Festung Europa: Der Flüchtling als Verbrecher

Nr. 36 –

Das Schicksal zweier Kontinente wird sich darin entscheiden, ob der europäischen Politik etwas anderes einfällt als die Mobilmachung gegen Flüchtlinge, schreibt Heribert Prantl. Ein Nachdruck.


Die Militarisierung, die das Polizei- und Strafrecht nicht nur sprachlich ergriffen hat, wurde in der Flüchtlingspolitik vorweggenommen. Die Beschränkung und Auflösung der Individualrechte, die Vereitelung des grundgesetzlich garantierten Rechtsschutzes, sie wurden am Asylrecht vorexerziert. Das Bild vom potenziell gefährlichen Individuum wurde von einer Asylpolitik der Abschreckung konturiert; vom neuen Polizeirecht wird es nun koloriert: Die Unschuldsvermutung gilt nicht mehr, der Einzelne muss beweisen, dass er nicht gefährlich ist. Ihm wird auf alle nur erdenkliche Weise nachgestellt: mit Wanzen und geheimdienstlicher Telefonüberwachung, mit Ermittlungsmethoden, die mit rechtsstaatlichen Instrumentarien nicht mehr kontrollierbar sind. Die Asylpolitik der letzten zwanzig Jahre war und ist das Menetekel für die allgemeine Politik der Inneren Sicherheit.

Am 11. September 2001 hat die Welt Afrika aus dem Blick verloren. Ein ganzer Kontinent vegetiert seitdem abseits aller politischen und militärischen Interessen. Seitdem für den Westen al-Kaida das Synonym für Gefahr geworden ist, seitdem die Amerikaner ihre Freiheit im Irak verteidigen und die Deutschen am Hindukusch, seitdem Bin Laden und Saddam Hussein des Teufels sind, seitdem jeder Dollar und jeder Euro, der ihrer Bekämpfung dient, also ein gutes Werk ist – seitdem geht ein Erdteil unter, ohne dass man sich darum schert. Der Erdteil der Ärmsten säuft ab, aber kaum jemand funkt SOS.

EU-Entwicklungshilfe besteht neuerdings auch darin, in Afrika «Lager» einzurichten. Es ist sicherlich richtig, dass bei Konflikten zwischen Stämmen und Staaten von kürzerer Dauer heimatnahe Lager sinnvoll sind. Die EU-Politik verfolgt eine andere Linie. Und die heisst: Aus den Augen, aus dem Sinn. So kann man sich der Illusion hingeben, das Welt-Armutsproblem mit administrativen und abschreckenden Massnahmen im Griff zu behalten: Wohlstand bleibt drinnen, Elend draussen.

Der Werbespruch für ein Bratfett war die Leitidee für Schengen: aussen knusprig, innen saftig. Schengen ist ein Winzerort in Luxemburg, in dem ein Vertrag geschlossen wurde, wonach die unterzeichnenden EU-Staaten aussen die Grenzen dicht machen, dafür aber innen alles offen bleibt, also auf Grenzkontrollen verzichtet wird. Die Aussengrenzen wurden so dicht gemacht, dass es dort auch für die Humanität kein Durchkommen mehr gibt.

Feinde des Wohlstands

Schengen macht Europa dicht für Flüchtlinge. Wer es trotzdem versucht, riskiert sein Leben; viele Tausende, vielleicht Zehntausende von Menschen sind im Mittelmeer oder in den Grenzflüssen zu Tode gekommen. Daher wird versucht, die Auffanglinien vorzuverlegen, vor allem nach Libyen, und dort Auffanglager einzurichten. EU-Delegationen waren bei Gaddafi, um technische Details der Vorkehrungen gegen «illegale Migration» zu besprechen. In einem Dokument ist festgehalten, was man den Libyern fürs Erste geliefert hat: neben fünfhundert Rettungswesten auch tausend Leichensäcke für die Opfer gescheiterter Fluchtversuche nach Europa.

