagandaapparat angeworfen und versuchen nun den Beinahe-Super-GAU als Argument für die Sicherheit der Atomkraft zu verkaufen. Die Tatsache, dass letztendlich nichts passiert sei, soll als Sicherheitsbeweis gelten. Unterstützung erhalten sie dabei von verschiedenen KommentatorInnen der grossen bürgerlichen Zeitungen Schwedens.

Obwohl nur die Hälfte der schwedischen AKW laufen, ist es bisher nirgends zu Stromausfällen gekommen. Dafür stiegen die Preise. «Der Zynismus der Stromproduzenten, die nicht eine Sekunde zögern, so etwas auszunutzen, ist kaum zu übertreffen», sagt der Energieanalytiker Roger Fredriksson. «Unter dem Strich wird die Geschichte wohl dazu führen, dass Vattenfall & Co neue Rekordgewinne ausweisen können.»

Fehlersuche

Vattenfall, zu hundert Prozent im staatlichen Besitz, ist die Betreiberfirma des AKW Forsmark. Dort, im 150 km nördlich von Stockholm beim kleinen Ort Östhammar gelegenen AKW, und in einem Labor im deutschen Warstein läuft die Suche nach der Ursache des «Störfalls» vom 25. Juli auf vollen Touren. Inzwischen scheint mittels Computersimulation die Ursache der «Fehlfunktion» beim Gerät mit dem langen Namen «Anlage zur unterbrechungsfreien Stromversorgung» (USV) gefunden worden zu sein. Allerdings könnte laut Lennart Karlsson, Leiter der Abteilung für Reaktorsicherheit bei der staatlichen Atomaufsichtsbehörde SKI, zusätzlich auch im Systemaufbau ein Fehler liegen.

Die USVs werden in Warstein von der Firma AEG Power-Supply produziert. Bislang wurden mehr als tausend Stück ausgeliefert, wie Firmenchef Karl-Heinz Schulz sagt. Seines Wissens sei noch nie ein vergleichbarer Fehler passiert. USVs selbst sind keine Notstromaggregate. Sie liefern gerade mal genug Strom, um beispielsweise einen Fernseher versorgen zu können. Eingesetzt werden sie überall da, wo die Stromversorgung keine Sekunde ausfallen darf, sie sollen dafür sorgen, dass nach einem äusseren Stromausfall die internen Hilfsaggregate, wie beispielsweise Dieselgeneratoren, ohne Verzögerung anlaufen.

Vor dreizehn Jahren hat AEG nach Forsmark geliefert. Eine fehlerhafte Installation schliesst Schulz aus: «Wir liefern ein geschlossenes System, eine Art Blackbox, das sich nach den Vorgaben verhält, die wir vom Kunden bekommen haben.» Dass gleich der Name AEG als mögliche Fehlerquelle genannt wurde, sieht man in Warstein natürlich nicht gern. Und betont, nach der Lieferung die Kontrolle über die Geräte verloren zu haben. Man habe Vattenfall-Forsmark damals einen Servicevertrag angeboten, dieser sei jedoch dankend abgelehnt worden. USVs enthalten Batterien und andere Verschleissteile, die regelmässig ausgewechselt werden müssen. Schliesslich erwarte auch kein Autobesitzer, dass er dreizehn Jahre nach Kauf seines Fahrzeugs noch mit der ersten Batterie fahren könne, lässt AEG wissen.

Schmutzige Vattenfall

Einzelheiten zu den Ergebnissen der Fehlersuche wollten zunächst weder Vattenfall noch die SKI veröffentlichen. Wie auch immer: Die letzte Verantwortung trägt in jedem Fall Vattenfall. Die Firma gehört mit ihren Wasser-, Atom- und Kohlekraftwerken zu den europäischen Stromriesen. Im letzten Quartal konnte sie eine Umsatzrendite von fünfzehn Prozent erwirtschaften. Mit dem Gewinn, den Vattenfall in den letzten Jahren machte, hätte das Unternehmen jeweils genug Anlagen zur Produktion von Windstrom oder anderen ökologischen Kraftwerken errichten können, um pro Jahr jeweils einen ganzen Atomreaktor überflüssig zu machen.

Sparmassnahmen im AKW

Doch Schwedens Strommarkt wurde vor zehn Jahren liberalisiert. Vattenfall gibt sich seither genauso wie die Privatkonkurrenz als Akteurin auf dem freien Markt. Die Profite wurden nicht für umweltfreundliche Stromproduktion verwendet, sondern für den Kauf von Elektrizitätsbetrieben in Hamburg und Berlin sowie von Braunkohlekraftwerken in der ehemaligen DDR und Polen. Vattenfall hat sich dadurch den Ruf als einer der schmutzigsten Stromproduzenten Europas erworben. Und auch beim Betrieb von Atomreaktoren wie dem in Forsmark herrschen seither die vom liberalisierten Markt diktierten Prinzipien.

