Afrikanische Immigration: Wettlauf der Schäbigkeit

Nr. 35 –

Das Massensterben auf dem Mittelmeer könnte sofort beendet werden – doch die europäischen Staaten machen ihre Grenze gegen Süden noch dichter.

Vorletztes Wochenende sind wieder dutzende von Menschen beim Versuch ertrunken, von Nordafrika auf die italienische Insel Lampedusa zu gelangen. Zwanzig Kilometer vor der Küste von Lampedusa kenterte in den frühen Morgenstunden des 19. August ein mit 120 MigrantInnen besetztes, zehn Meter langes Boot. Es wurde zu diesem Zeitpunkt von einer Korvette der italienischen Marine eskortiert. Siebzig Personen konnten gerettet werden, zehn Leichen wurden geborgen, vierzig Menschen blieben verschwunden. Die MigrantInnen stammen aus Nordafrika, dem Libanon und dem Irak.

Am nächsten Tag entdeckte ein italienisches Fischerboot hundert Kilometer vor Lampedusa zehn Schiffbrüchige, die sich an eine Holzplanke klammerten. Die aus Eritrea stammenden Menschen erzählten, dass sie ihre Bootsreise zusammen mit 29 anderen im 200 Kilometer entfernten libyschen al-Zuwara angetreten hätten.

«Wären sie bei Terrorattacken gestorben, wären das Neuigkeiten auf den Frontseiten gewesen», schrieb die britische Wochenzeitung «The Economist» über die beiden Tragödien. Ausserhalb Italiens wurde tatsächlich nur in wenigen Zeilen darüber berichtet.

Seit Anfang dieses Jahres haben rund 12000 MigrantInnen per Boot den italienischen Süden erreicht. 19000 landeten bisher auf den Kanarischen Inseln, allein 1300 davon vorletztes Wochenende. Damit sind auf den spanischen Inseln vor Afrika dieses Jahr schon fast dreimal mehr Menschen angekommen als im ganzen letzten Jahr. Gestartet sind sie von teils über tausend Kilometer entfernten Küstenabschnitten in Mauretanien und Senegal.

Wie viele der afrikanischen Bootsflüchtlinge ihre Reise nicht überlebten, ist unbekannt. Die europäische Menschenrechtsgruppe United weist alleine für letztes Jahr über 740 MigrantInnen aus, die auf der Fahrt über das Mittelmeer starben. Schätzungen gehen jedoch davon aus, dass auf jeden Todesfall mindestens noch mal drei kommen, die nie bekannt werden.

Mehr Repression

«Europa muss endlich seine Mitschuld an den vielen Toten anerkennen», sagt Karl Kopp, Koordinator des europäischen Netzwerkes ECRE, des Zusammenschlusses von europäischen Menschenrechts- und Flüchtlingshilfsorganisationen. Es müsse möglich sein, gefahrenfrei und legal nach Europa zu kommen. Angesichts der sinkenden Geburtenraten brauche der alte Kontinent in absehbarer Zukunft sowieso noch viel mehr ImmigrantInnen, um seine Wirtschaft in Schwung halten zu können.

Doch die Europäische Union denkt nicht daran, sich der afrikanischen Immigration zu öffnen. Im Gegenteil: Die italienischen und spanischen Grenzwachtpatrouillen werden jetzt von der europäischen Grenzschutzagentur Frontex unterstützt, die gegenwärtig die schnelle Eingreiftruppe der EU vor der kanarischen Küste koordiniert. Ziel ist es, die Boote schon vor Afrika abzufangen und die Leute direkt zurückzuführen. Faktisch wird damit erreicht, dass die Bootsflüchtlinge immer noch weitere und gefährlichere Wege auf sich nehmen, um die Patrouillen zu umgehen.

Derweil schieben die tonangebenden europäischen PolitikerInnen die Schuld an den vielen Toten den «skrupellosen Schlepperbanden», dem «Menschenhandel» und der «organisierten Kriminalität» zu. Die italienische Regierung will SchlepperInnen jetzt gleich behandeln wie Mafiosi, um sie nach der Verhaftung bis zum Prozess in Haft behalten zu können.