Manchmal werden tote, manchmal werden lebende Flüchtlinge an den Küsten Andalusiens angespült. Das Mittelmeer ist ein Gottesacker geworden für viele, die sich auf den Weg gemacht haben. Manchmal bleibt ein Stück Flüchtling an den Stacheldrahtzäunen hängen, mit denen Spanien in seinen Exklaven in Marokko den Weg versperrt. Achtzehn Millionen Afrikaner sind nach Schätzungen von Klaus Töpfer, dem früheren Leiter des UN-Umweltprogramms in Nairobi, seit Jahren auf der Flucht, von Land zu Land: nach Süden, nach Südafrika, oder nach Norden, nach Europa. Sie fliehen nicht nur vor Militär und Polizei, nicht nur vor Bürgerkrieg und Folter. Vielen Millionen drohen absolute Armut und Hunger; und es lockt die Sehnsucht nach einem Leben, das wenigstens ein wenig besser ist. Europa nimmt davon nur dann Notiz, wenn eine zerlumpte Vorhut den Stacheldraht von Ceuta und Melilla erklimmt und die spanischen Grenztruppen auf Menschen schiessen, die aus Ländern geflohen sind, die einst Entwicklungsländer hiessen. Dort entwickeln sich aber heute nur noch Aids, Hunger, Chaos und Korruption.

Die Flüchtlinge gelten als Feinde des Wohlstands. Die Europäische Union schützt sich vor ihnen wie vor Terroristen: man fürchtet sie nicht wegen ihrer Waffen, sie haben keine; man fürchtet sie wegen ihres Triebes, sie wollen nicht krepieren, sie wollen überleben – sie werden also behandelt wie Triebtäter; und sie werden betrachtet wie Einbrecher, weil sie einbrechen wollen in das Paradies Europa; und man fürchtet sie wegen ihrer Zahl und sieht in ihnen so eine Art kriminelle Vereinigung. Deswegen wird aus dem «Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts», wie sich Europa selbst nennt, die Festung Europa.

Die Flüchtlinge flüchten, weil sie nicht krepieren wollen. Sie sind jung, und das Fernsehen lockt noch in den dreckigsten Ecken der Elendsviertel mit Bildern aus der Welt des Überflusses. Die Leute, die sich in Guinea-Bissau oder in Uganda auf den Weg machen und nach einer einjährigen Odyssee in Nordafrika vor den spanischen Exklaven Ceuta oder Melilla ankommen, wollen nicht wieder zurück. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung südlich der Sahara liegt bei 17,6 Jahren! Noch bleiben 95 Prozent der Flüchtlinge in der Welt, die man die Dritte nennt. Diese Ausgeschlossenen aber drängen nun an die Schaufenster, hinter denen die Reichen der Erde sitzen.

Der Druck vor den Schaufenstern wird stärker werden. Ob uns diese Migration passt, ist nicht mehr die Frage. Die Frage ist, wie man damit umgeht, wie man sie gestaltet und bewältigt. Migration fragt nicht danach, ob einige EU-Staaten sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention hinausschleichen, auch nicht, ob das Thema in Berlin oder Brüssel irgendeine Rolle spielt. Die Migration ist da. Sie wird einmal alle anderen Probleme in den Hintergrund drängen.

Zäune aus Paragrafen

Der Migrationsdruck wird das Thema dieses Jahrhunderts werden, und das Schicksal zweier Kontinente wird sich darin entscheiden, ob der europäischen Politik etwas anderes einfällt als die militärische Mobilmachung gegen Flüchtlinge. Bisher ist Flüchtlingspolitik vor allem Flüchtlingsabschreckungs- und Flüchtlingsabwehrpolitik. Europa macht dicht. Die Europäische Union hat in den vergangenen Jahren fast alle legalen Zugangsmöglichkeiten zu ihrem Territorium verschlossen. Für alle Herkunftsländer von Flüchtlingen ist Visumspflicht angeordnet. Visa für Flüchtlinge gibt es aber nicht. So wird jede legale und gefahrenfreie Einreise verhindert. Wer sie trotzdem schafft, ist per gesetzlicher Definition ein Asylmissbraucher und reif für die umgehende Abschiebung.

Seit 1992, seit den «Londoner Entschliessungen», hat sich EU-Konferenz um EU-Konferenz mit den Bauplänen für die Festung Europa befasst. Es wurden Zäune aus Paragrafen errichtet (als Erstes von den Deutschen, die 1993 ihr Asylgrundrecht änderten, um es, wie es hiess, europatauglich zu machen). Es wurden Hunderte Millionen Mark und Euro in die Bewachung der Aussengrenzen investiert: Patrouillenboote, Nachtsichtgeräte, Grenzüberwachungstechnik.

