Die Kohlenspechte von Walbrzych: Goldene Berge und schwarze Kohle
Im polnischen Niederschlesien will man mit Sonderwirtschaftszonen die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Doch den Bergleuten bleibt nur ihre Kohle.
Das Loch im Boden ist so klein, dass ein erwachsener Mensch nur gebückt hindurchpasst. Dahinter ist ein ebenso niedriger Stollen vielleicht zwanzig Meter weit in die Erde getrieben worden: Janeks* Arbeitsplatz. Er ist «Kohlespecht», wie solche hier genannt werden. Hier, das ist Walbrzych im polnischen Niederschlesien, eine Stadt mit 130000 EinwohnerInnen, dreieinhalb Autostunden von Berlin entfernt. Janek und sein Kumpel bauen Steinkohle ab, auf eigene Faust. Die Arbeit in dem niedrigen Stollen ist hart, illegal ist sie obendrein. Die Bedingungen sind mittelalterlich: Nur mit Schaufel, Pickel, Eimer und Sack ausgerüstet fördern die Spechte Kohle aus den illegalen Gruben. Je nach Höhe des Kohleflözes kann man sich in den Stollen zur Hocke aufrichten oder nur kriechend fortbewegen. «Was soll ich machen?». Der 47-Jährige mit den freundlichen, vom Wodka glasigen Augen, zuckt resigniert mit den Schultern. «Ich habe keine Angst vor Arbeit, aber wo soll ich hin?» Seit er vor vier Jahren seinen Job verlor, kommt er täglich auf das Thorezowski, wie das Feld mit den Löchern im Boden heisst. Er deutet mit dem Finger auf das ehemalige Elektrowerk am Rande des Felds. 25 Jahre hat er dort geschuftet. Nun wartet er darauf, seine tausend Zloty (knapp 400 Franken) Rente zu bekommen. Doch bis zum Erreichen des Rentenalters dauert es noch lange - achtzehn Jahre.
In Walbrzych gibt es viele Janeks. In zwei- bis zehnköpfigen «Brigaden» graben sie nach dem schwarzen Gold. Es sind alles Menschen, die in der Stadt mit einer Arbeitslosenquote von über dreissig Prozent keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Mehr als ein Almosen ist die staatliche Sozialhilfe von umgerechnet etwa 130 Franken monatlich nicht.
Stolzer Mythos
Auf dem Feld Pientnasta reiht sich ein Loch an das andere. Rundherum ragen Schornsteine und verlassene Fördertürme in den wolkenlosen Himmel. Sie sind Zeichen einer längst vergangenen Zeit, als Kohle der Motor der Region war und die Bergleute der stolze Mythos des Arbeiterstaats. Heute sind die von der Kohle geschwärzten Gesichter ein Zeichen bitterer Armut und Perspektivlosigkeit.
Biedaszyby - «Stollen der Armen» - werden die selbst gegrabenen Löcher genannt. Begonnen haben die Menschen damit in den neunziger Jahren, als die Abfindungen der Bergleute aufgebraucht und kaum legale Verdienstmöglichkeiten in der Region vorhanden waren. Die grossen Steinkohlegruben waren eine nach der anderen Anfang der neunziger Jahre geschlossen worden. Fünfzehntausend Menschen wurden von heute auf morgen arbeitslos. In Walbrzych ist häufig die Rede von einem Experiment, das an ihrer Stadt vollzogen wurde. Gewehrt haben sich die Kumpel des früheren «Roten Reviers» kaum. «Früher waren wir immer die Ersten, die demonstriert oder gestreikt haben», erzählt Roman Janiszek, der bis 1992 unter Tage gearbeitet hat. Doch nach dem Regierungseintritt der Solidarnosc herrschten Verunsicherung und Demotivation. Diese hatte in den Augen vieler die Menschen an der Basis verraten. «Schocktherapie» wurde die schnelle und radikale Politik der Privatisierung und Deregulierung der polnischen Industrie genannt.
Die Arbeit in den «Stollen der Armen» ist gefährlich, die Angst unter Tage stete Begleiterin. Sechs tödliche Unfälle gab es in den letzten fünf Jahren. Doch auch über Tage sind die Menschen aus den Biedaszyby nicht sicher. Zu schnell ist ein ganzer Tagesertrag von der Polizei beschlagnahmt und eine Anklage wegen illegaler Kohleförderung geschrieben. Seit der Stadtpräsident vor zwei Jahren wechselte, wird die illegale Kohleförderung rigoros geahndet. Sondereinheiten der Polizei wurden gebildet, die regelmässig Razzien in der Stadt durchführen. Seitdem kommen die LKW aus anderen polnischen Städten nicht mehr - zu oft wurde die Ladung beschlagnahmt. Früher gehörten Elektrowerke, Gewächshäuser und staatliche Wohnsiedlungen aus ganz Polen zu den Abnehmern. Über die jetzigen Vertriebsstrukturen reden die Leute aus Vorsicht nicht gern. Man verkaufe halt an NachbarInnen und FreundInnen, sagen sie. Ihre Furcht ist begründet. Auf dem Pientnasta warten sie darauf, dass die in monatelanger Arbeit gegrabenen Stollen zugeschüttet werden. «Vielleicht morgen schon. Der Stadtpräsident hat Briefe verteilen lassen, dass sie das Gelände planieren wollen», erzählt eine Frau am Eingang des Feldes.