«Verwaltung von Migrationsströmen» heisst ein kürzlich verabschiedeter Aktionsplan der zuständigen EU-MinisterInnenkonferenz. Er beinhaltet vorab Massnahmen zur Abwehr von neuen «illegalen MigrantInnen». Unter anderem sollen künftig im Schengener Informationssystem (SIS) – an das sich auch die Schweiz 2008 anschliesst – nicht nur biometrische Daten gespeichert werden, sondern es soll auch möglich sein, dass bereits der Fingerabdruck eines Verdächtigen genügt, um herauszufinden, ob sich die Person illegal im Schengenraum aufhält.

Europa macht auch Druck auf die afrikanischen Staaten, dass diese die MigrantInnen daran hindern, «illegal» auszureisen. Anlässlich der euroafrikanischen Regionalkonferenz Migration und Entwicklung fanden zwar schön klingende Formulierungen Eingang in die Abschlusserklärung, die die «Verbesserung der legalen Immigrationsmöglichkeiten» betonen. Doch viel konkreter lesen sich die Absichtserklärungen im Bereich der Abwehr: Da ist die Rede von polizeilicher Zusammenarbeit, von Informationsaustausch und Rechtshilfe, Gebietsüberwachung und Grenzkontrolle, der Rückschaffung, der «Bekämpfung von illegaler Arbeit» sowie von «Verabschiedung abschreckender Strafen für Mafiaorganisationen, die die Ausbeutung der Immigranten organisieren».

Migration bringt Wachstum

Tatsächlich ist es heute für die meisten AfrikanerInnen praktisch unmöglich, legal in ein europäisches Land zu reisen, um dort legal einer Arbeit nachzugehen. Wer es illegal schafft, findet im besten Falle als «SchwarzarbeiterIn» ein Auskommen. Doch gerade die Wirtschaft in Spanien und Italien ist in den letzten Jahren zunehmend von MigrantInnen abhängig geworden. Eine diese Woche veröffentlichte Studie der Universität Barcelona weist aus, dass ohne die massive Zuwanderung der letzten zehn Jahre Spanien nicht ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von 2,6 Prozent hätte, sondern einen Rückgang von jährlich 0,6 Prozent. Von den staatlichen Abwehrreaktionen profitieren also vorab die ArbeitgeberInnen, die den illegalisierten MigrantInnen Tiefstlöhne zahlen können. Staatliche Regularisierungen, wie die Legalisierung von 700000 Sans-Papiers, die letztes Jahr in Spanien eine Aufenthaltsbewilligung erhielten, oder die 520000 Legalisierten dieses Jahr in Italien, sind also keineswegs ein Gnadenakt, sondern bringen dem Staat vorab mehr Steuereinnahmen, da die meisten der Sans-Papiers einer Lohnarbeit nachgehen.

Flüchtlingspingpong

AfrikanerInnen, die in Europa Asyl beantragen, riskieren, für Monate oder gar Jahre irgendwo in einem Ausschaffungsgefängnis zu landen. Im Geltungsraum des Schengenabkommens werden Asylsuchende in jenes Land zurückgeschafft, in das sie eingereist sind. Karl Kopp sagt, dass immer mehr Asylsuchende in Europa von einem europäischen Land ins andere abgeschoben werden. Dabei könne es oft Monate dauern, bis die Abschiebung vollzogen werde, während die Betroffenen in Haft gehalten werden. Darüber hinaus gebe es zwischen den europäischen Staaten zudem einen «Wettlauf der Schäbigkeit», wie es Kopp ausdrückt. Sie überbieten sich gegenseitig mit Repressions- und Abschreckungsmassnahmen. Auch die in der Schweiz zur Abstimmung kommenden Verschärfungen im Asyl- und Ausländerrecht sind Teil davon. Wenn die Ausschaffungshaft bis zu zwei Jahren dauern kann, so werden abgewiesene AsylbewerberInnen versuchen, in ein anderes europäisches Land zu gelangen, um dort zu überleben. Auch dass ihnen hier künftig die Sozialhilfe gestrichen werden soll und man sie gleichzeitig auffordert, das Land zu verlassen, kann durchaus als Anstiftung zum illegalen Grenzübertritt in ein Nachbarland verstanden werden. «Flüchtlingspingpong» nennt Karl Kopp das, ein «Vertreibungsprogramm», das ImmigrantInnen in Europa schliesslich einen Dritte-Welt-Status verleiht.