Bei der EU-Konferenz im finnischen Tampere im Oktober 1999 räumten die Staats- und Regierungschefs der EU erstmals ein, dass eine Politik des blossen Einmauerns nicht funktionieren kann. Zwar wurde damals auch zum x-ten Mal beschlossen, die Aussengrenzen noch besser zu sichern und Schlepperbanden noch besser zu bekämpfen (Was sollen Flüchtlinge eigentlich anderes machen, als sich solcher Fluchthelfer zu bedienen, wenn es sonst keine Möglichkeit zur Flucht gibt?). Andererseits räumten sie aber ein, dass Verfolgte weiterhin Aufnahme finden müssten. Flüchtlinge sollen also wenigstens eine kleine Chance haben, Schutz in der EU zu finden. In Tampere wurde sozusagen das Europamodell einer Festung mit einigen Zugbrücken kreiert. Über die Zugbrücken sollten die politisch Verfolgten kommen dürfen. Diese Zugbrücken existieren aber bis heute nur auf dem Papier. Stattdessen gibt es vorgeschobene Auffanglinien in Nordafrika – in Libyen, Tunesien, Algerien, Marokko und Ägypten. Die Nordafrikaner sollen sich, irgendwie, um die Flüchtlinge kümmern. Wie? Da wird man dann nicht so genau hinschauen. Man spielt Pontius Pilatus und wäscht die Hände in Unschuld.

Die Italiener praktizieren dieses Modell schon einige Zeit. Die Länder, die mitmachen, erhalten dafür, unter anderem, eine kleine Einwanderungsquote. Auf EU-Konferenzen erfindet man schöne Namen für solches Tun: Die Flüchtlingslager, die mit EU-Hilfe in Nordafrika errichtet werden, heissen nicht «Flüchtlingslager», sondern «Aufnahmezentren». Die Abschiebung der Verantwortung an die Nordafrikaner nennt man nicht «illegales Outsourcing», sondern «stellvertretenden Flüchtlingsschutz». Und das ganze Unterfangen läuft unter der Überschrift «praktizierte Humanität» – weil die Flüchtlinge mittels der Lager davon abgehalten würden, «den gefahrvollen Weg über das Mittelmeer zu riskieren».

Illegal per Definition

Ziel ist: Das Institut des Asyls soll ausgelagert werden. Die EU zahlt dafür, dass das Asyl dort hinkommt, wo der Flüchtling herkommt. Asyl in Europa wird so zu einer Fata Morgana werden: schön, aber unerreichbar. Schutz gibt es dann nicht mehr in Deutschland, Italien oder sonstwo in der EU, sondern allenfalls weit weg von der Kontrolle durch Justiz und Öffentlichkeit. Und wenn der Schutz dann kein Schutz ist, sondern Auslieferung an das Land, aus dem der Flüchtling geflohen ist, dann kräht kein Hahn danach. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Aus den alten Kolonialländern werden nun also neue, sie werden eingespannt zur Flüchtlingsentsorgung. Es handelt sich um die Globalisierung einer Flüchtlingspolitik, die Deutschland 1993 bei der Abschaffung des alten Asylgrundrechts entwickelt hat: Damals umgab sich Deutschland – durch die Einführung der Drittstaatenklausel und des Systems der sicheren Herkunftsstaaten – mit einer Sicherheitszone, die weitgehend ausschliessen sollte, dass ein Flüchtling in Deutschland überhaupt noch Asyl bekommen kann. Drittstaatenklausel, das heisst: Ein Flüchtling, der auf seiner Flucht auch nur einen Fuss auf einen anderen als den deutschen Staat, also auf einen «Drittstaat», gesetzt hat, hat in Deutschland keine Chance mehr. Wer über einen der Nachbarstaaten nach Deutschland geflohen ist, der gilt, per Definition, in Deutschland nicht mehr als politisch verfolgt. Es zählt nur der Weg, auf dem der Flüchtling gekommen ist; auf diesen Weg wird er sofort und ohne weitere Prüfung zurückgeschickt. Dazu kommt das System der sicheren Herkunftsstaaten: Da werden bestimmte Staaten einfach per Verordnung für sicher erklärt. Wer dann von dort kommt, hat per se kaum Chancen.