Ratloser Richter
Waclaw Dobrzanski, Richter am Kreisgericht, verhandelt beinahe jeden Tag Fälle von illegalem Kohleabbau oder -handel, der in Polen wie Hehlerei bestraft wird. Auch heute wieder. Er sieht müde aus, wie er da in schwarzer Robe mit einer schweren Goldkette auf der Brust in dem kleinen neonbeleuchteten Gerichtszimmer sitzt. Dobrzanski fragt den Zeugen immer wieder, ob er denn mit eigenen Augen gesehen habe, wie die Angeklagten die Kohle herausgeholt hätten. Es scheint, als suche er nach entlastenden Details in den immer wiederkehrenden Geschichten. Er hat Verständnis für die Leute, die tagtäglich auf seiner Anklagebank sitzen. «Aber es ist schwierig, jemanden freizusprechen, nur weil er …» - das Schulterzucken ersetzt die Worte. Er weiss, dass die Leute arm sind, Waclaw Dobrzanski hat dreissig Jahre in Walbrzych gelebt, man kennt sich. «Was soll ein Fünfzigjähriger, der sein ganzes Leben lang Bergarbeiter war, machen? Er bekommt kein Arbeitslosengeld. Häufig höre ich von denen, ich solle sie einsperren, im Gefängnis bekämen sie wenigstens zu essen.» Doch als Richter ist er bei allem Einfühlungsvermögen für die Leute aus den «Stollen der Armen» ans Gesetz gebunden. Er schaut ein wenig ratlos.
Grzesiek und Piotr Walowski sassen heute bei Richter Dobrzanski auf der Anklagebank. Der dritte Bruder und Vater Walowski sind zur Verhandlung nicht erschienen. Alle vier waren sie dabei ertappt worden, wie sie ein Auto voll mit Kohlesäcken aus dem Wald holen wollten. Grzesiek lässt sich davon nicht einschüchtern. «Solange die mir nicht beweisen können, dass ich die Kohle aus dem Loch geholt habe, können die mir nix.» Der junge, immer tadellos gekleidete Mann ist souverän im Umgang mit der Obrigkeit. Fünf Prozesse hat er schon hinter sich, ohne Verurteilung.
«Wir versuchen, den Leuten Mut zu machen,» erklärt Grzesiek abends im Wohnzimmer von Roman, dem gelernten Bergmann. «Wir sagen ihnen, dass sie nicht gleich wegrennen sollen. Auch wenn sie erwischt werden, heisst das noch nicht, dass sie schuldig gesprochen werden. Aber es ist schwierig.» Grzesiek grinst, trotz aller Bitterkeit, die aus seinen Erzählungen spricht. Gerne erzählt er von Schnippchen, die sie der Polizei haben schlagen können. Dann sprüht der Schalk aus seinen Augen. Doch oft kommt so was jetzt nicht mehr vor.
Von Romans Wohnzimmerfenster aus kann man das Untersuchungsgefängnis sehen, auf der anderen Seite die Strasse runter befindet sich das Rathaus. Roman ist auch Biedaszybnik, obwohl er sich geschworen hatte, nie wieder unter Tage zu gehen. Filmemacher sein ist sein grosser Traum. Begonnen hat es damit, dass er gemeinsam mit dem polnischen Filmemacher Tomasz Wiszniewski einen Dokumentarfilm über die Menschen der Biedaszyby drehte. Der Film wurde auf Festivals und im Fernsehen gezeigt. Romans oft müde Augen leuchten, wann immer er davon spricht. «In unserem Film wurden wir das erste Mal als Menschen dargestellt, sonst machen die Medien Kriminelle und Alkoholiker aus uns.» Roman hat auch die Kämpfe der polnischen Exkumpel letztes Jahr im Sommer mit seiner Kamera festgehalten. Doch es fehlt an Geld, einen weiteren Film zu machen. Ideen hat er genug. Derweil fotografiert und filmt er Hochzeiten und andere Festlichkeiten - und haut Kohle aus dem Berg.
Antrag abgelehnt
«Früher, da war die Solidarität stärker», meint auch Roman. Er hat die «goldenen Zeiten» der «Stollen der Armen» in den späten neunziger Jahren miterlebt, als die illegale Kohleförderung staatlicherseits noch weitgehend geduldet wurde. Damals waren mehrere tausend Menschen in dem Schattensektor beschäftigt. «Ich habe selber nicht glauben können, wie hoch der Grad der Arbeitsorganisation damals war», erzählt Roman uns stolz. Sogar Krankengeld konnten sie sich damals auszahlen. Es gab eine Gruppe gelernter Bergleute, die in die Stollen der Armen ging, um die Sicherheit zu beurteilen und Hilfestellung beim Bau der Schächte zu geben. Doch durch die Kriminalisierung der letzten Jahre ist viel von dem verloren gegangen, was sich an Solidarität untereinander entwickelt hatte.
