Wein und Kultur: Die Merlot-Villa
Publikationen, Propaganda, Promotion auf allen Kanälen für 100 Jahre Tessiner Merlot - doch für ein Museum reicht es nicht. Wir haben es trotzdem schon mal besucht.
Ganz egal, was der ungewöhnliche diesjährige Sommer mit seinem heissen Juli und kalten August den Reben angetan hat, egal auch, ob der schöne Herbst noch ein paar Öchslegrade gebracht hat: Heuer wuchs im Tessin auf jeden Fall ein Jahrhundertjahrgang des Merlot heran - ganz einfach deshalb, weil sich die Weinbauern des Kantons dazu entschlossen haben, in diesem Jahr «100 Jahre Merlot» zu feiern. Tatsächlich gibt es diese Traube im Tessin seit erst etwa einem Jahrhundert, einer im Vergleich zur jahrtausendealten Weinkultur und zur langen Geschichte des Tessiner Weinbaus nur kurzen Zeit.
Die Schweiz auf einen Blick
Die Villa Orizzonte steht am oberen Rand des engen Dorfkerns von Castelrotto, genau über jener Kurve, die das Postauto nur mit Vor- und Rückwärtsmanövern schafft. Der klassizistische Grossbau ragt breit und vier Geschosse hoch, er war wohl für lange Zeit das grösste und imposanteste Bauwerk des Ortes im unteren Malcantone - eine Rolle, die heute ein grässlich modernes Bezirksspital und Altersheim einnimmt. Das Gebäude liegt in einer etwa 5600 Quadratmeter grossen Grünanlage, die sich über einen Hügel erstreckt und von verschiedenen Seiten zugänglich ist. Alte Treppen und Wege führen über den terrassierten Park und an lauschigen Ecken und einem in den Hang gebauten Schuppen mit Wintergarten vorbei hinauf zum Rebberg, auf dessen oberstem Punkt ein Belvedere eingerichtet ist.
Von hier aus blickt man nicht nur über die Dächer auf die Kirche des Ortes, hier zeigt sich auch, dass die Villa den Namen «Orizzonte» zu Recht trägt: Hoch über dem Tal der vom Luganersee in den Langensee fliessenden Tresa gelegen, geht der Blick im Süden auf die Hügel der lombardischen Provinz Varese. Der Horizont reicht von Ponte Tresa im Osten, wo der langsame Fluss den Luganersee verlässt, bis nach Luino im Westen, wo er in den Lago Maggiore mündet. Hinter dessen Wasserspiegel, dem tiefsten Punkt der Schweiz, steht majestätisch der Monte Rosa, in dessen Massiv mit der Dufourspitze der höchste Punkt der Schweiz liegt - wir sehen sozusagen die ganze Schweiz auf einen Blick.
Die altmodische, ein wenig heruntergekommene Parkanlage mit altem Pflanzenbestand - die Kamelien wurden hier zu Bäumen, und der Liguster ist so hoch wie das Haus! - und die netten Sitzplätze hier und dort wecken die Neugierde auf das Innere der Villa. Die Türe des Hintereingangs im ersten Stock ist nur angelehnt und führt in ein Entree mit alten Sofas - nein, recht eigentlich in eine andere Zeit: dunkle Stofftapeten, schwere Vorhänge, Kommoden voller Nippes, Tischchen mit Spitzendecken. Die Türe rechts führt in die Küche und damit vollends in die Vergangenheit: ein Riesenraum, mit einem riesigen Holztisch in der Mitte und einem ebenso riesigen, fast wandbreiten offenen Kamin, beidseitig mit hölzernen Sitzbänken versehen wie oft in alten Häusern der Gegend. An den Wänden hängen Kupferpfannen, und gegenüber dem Kamin steht kein Spültrog, sondern ein veritabler Schüttstein mit uralten Wasserhahnen. Sind wir in einem Museum? Doch hier gibts auch einen kleinen Kühlschrank, eine Geschirrspülmaschine und einen Gaskochherd, da scheint doch jemand zu wohnen. Schnell raus, bevor wir erwischt werden!
