Moulagen: Pocken, Pickel, Pusteln

Nr. 41 –

Eine detailgenaue Nachbildung von Haut- und Geschlechtskrankheiten: Was StudentInnen zum Staatsexamen wissen müssen, gruselt Horrorfans im Museum.

In Wachsfigurenkabinetten rund um die Welt sehen wir Liz Taylor, Michael Jackson oder Jesus. In Zürich sehen wir Hans W., oder zumindest einen Teil von ihm. Der Bauch von Hans W. scheint bis zu den Knien zu baumeln. Eine groteske Form. Wie ein gigantisch angeschwollener Hodensack. «Das ist der Bauch», versichert Sabina Carraro, «nach einem Leistenbruch sind die Gedärme in diesen Bruchsack gerutscht.» Sie steht vor der Vitrine mit W.s Unterleib. Das Schild daneben erläutert, dass W. zehn Jahre lang so herumgelaufen sei. Er habe sich stets geweigert, eine Operation durchzuführen, denn gestört habe ihn das nie, dass seine Därme auf Kniehöhe hängen.

Sogar Sommersprossen

Hans W. hat sich aber dazu bereit erklärt, seinen «grotesken Leistenbruch» in einer Moulage verewigen zu lassen. Anders als bei Liz Taylor wurde Hans W.s Körper aber nicht frei modelliert, wie dies bei herkömmlichen Wachsfiguren üblich ist, sondern eben zu einer Moulage gegossen. Dafür wurde von Hans W. vom Bauchnabel abwärts mit feinzeichnendem Gips ein Abdruck gemacht und dieser mit der Moulagemasse aus Bienenwachs, Dammarharz und Kalziumkarbonat schichtweise ausgegossen. Im Wasserbad wurden die Moulage vom Gips gelöst, darauf von Gipsresten gereinigt, die Ränder zugeschnitten und ausgebessert. Schliesslich wurde sie bemalt, mit Baumwolle eingefasst und auf einem schwarzen Brett befestigt. Die Baumwolle erinnert an das weisse Laken eines Krankenbettes. Das ergibt das Gefühl, der Körper gehe noch weiter - und er sei nicht einfach ein Stück Fleisch auf einem Brett, wie eine Jagdtrophäe.

Nun steht Hans W.s Unterleib mit anderen 1800 Wachspräparaten im Moulagenmuseum des Zürcher Unispitals und hilft seit Jahrzehnten MedizinstudentInnen bei den Vorbereitungen aufs Staatsexamen. Vor allem zukünftige DermatologInnen büffeln im Moulagenmuseum an der Haldenbachstrasse. Denn auf den Abgüssen sind kleinste Hautveränderungen erkennbar, manchmal sogar Sommersprossen oder Poren. Sie sind daher besonders geeignet für die Nachbildung von Haut- und Geschlechtskrankheiten.

Die PatientInnen, deren Körperteile hier ausgestellt sind, haben wie Hans W. alle ihr Einverständnis gegeben (sofern sie noch am Leben waren), sich der Moulageuse zur Verfügung zu stellen. «Früher gab es an vielen Kliniken eine Moulageuse. Sie hatte bis zu einem gewissen Grad den Nimbus einer Heilerin. Der kühle Gips war angenehm auf der wunden Haut und zog, so glaubte wohl mancher Patient, die Krankheit aus dem Körper.» Sabina Carraro sitzt zwischen Melanomen, Karzinomen, gut- und bösartigen Tumoren, Kröpfen, Klumpfüssen, Pocken, Pusteln, Pickeln und «hütet» das Moulagenmuseum während der Öffnungszeiten. In ihrer Freizeit restauriert die Künstlerin beschädigte Moulagen. Wenn sie über die Moulagen spricht, tut sie dies auf ruhige, äusserst ernste und respektvolle Weise. Mit kühler Zurückhaltung und ohne das geringste Anzeichen von Ekel, so wie man sich das von einer Person wünscht, die einem das Furunkel am Rücken in Gips einpackt und schliesslich für die Nachwelt verewigt.