Aber Roman, Grzesiek, Vater Walowski und andere wollen sich dieser Entwicklung nicht fügen. So haben sie vor anderthalb Jahren den Verein Biedaszyby gegründet, um die Belange der Kohlespechte bei den Behörden besser vertreten zu können. Jedoch sind alle ihre bisherigen Vorschläge und Forderungen auf taube Ohren gestossen. «Wir werden nicht ernst genommen.» Grzesiek zieht die Schultern hoch, dabei guckt er herausfordernd. «Unser Antrag beim polnischen Wirtschaftsministerium, eine eigene Grube eröffnen zu dürfen, wurde mit der Begründung abgelehnt, es gäbe keine Kohle mehr.» Ihrer eigenen Schätzung und den alten Karten nach reicht die Walbrzycher Kohle noch für siebzig Jahre tagtäglicher Förderung.
Als sie das letzte Mal mit 1500 Kumpeln aus den Biedaszyby vors Rathaus gezogen sind, brachten sie konkrete Vorschläge mit. Unter anderem ihr eigenes Beschäftigungsprogramm, ein Konzept zur Rekultivierung der durch die Förderung zerstörten Flächen. Angehört wurden sie zwar, als die Situation zu eskalieren drohte, doch Ergebnisse gibt es bis heute keine.
Toyota hat Arbeit
Vizebürgermeister Marek Malecki, verantwortlich für Wirtschaftsfragen, war damals in der Delegation des Rathauses. In seinen Augen sind die Spechte verzweifelte Menschen, die «mental nicht in der Lage sind, sich vom Bergbau loszusagen». Wirkliche Antworten auf die drastische soziale Problematik hat er nicht. Er bewirbt die Sonderwirtschaftszonen der Stadt, die Unternehmen mit erheblichen Nachlässen auf Gewinn- und Gewerbesteuer locken. Die Sonderwirtschaftszonen sollen Polen zu Wirtschaftswachstum und EU-Tauglichkeit verhelfen. So sollen die angeblich modernen und attraktiven Arbeitsplätze, beispielsweise bei Toyota, das Problem der Arbeitslosigkeit in der Region lösen. Doch Marek Malecki wirkt selbst nicht überzeugt, wie er seine Stichworte auf dem Zettel in immer neuen Konstellationen abliest.
Die Biedaszybniks winken ab, als wir sie nach Toyota und der Sonderwirtschaftszone fragen. Roman, der sonst so Bedächtige, wird wütend: «Die haben uns goldene Berge versprochen, aber wir haben nur Biedaszyby. Neue Arbeitsplätze, höhere Löhne und gute Arbeitsbedingungen in den Sonderwirtschaftszonen haben die uns versprochen. Die Zonen existieren auch tatsächlich, und manche von uns arbeiten dort, nur werden sie dort wie Sklaven ausgebeutet.»
Auch Janek hat nur ein schiefes Lächeln für das moderne Arbeiterparadies übrig. Niemand, den er kennt, hat dort die drei Monate Probezeit bestanden. An Nachschub mangelt es ja nicht in der Stadt, in der jeder Dritte ohne Arbeit ist. «Arbeitskraftverfügbarkeit» nennt die Stadt das, um Investoren werbend.
«Früher war die Situation der Biedaszyby besser.» Janek redet leise wie immer. «Damals haben mehr Leute gearbeitet, und keiner hat sich drum gekümmert. Weil alle wussten, dass es sonst keine Arbeit gibt. Jetzt heisst es offiziell, dass man Arbeit finden kann, und deswegen verfolgen sie uns.»
Grzesiek, Roman und die anderen hoffen jetzt auf die Kommunalwahlen im Herbst. Nicht, weil sie sich von politischer Seite Besserung erhoffen, sondern weil sie selber mitmischen wollen: Ein Kandidat der Biedaszyby im Stadtparlament ist ihr Ziel. «Wenn wir uns nicht selbst helfen, hilft uns keiner», diesmal guckt Grzesiek ernst.
Sie sind nicht viele, die den Verantwortlichen in Regierung und Rathaus etwas entgegensetzen. Doch sie sind nicht zu übersehen, wenn sie mit ihren Handkarren voll Kohlesäcken zwischen den Autos an der Ampel stehen. Die grossen Perspektiven verschwinden häufig hinter den Anforderungen des Alltags. Aber trotz aller Niederlagen machen sie weiter, Janek, Roman, die Walowskis, der Verein Biedaszyby und die Brigaden in den Löchern.
* Name von der Redaktion geändert