Dieses deutsche Abwehrmodell ist in den vergangenen Jahren auf Europa ausgedehnt worden. Die EU praktiziert die deutschen Regeln. Und nun wird die Drittstaatenregelung quasi auf die nordafrikanischen Staaten ausgedehnt: Ein Flüchtling, der auf seiner Flucht auch nur einen Fuss in eines dieser Länder gesetzt hat (oder hätte setzen können), der wird dorthin verfrachtet – weil er in den dort errichteten Lagern und Zentren als sicher gilt.

Der sichtbarste Ausdruck der europäischen Unverantwortlichkeit ist die italienische Politik. Sie verfährt mit Flüchtlingen, als sei man beim Tischtennisspielen: Die Bälle werden zurückgeschmettert. Nur – die Bälle sind Menschen. Flüchtlinge werden, kaum dass sie die dem Kontinent vorgelagerte Mittelmeerinsel Lampedusa betreten haben, nach Libyen ausgeflogen. Es handle sich schliesslich um «illegale Flüchtlinge», sagte der italienische Innenminister im Jahr 2004. Nach den neuen Massstäben gibt es aber keine legalen Flüchtlinge mehr. Flüchtlinge, die in Italien, in Europa, anlanden, gelten per Definition als illegal. Doch nicht die Flüchtlinge sind illegal, sondern die Art und Weise, wie man mit ihnen umgeht, ist illegal. In Frankreich gibt es einen korrekten Ausdruck für die angeblich illegalen Flüchtlinge: Sie heissen «sans papiers», Menschen ohne Papiere. Erst sind diese Menschen Opfer von Schleppern, die ihnen das Geld abnehmen, dann Opfer eines Rechtsstaats, der ihnen kein Recht gewährt – und schliesslich eines nordafrikanischen Staats, der die Drecksarbeit erledigt.

Unter dem Existenzminimum

Als illegal könnte man einen Flüchtling allenfalls dann bezeichnen, wenn sich nach Prüfung herausstellte, dass er einen Fluchtgrund nach der Genfer Flüchtlingskonvention nicht geltend machen kann. Eine solche Prüfung findet aber nicht statt, auch nicht die vereinfachte Prüfung, wie sie für «offensichtlich unbegründete» Anträge vorgeschrieben ist. Die Beschlüsse zur Flüchtlingskonvention verlangen angemessene verfahrensrechtliche Garantien. Die Garantien, die Italien den Flüchtlingen gibt, sehen anders aus: Flüchtlinge sollen wissen, dass sie garantiert keine Chance haben – und dass jeder, der auf Lampedusa anlandet, garantiert nach Nordafrika zurückgebracht wird. Weil die Unterscheidung zwischen politisch verfolgten Flüchtlingen und denen, die aus bitterer Not ihre Heimat verlassen, schwierig ist, werden seit geraumer Zeit alle gleich schlecht behandelt.

Leistung soll sich wieder lohnen, sagen Politiker oft. Wenn das so ist, müsste man eigentlich den wenigen Flüchtlingen, die es noch nach Deutschland schaffen, schnell Asyl gewähren – den Afrikanern zumal. Es ist eine grosse Leistung, nach Deutschland zu fliehen – weil das eigentlich gar nicht mehr geht, weil davor eine Vielzahl grösster Hindernisse stehen: Visasperren, scharfe Grenzkontrollen, strengste gesetzliche Abweisungsmechanismen. Wer es trotzdem schafft, hat seine gesetzlich angeordnete Illegalisierung faktisch durchbrochen und eine Belohnung verdient: seine Legalisierung.

Stattdessen wird ihm eine Sammelunterkunft zugewiesen, die oft nur aus Wohncontainern besteht, wird er auf wenig Platz zusammengepfercht mit Menschen aller Nationen. Ihm wird auferlegt, sich bei Strafe nicht von dem Ort wegzubegeben, an den er platziert wurde, egal, ob andernorts Freunde oder Verwandte aus der Heimat wohnen. Freizügigkeit gibt es für ihn nicht. Ihm ist in der Regel verboten zu arbeiten, weil er ansonsten Deutschen oder bevorzugten Europäern den Arbeitsplatz wegnehmen könnte. Für Lebensmittel und Kleidung erhält er nach Gusto des Sozialamts Geld oder Bezugsscheine, jedoch deutlich weniger als ein Empfänger von Sozialhilfe, obwohl diese ja schon nach dem Existenzminimum bemessen ist.