Diese Prinzipien haben zu Abstrichen beim Sicherheitsdenken geführt, ist der ehemalige Konstruktionschef bei Vattenfall, Lars-Olav Höglund, überzeugt. Höglund war es, der vergangene Woche mit seinem Alarmruf auf die möglichen Folgen aufmerksam machte, welcher der 23 Minuten lange Geisterbetrieb nach dem Stromausfall im Forsmark-Reaktor hätte haben können. Den Bagatellisierungsversuchen der ReaktorbetreiberInnen machte er damit einen Strich durch die Rechnung. Die Atomstromlobby tut sich schwer, den Argumenten des Experten etwas entgegenzuhalten. Er ist nämlich nicht etwa von einem Atomkraft-Saulus zum -Paulus konvertiert, sondern sieht Atomkraft durchaus als eine derzeit noch hinnehmbare Art der Stromproduktion an. Nur eben nicht so. Seit Mitte der neunziger Jahre sei das Sicherheitsdenken immer mehr in den Hintergrund gerückt. Die AKW-BetreiberInnen hätten ihre Sicherheitsabteilungen sträflich ausgedünnt und aus Kostengründen auch «Betriebspersonal ohne tiefere Einsicht in technische Zusammenhänge» in die Kontrollräume gesetzt.

In der Logik des Profitdenkens schlage sich jede Stunde Reaktorauszeit als Verlust in der Bilanz nieder. Deshalb würden notwendige Wartungsarbeiten auf die lange Bank geschoben oder möglichst ohne Abschaltung des AKW vorgenommen. Dazu würden auch schon einmal kurzerhand Sicherheitssysteme umgangen, obwohl das gegen die Vorschriften verstosse. Vor einiger Zeit erhielten die ReaktorbetreiberInnen die Genehmigung, über den Weg einer «Effekterhöhung» durchschnittlich vierzehn Prozent mehr Strom aus ihren Altanlagen «herauszuquetschen». Dies hatte eine Milliardeninvestition in den Umbau von dreissig Jahre alten, technisch überholten Reaktoren zur Folge. Höglund bilanziert die Aufrüstung nicht nur als «eine äusserst bedenkliche Pfuscharbeit», sondern auch als eine Belastung für die Grundkonstruktion der Reaktoren. «Kein Kunde in der Auto-, Flugzeug- oder Computerbranche hätte das akzeptiert.» Die Folgen seien nicht abschätzbar. Der Mythos der angeblich sicheren schwedischen Atomkraft lasse sich gemäss Höglund auf ein Wort reduzieren: «Unsinn».

Wahlkampffutter

Höglund schlägt vor, alle schwedischen Reaktoren so schnell wie möglich zu verstaatlichen und unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Nicht nur verspreche dies eine relativ bessere, da von den Zwängen der Gewinnmaximierung abgekoppelte Sicherheitskultur, sondern Staat und Gesellschaft hätten dann auch die Steuerungsmacht, um die Voraussetzungen für einen schnellstmöglichen und geordneten Atomkraftausstieg zu schaffen. Das tiefe Sicherheitsniveau, das die gegenwärtige Organisation des Strommarkts bewirke, sei jedenfalls nicht akzeptabel.

Welche Auswirkungen die Beinahe-Kernschmelze in Forsmark auf die schwedischen Parlamentswahlen vom 17. September hat, ist noch nicht abschätzbar. Die SchwedInnen gelten als sehr sicherheitsbewusst. So sagten sie 1980 unter dem Eindruck des Unfalls im US-AKW Harrisburg in einer Volksabstimmung mehrheitlich Ja zum Ausstieg aus der Atomkraft bis zum Jahre 2010. Bislang wurden jedoch erst zwei der einst zwölf Reaktoren abgeschaltet. Führende PolitikerInnen vor allem aus der Sozialdemokratischen Partei haben den Ausstiegsbeschluss immer weiter verzögert. Dabei bauten sie auf den Mythos der «sicheren» schwedischen Atomkraft.

Damit dürfte es nun vorbei sein. Neben den Grünen hat jetzt auch die Linkspartei das Atomthema wiederentdeckt. Beide Parteien benötigen die SozialdemokratInnen für die Parlamentsmehrheit. Wie die Grünen fordert die Linkspartei die Abschaltung mindestens eines weiteren Reaktors in der kommenden Legislaturperiode. Zudem sollen ein detaillierter Ausstiegsplan ausgearbeitet und Investitionen in die alternative Energieproduktion erhöht werden. Die Grünen wollen den Atomausstieg bis zum Jahr 2020 erreichen, die Linkspartei rechnet etwas vorsichtiger mit 2025. Die SozialdemokratInnen, die mit ihrem Parteichef und Ministerpräsidenten Göran Persson in Sonntagsreden die Atomkraft gern als überholte Technik geisseln, aber bislang kaum etwas für deren Überwindung taten, könnten nun mächtig unter Druck geraten.