Zu spät, schon hat uns der Hausherr entdeckt: Fabio Guindani begrüsst uns freundlich und führt uns durchs Haus, in dem die Zeit stehen geblieben ist. Auf der Talseite des Gebäudes befinden sich im ersten Stock die Salons, in der Mitte ein grosses Esszimmer, links davon der Salon für die Damen des Hauses, auf der andern Seite der Rauchsalon für die Herren. Jedes kleinste Detail von Ausbau, Möblierung und Einrichtung stammt aus der Zeit des letzten grösseren Umbaus Anfang des 20. Jahrhunderts: Die gemusterten Stofftapeten kamen aus Kanada, die seien damals Mode gewesen, der Linoleumbelag am Boden hingegen sei «einer der ersten aus Tessiner Produktion der 1905 gegründeten Linolfabrik Giubiasco», erklärt unser Führer und weist auch auf die kleinen Ölöfen hin: Neben alten Kaminen dienen in einigen Räumen auch solche «Franklins» aus Kacheln zum Heizen. Sie wurden nach ihrem Erfinder, dem US-amerikanischen Politiker, benannt und galten als besonders sparsam und effizient.
Bürgerlicher Horror Vacui
Die Möblierung und die überreiche Dekoration zeugen vom eklektischen bürgerlichen Geschmack des 19. Jahrhunderts. Vitrinen sind voller Erinnerungsstücke aus der Familiengeschichte, das Buffet zeigt Silber- und Zinnteller, und der Kaminsims trägt schwer an Vasen. An den Wänden hängen die beliebten Stillleben jener Zeit - so lassen sich Bilder wie zum Beispiel jene des hiesigen Künstlers Gioachimo Galbusera für einmal sozusagen im originalen Setting anstatt in der Museumssammlung bewundern. Hinzu kommen Porträts von Familienmitgliedern sowie Radierungen mit Landschafts- und Stadtansichten, und alles zusammen versucht den bereits reichen Mustern der Tapete die Schau zu stehlen. Im Damensalon liegen Illustrierte vom Anfang des 20. Jahrhunderts aufgeschlagen auf dem Tisch neben Häkelstücken, an denen hier gearbeitet wurde. Ein gestickter Wandteppich mit romantischen Motiven über dem Louis-Philippe-Sofa darf nicht fehlen. Drüben bei den Männern stehen ein Samowar und ein arabisches Kaffeepfännchen bereit, die Wände zieren Fotografien von der Umgebung und von Familienmitgliedern, hat doch einer der Hausherren schon früh und sehr gekonnt mit den neusten Kameras hantiert. «Wurden Paläste des Adels erst im Laufe der Zeit zu Museen umfunktioniert, waren Bürgerhäuser von allem Anfang an Museen», sagt Fabio Guindani mit einem schalkhaften Lächeln in den Mundwinkeln wie zur Entschuldigung für die vollgestopften Räume.
Dabei haben wir erst einen kleinen Teil gesehen, im zweiten Stock gehts weiter: Was früher als offene Loggia zum Trocknen von Tabak und Mais gedient haben mag, wurde vor hundert Jahren mittels grosser Metallfenster mit Jugendstildekor geschlossen. Der so entstandene helle Raum bietet als Aussicht den ganzen «Orizzonte» der Villa und ist dank seiner Südexposition ein ideal besonnter Wintersalon. Möbliert ist er mit einigen einzigartigen Jugendstil- und Libertystücken und mit Bambusstühlen und -tischen aus jener Zeit. Auf dem gleichen Stock befindet sich die Bibliothek, deren vier Wände mit wissenschaftlichen Büchern und Romanen gefüllt sind - Fabio Guindani weist auf eine Gesamtausgabe der Romane von Emile Zola hin, dessen Realismus den Herrschaften offenbar besonders gefallen hat. Die drei Schlafzimmer sind vollgestellt mit hohen Betten samt schwerem Leinen und dicken Duvets und mit Kommoden, auf denen Waschbecken an Zeiten ohne Badezimmer erinnern. Immerhin sind hier die Wände nicht mit Dekors überfüllt und erlauben so hoffentlich einen Schlaf ohne allzu schlimme Albträume. Aber schläft und träumt hier noch jemand? Die Betten sehen unberührt aus, doch das iBook auf dem Sekretär im Arbeitszimmer sieht kaum hundertjährig aus, und im Badezimmer mit gusseiserner Badewanne und einem holzbetriebenen Warmwasserboiler stehen einige Cremetuben ebenfalls neueren Datums.