Von den Moulagen erfahren hat Sabina Carraro vor nun gut vier Jahren. Irgendwo etwas gelesen, wo genau, weiss sie nicht mehr. Das ist auch nicht wichtig. «Ich wusste aber sofort, dass ich hiermit arbeiten wollte. Krankheiten und Körper haben mich schon immer fasziniert. Schon während meines Kunststudiums an der F+F habe ich lieber dreidimensional gearbeitet als auf Blatt. Ich arbeite heute in meiner Kunst viel mit Wachs und Textilien. In den Moulagen vereinigt sich Kunst mit Wissenschaft, Handwerk und Geschichte.» Also hat sie bei Dr. Michael Geiges, dem Konservator des Zürcher Moulagenmuseum, an die Tür geklopft, damit dieser sie in das Geheimnis des Moulagierens einweihte. Lange Zeit wurden das Rezept der Moulagemasse sowie die Technik selbst geheim gehalten und nur von der Moulageuse an ihre jeweilige Nachfolgerin weitergegeben. Bis 1979 Elsbeth Stoiber, die letzte Moulageuse des Unispitals, in einer Tonbildschau die Technik der breiten Öffentlichkeit präsentierte.

Schön glänzender Eiter

Das Besondere an der in Zürich praktizierten Kolbow’schen Technik ist, dass nur mit vier Farbtönen gearbeitet wird. Lasierende Ölfarben in Blau, Rot, Gelb und Braun reichen aus, um Moulagen in all ihren Farben schillern zu lassen. Schwarz und Weiss werden nicht verwendet. Hautfarbe und allfällige farbliche Veränderungen werden tupfend und in vielen Schichten aufgetragen, bis ein genaues Abbild der erkrankten Körperpartie entsteht. Die ersten Schichten sind mit blossem Auge kaum erkennbar. «Gemalt wird nur direkt beim Patienten und bei Tageslicht, um die Hautfarbe möglichst unverfälscht wiederzugeben», erklärt Sabina Carraro. Tatsächlich glänzen Eiter und Pusteln des von Pocken geplagten jungen Mannes unglaublich echt. Fast schon unheimlich. «Sind das jetzt alles Leichenteile?», hat eine Frau einmal vor Verlassen des Raumes gefragt.

Sabina Carraro hat selbst noch nie mit PatientInnen direkt gearbeitet. Im Unispital werden keine Moulagen mehr hergestellt. Es fehlt das Geld dafür. So erstellte sie Duplikate von bereits bestehenden Moulagen und klapperte die halbe Nachbarschaft ab: das vernarbte Schienbein eines Freundes, die Hand ihrer Tochter, die Sommersprossen auf dem Rücken ihres Mannes. Ansonsten restauriert sie beschädigte Moulagen der Sammlung. «Ich liebe die Feinarbeit und Präzision beim Restaurieren. Es ist eine Herausforderung, die Hautfarbe wieder richtig zu mischen. Gäbe es den Beruf der Moulageuse noch, so würde ich ihn sofort ausüben», ist Sabina Carraro überzeugt. So fehlt auf der einen Seite der direkte Kontakt zu PatientInnen, auf der andern würde ihr wahrscheinlich das Schicksal der PatientInnen viel näher gehen. Wie zu Beginn ihrer Arbeit in der Moulagensammlung: «Am Anfang hat es immer gekribbelt, wenn ich hierher gekommen bin. Doch mit der Zeit verliert alles seinen Schrecken. Ausserdem erschrecken mich die Geschichten, die ich täglich in der Zeitung lese, viel mehr.» Ekel habe sie sowieso nicht empfunden.

Den meisten Besuchern macht wahrscheinlich die Geschichte hinter den Moulagen am meisten zu schaffen. Da sind der Maurer, dessen Haut sich nach jahrelanger staubiger Arbeit dunkelgrau zu einer sogenannten Teerhaut verfärbt hat; die Frau, die als Kind von ihrem Vater mit Ameisensäure verätzt wurde und heute noch Narben davonträgt; das Baby, dessen Haut sich abschält wie Pergamentpapier, bis darunter das rohe Fleisch zum Vorschein kommt. Es war eine Totgeburt, denn bei so kleinen Kindern kann man kaum mit Luftröhrchen in den Nasenlöchern arbeiten, wie man das sonst bei Gesichtsmoulagen macht.