Im August 1991 hatte sich erstmals gezeigt, was es mit der Genfer Flüchtlingskonvention im Ernstfall auf sich hat – als in Süditalien Flüchtlinge aus Albanien per Schiff gelandet waren. In den Strassen von Bari wurden sie von Soldaten gejagt, im Sportstadium eingesperrt. Es gab kein Entkommen, es gab keine Zuflucht, es gab kaum Wasser und Brot, auch nicht für Frauen und Kinder. Selbst Kriegsgefangene wären nach der Genfer Konvention besser zu behandeln gewesen. Ein Staat war in Panik. Italien reagierte, als wären die Flüchtlinge aus dem Nachbarland Verbrecher, und exerzierte ein Exempel der Abschreckung. Italien forderte die Mobilmachung der EG. Militärische Einheiten sollten in der Adria patrouillieren, um Flüchtlinge schon im Wasser abzufangen. Die Bilder von Bari zeigten freilich, wo eine solche Politik enden wird: im Krieg gegen Flüchtlinge. Bari war das Vorgefecht. Als die zerlumpten Gestalten sich wieder auf den Rückweg machten, da herrschte Erleichterung, als sei die Schlacht auf dem Lechfeld gewonnen worden. Mittlerweile sind Technik und Personal zur effektiven Flüchtlingsabwehr an den Grenzen aufgebaut – dieses europäische Abwehrsystem trägt den martialischen Namen «Frontex».

Quotierte Chance

Die EU muss aufhören, den neuen Eisernen Vorhang immer weiter auszubauen. Sie muss politisch Verfolgten wieder Schutz bieten, sie muss Zuwanderern eine quotierte Chance geben. Es bedarf gewaltiger friedenspolitischer Initiativen und gewaltiger Anstrengungen für die Opfer von Hunger und Not. Die Entwicklungspolitik der europäischen Staaten sollte damit aufhören, ihre finanziellen Mittel über den ganzen Schwarzen Kontinent zu vertröpfeln. Jedes EU-Land sollte sich zum Paten für bestimmte afrikanische Länder erklären. Eine Geberkonferenz sollte klären, wer wohin gibt. Noch ist es so, dass die Europäische Union durch die Protektion heimischer Bauern mehr Geldzuflüsse nach Afrika verhindert, als sie an Entwicklungshilfe gibt. Fluchtursachenbekämpfung verlangt zuallererst das Eingeständnis, dass die Armen am Reichtum der Reichen verhungern.

Der Einwand gegen die einschneidenden Konsequenzen lautet so: Kann die Dritte Welt wirklich das Niveau der Ersten erreichen? Das soll heissen: Der Lebensstandard der Ersten Welt ist nicht globalisierungsfähig. Solche Äusserungen sind gefährlich; sie sind die tollste Ausrede, um mit der Ausbeutung der Dritten Welt so weiterzumachen wie bisher. Wer so argumentiert, der will die Ungleichheit ad infinitum fortschreiben und die unterentwickelten Länder als Natur- und Kulturreservate der hoch entwickelten Ersten Welt erhalten. Wer so argumentiert, provoziert Terrorismus.

Dieser Artikel ist ein gekürztes Kapitel aus Heribert Prantls Buch «Der Terrorist als Gesetzgeber – Wie man mit Angst Politik macht». Das Buch beschäftigt sich mit dem Umbau vom Rechtsstaat zum Präventions- und Sicherheitsstaat und versteht sich als Plädoyer für eine Politik, welche die Freiheit mit kühlem Kopf verteidigt, statt sie auf dem Altar der Sicherheit zu opfern.

Heribert Prantl

Der 1953 geborene Heribert Prantl studierte Rechtswissenschaft und Geschichte und war zunächst Richter und Staatsanwalt, bevor er als Redaktor zur «Süddeutschen Zeitung» ging. Dort ist er heute Leiter des Ressorts Innenpolitik. Prantl gilt als engagierter Verfechter eines liberalen und weltoffenen Rechtsstaates. Für seine Veröffentlichungen wurde er mehrfach ausgezeichnet. «Entschieden fordert er die Beachtung der Grundrechte», hiess es bei der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises an Prantl.