Wohnhaus oder Museum?
Ist dies nun ein Museum oder ein Wohnhaus? Die Antwort ist ein klares und in Fabio Guindani perfekt personifiziertes Ja. Er und seine Ehefrau Silvana leben zeitweise in diesen Kulissen und halten den strengen Blicken der Vorfahren von den Wänden stand, wohl wissend, dass Nonna nicht mehr im Salon sitzt und stickt. Gleichzeitig möchten sie zusammen mit den andern Erben der Villa und mithilfe des Vereins Villa Orizzonte erreichen, dass das Haus mit öffentlicher Unterstützung zu einem Museum wird. Dazu ist die Villa dank ihres guten baulichen Zustands, vor allem aber auch dank des praktisch unveränderten und unversehrten Mobiliars wie geschaffen.
Viel wichtiger als all dies ist im Jahr des Tessiner Merlotjubiläums aber die Tatsache, dass die Villa Orizzonte eine der Wiegen des Merlot im Tessin ist. In diesem Haus wurde im Jahr 1861 Giovanni Rossi geboren, der als einer der «Väter des Merlot» im Tessin gilt. Nach einem Medizinstudium in Genf kehrte er nach Castelrotto zurück, wurde aber nicht Arzt, sondern ein leidenschaftlicher Weinbauer und Weltverbesserer - oder Reformator, wie man sie damals nannte.
Zum Familienbesitz gehörten im 19. Jahrhundert nicht nur die Weinstöcke auf dem Hügel hinter der Villa, sondern Rebberge von mehreren Hektaren in und um Castelrotto. Doch der Weinbau im gesamten Kanton Tessin lag in jener Zeit schwer im Argen: Wurden im Jahr 1871 noch 52 000 Hektoliter Wein geerntet, waren es zwanzig Jahre später nur noch 17 000 Hektoliter. Ein privates, vom kantonalen Bauernverband in Auftrag gegebenes Gutachten sah den Grund dafür in zu vielen verschiedenen und minderwertigen Rebsorten, die nicht immer auf geeignetem Boden angebaut wurden, sowie in verschiedenen Parasiten. Als sich zu diesen im Jahr 1897 noch die Reblaus als «Jahrhundertplage» für den Weinbau gesellte, drängten sich Massnahmen auch von staatlicher Seite auf. Dazu gehörte vor allem die Suche nach resistenten und für die Tessiner Böden besser geeigneten Rebsorten.
Überlegene Qualität
So wurden im Tessin von verschiedenen Seiten vergleichende Versuche mit diversen, vor allem aus Frankreich importierten Rebsorten gemacht. Die kantonale Baumschule von Mendrisio bestellte bereits im Jahr 1900 aus Frankreich 6400 Merlotstöcke und verbreitete sie ab 1907 im ganzen Kanton, nachdem der Agronom und Pharmazeut Alderige Fantuzzi, ein anderer «Vater des Merlot», feststellen konnte, dass sich dieser besonders für den Anbau im Tessin eignet dank seiner guten Resistenz gegen Krankheiten und gegen Fäulnis auch «in regnerischen Herbsten» (vergessen wir nicht: Die Sonnenstube Tessin hat nicht nur die längste jährliche Sonnenscheindauer, sondern auch die grösste jährliche Niederschlagsmenge der Schweiz ...) und wegen der «wirklich überlegenen Qualität des Weines».
Giovanni Rossi kam in seinem experimentellen Rebberg Vallombrosa unterhalb von Castelrotto zum gleichen Schluss. Auch er importierte bereits im Jahr 1905 Merlotstöcke aus Frankreich. Doch ihm ging es nicht nur um den Merlot - er forderte eine generelle Weiterentwicklung der Landwirtschaft im Tessin: Wie die Industrie, die Wissenschaft und die Künste dürfe sie nicht stagnieren, sondern müsse sich ständig erneuern.