Rekrutierungsbüros für Afrika

Es bräuchte keine revolutionären Veränderungen, um die afrikanischen MigrantInnen menschenwürdiger zu behandeln. Auch viele Wirtschaftsliberale könnten das mit ihrer Ideologie unter einen Hut bringen: Europa müsste seine Mitschuld an den Friedhöfen im Mittelmeer anerkennen, wie es auch seine koloniale Schuld gegenüber Afrika anerkennen müsste. Es müsste sich stärker für friedensfördernde Massnahmen engagieren und aufhören, Diktaturen und korrupte Regimes zu unterstützen. Es müsste die Wirtschaft Afrikas stärken, damit weniger AfrikanerInnen sich gezwungen sehen auszuwandern. Bereits die Abschaffung der völlig quer zur liberalen Ideologie liegenden Exportsubventionen könnte die Exporte der afrikanischen Landwirtschaft massiv ankurbeln und damit neuen Wohlstand schaffen. Ausserdem müsste die afrikanische Bevölkerung die Verfügungsgewalt über die Bodenschätze des Kontinents erhalten, die Gewinne daraus dürften nicht länger abfliessen. Europa muss aufhören, sich in Afrika als Grossmacht aufzuspielen und etwa mit seiner Fischereipolitik den lokalen Fischern die Existenzgrundlage zu entziehen. Schweizer Banken und Treuhandfirmen dürften nicht weiter Hand dazu reichen, dass unversteuerte Milliardenbeträge aus dem Kontinent fliessen (vgl. «Kapital ist immer willkommen» weiter unten). Man müsste insgesamt einen gerechteren Handel schaffen und die Entwicklungshilfe massiv aufstocken.

Die meisten europäischen Staaten sind ohnehin infolge des Geburtenrückgangs auf mehr MigrantInnen angewiesen. Eine eben veröffentlichte Studie der Europäischen Zentralbank kommt zum Schluss, dass das Wirtschaftswachstum in der Eurozone schon bald stark nachlässt, wenn nicht mehr Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Auch der Schweizerische Arbeitgeberverband rechnet ab 2015 mit einem Arbeitskräftemangel. Wieso also nicht auf einen Schlag alle in Europa anwesenden Sans-Papiers legalisieren? Das würde den Ländern zusätzliche Steuereinnahmen bescheren, die Sozialversicherungen hätten mehr Einnahmen, und der Lohndruck nähme ab. Ausserdem könnten die legalisierten MigrantInnen sich weiterbilden und auch anspruchsvollere Arbeiten übernehmen. Und damit niemand mehr die lebensgefährlichen Bootsfahrten auf sich nehmen muss, sollten die europäischen Staaten in Afrika Rekrutierungsbüros eröffnen und allen ein Chance geben, die für eine bestimmte Zeit nach Europa kommen, arbeiten und sich weiterbilden wollen. Die Einheimischen hätten den latenten Rassismus, die Angst vor den fremden Schwarzen zu überwinden. Dafür müssten sie nicht, wie das in der Studie der europäischen Zentralbank vorgeschlagen und auch vom Schweizer Arbeitgeberverband gefordert wird, mehr und länger arbeiten.

Kapital ist immer willkommen

Die Schweizer Banken wiesen letztes Jahr rund zehn Milliarden Franken Überschuss im Finanzverkehr mit Afrika aus. Das sind Gelder, die aus dem Kontinent abfliessen. Darüber hinaus wurden via Schweizer Banken weitere dreizehn Milliarden an Treuhandgeldern aus Afrika weggeschafft. Treuhandgelder werden von den Banken in eigenem Namen, aber auf Risiko der Kunden irgendwo auf der Welt angelegt. Sie seien die «Geheimwaffe» der Schweiz, schrieb die britische Zeitung «Financial Times». Die Schweiz ziehe so reiche Personen an, «welche im eigenen Land Steuern hinterziehen wollen». So sackten Schweizer Banken etwa in Senegal im letzten Jahr 209 Millionen Franken an Treuhandgeldern ein. Geht man davon aus, dass diese Gelder grösstenteils nicht versteuert wurden, bedeutet das: Senegal gingen dadurch mehr Steuereinnahmen verloren als die 3,7 Millionen Franken, die letztes Jahr an Entwicklungshilfe vom Schweizer Staat ins Land flossen.