«Nur wenige Besucher ekeln sich und machen dumme Sprüche. Die meisten bleiben jedoch lange Zeit vor den Schaukästen und verlassen das Museum etwas ernüchtert.» Oft kommen TouristInnen vorbei, die dem Museumsführer folgen, aber auch Firmenausflügler, die Feuerwehr Dübendorf und besonders viele Kosmetikfachklassen haben sich im Gästebuch verewigt. Zudem finden sechs Einheiten des Einführungskurses für DermatologiestudentInnen direkt im Museum statt. Sabina Carraro wird nicht müde zu betonen, von welchem Nutzen die Moulagen sind: «Sie sind detailgetreuere Abbildungen von Haut- und Geschlechtskrankheiten als Fotos. Daher wichtiges Lehrmittel für Studenten, aber auch ein Stück Wissenschaftsgeschichte und äusserst wertvolle Kunstgegenstände.»

Oft erinnert sich Sabina Carraro an drei junge amerikanische Soldaten aus dem Irakkrieg: «Sie hatten ein paar Tage Urlaub in Europa und sind extra nach Zürich gereist für die Moulagensammlung. Vor einer Vitrine sind einem dann die Tränen gekommen.» Nämlich vor der Darstellung einer Leishmaniose tropica, die auf der Haut der Befallenen kleine glänzende Bläschen hervorruft. Von dieser parasitären Tropenkrankheit werden viele Soldaten im Irak befallen. Die Moulagen zeugen von zahlreichen Krankheiten, die in Europa nicht mehr zu finden sind. Bis in die sechziger Jahre ist die Moulageuse Elsbeth Stoiber nach Indien gereist, um Fälle von Lepra und anderen tropischen Krankheiten zu moulagieren und zurück in die heute fast schon sterile Schweiz zu bringen. Manchmal vergisst man, dass es hier nicht immer so war. Daran erinnert etwa die Pockenmoulage aus der letzten Zürcher Epidemie 1921. Auch diese Moulagen tragen ein Stück Geschichte in sich. In Form von Pickeln.


Geschichte der Moulagenherstellung

Die Kunst der Wachsbildnerei wird schon seit dem 17. Jahrhundert für die Herstellung von anatomischen Modellen eingesetzt, seit Beginn des 19. Jahrhunderts auch für Abgüsse (Moulagen) von Hautausschlägen. F. H. Martens aus Jena war wahrscheinlich einer der ersten Moulageure - Goethe sagte von ihm, dass er «besonders pathologische Kuriosa, vorzüglich auch syphilitische Krankheiten in gefärbtem Wachs mit grösster Genauigkeit darzustellen bemüht war».

Von besonderer Bedeutung war die Moulagensammlung des Hôpital St. Louis in Paris, das eine der ersten Kliniken für Hautkrankheiten überhaupt unterhielt. Der Moulageur Jules Baretta stellte über 300 Moulagen her. Deren Ausstellung am Kongress für Dermatologie und Syphiligrafie 1889 in Paris beeindruckte Fachärzte aus der ganzen Welt derart, dass an vielen Kliniken Moulagensammlungen eingerichtet wurden.

So auch 1916 in Zürich unter der Leitung von Bruno Bloch, der Moulagen als wichtiges Lehrmittel erkannte: «Eine dermatologische Klinik ohne eigene Moulagensammlung und ohne die Möglichkeit, die in ihr vorkommenden, praktisch oder theoretisch wichtigen Fälle moulagieren zu lassen, ist nicht vollständig.»

Die erste Moulageuse der Klinik war die Deutsche Luise Lotte Volger, welche die Kolbow’sche Technik nach Zürich brachte. Zu jener Zeit arbeitete auch Adolf Fleischmann als wissenschaftlicher Zeichner und Moulageur am Kantonsspital, der Jahre später zu einem Begründer der Op-Art werden sollte. In den folgenden Jahren wurde die Sammlung sukzessive erweitert. Die Ankunft der Farbfotografie in dermatologischen Hörsälen machte Moulagen den Platz streitig. Die dritte und letzte Zürcher Moulageuse Elsbeth Stoiber rettete in den siebziger Jahren die Moulagen vor der Einschmelzung. Seit 1993 gibt es nun das Museum an der Haldenbachstrasse, und Moulagen haben wieder einen wichtigen Platz im Hörsaal.

Moulagenmuseum, Haldenbachstrasse 14, 8091 Zürich, geöffnet Mi & Sa 13-17 Uhr. Sabina Carraro stellt auf Anfrage Moulagen und Duplikate her und führt Restaurationen durch. Infos auf: www.moulagenatelier.ch