«Weh jenen, die dem Spruch ‹so haben es unsere Väter schon immer gemacht› folgen: Sie werden immer unter den Folgen solchen Tuns leiden», warnte Dottore Rossi die Landwirte an einer Kreiszusammenkunft in Ponte Tresa im September 1902. In Artikeln und Schriften - auch in seinem berühmtesten Werk von 1908 über die «Erneuerung der Weinberge» - fordert er neue Anbaumethoden, die Einführung neuer Rebsorten und die Spezialisierung auf den Rebbau anstelle der herkömmlichen Mischkultur. 1909 wurde Rossi als liberaler Staatsrat Vorsteher des kantonalen Departements für Landwirtschaft und Gesundheitswesen und konnte in dieser Funktion seine Ziele bis zu seinem Tod im Jahr 1926 weiterverfolgen.
Agriturismo und Landart
Heute, rund - oder nach dem Willen der Jubiläumspropagandisten genau - hundert Jahre nach seiner Einführung im Tessin, blickt der Merlot auf eine wechselvolle Geschichte zurück - wie auch die Villa Orizzonte: Zwar hatte Giovanni Rossis Strategie insofern Erfolg, dass heute über achtzig Prozent der Rebberge mit Merlot bepflanzt sind. Rossis eigene Rebberge in Castelrotto gehören jedoch längst nicht mehr zum Familienbesitz, sondern der Tessiner Grossproduzentin Giovanni Lucchini SA. Diese bewirtschaftet sie nach allen Regeln der Marketingkunst mit Agriturismo, Olivenhain und Landart-Spektakeln. Die Vallombrosa-Weine produziert und verkauft die Firma in Zusammenarbeit mit dem Weinunternehmen Tamburini. Einzig im Rebhügel hinter der Villa ist noch ein Überzeugungstäter à la Rossi am Werk. Der Bodenkundler und inzwischen selbstkelternde Weinbauer Christian Zündel, einer von mehreren jungen auswärtigen Hobbywinzern, die in den achtziger und neunziger Jahren dem Tessiner Merlot zu neuen Höhenflügen verhalfen, lässt hier seinen hochgelobten «Orizzonte» aus Merlot und wenig Cabernet-Sauvignon «entstehen» (denn «produzieren» soll und kann man seiner Ansicht nach einen Wein nicht).
Die Villa Orizzonte konnte sich auch im hoch gesponserten Merlot-Jubiläumsjahr die Finanzierung eines richtigen Museumsbetriebs nicht sichern. Dabei wurde im vergangenen Sommer die «Via della vite», eine Art Lehrpfad durch das Weinkulturgebiet des unteren Malcantone, feierlich eröffnet. Der Weinwanderweg führt von Monteggio über Sessa bis nach Bioggio im Vedeggiotal, und an dieser Strecke wäre die Villa Orizzonte in Castelrotto das wohl interessanteste Besuchsobjekt. Doch das Kulturerbe des Kantons Tessin ist zu gross, zu viele romanische Kirchen von Bedeutung müssen unterhalten werden, zu viele Kunstsammlungen brauchen öffentliche Gelder. So bleibt der grösste Teil der Geburtsstätte von Giovanni Rossi und des Merlot für die Öffentlichkeit vorderhand verschlossen. Einzig der unterste Stock, wegen der Hanglage praktisch ein Kellergeschoss, ist gelegentlich und anlässlich von Sonderausstellungen zugänglich und erinnert mit einigen Exponaten an die Einführung des Merlot und an die Geschichte der Besitzerfamilie.
Wer immer aber den Weinwanderweg unter die Füsse nimmt, sollte auf den Rebhügel der Villa Orizzonte steigen, die Aussicht geniessen - und prüfen, ob nicht vielleicht die Eingangstüre zur Villa nur angelehnt ist und eine Zeitreise zulässt.
www.villaorizzonte.ch / www.laviadellavite.ch / www.merlot06.ch