Baskenland: Revival des Strassenkampfs
Der Waffenstillstand der Eta im März hat den Friedensprozess bisher nicht weitergebracht. Nun ist er von gleich drei Seiten gefährdet.
Derzeit steht es gar nicht gut um den baskischen Friedensprozess, der im März mit dem Waffenstillstand der baskischen Untergrundorganisation Eta begann. In der Region im Norden Spaniens fliegen wieder Molotowcocktails gegen die Fassaden von Parteibüros, die spanische Rechte demonstriert lautstark auf Madrids Strassen gegen den Frieden, Eta besorgt sich in Frankreich 350 Pistolen, und ein hungerstreikender Gefangener liegt inzwischen im Krankenhaus.
«Kapitulation - nicht in meinem Namen!» Vergangenen Samstag marschierten wieder über hunderttausend Menschen durch die Strassen von Madrid und skandierten gegen die Regierung des spanischen Ministerpräsidenten José Luis Rodríguez Zapatero und vor allem gegen Verhandlungen oder gar Gespräche mit der Eta. Unter dem Motto «Spanien ergibt sich nicht» demonstrierte die von der rechtskonservativen Volkspartei PP ins Leben gerufene Vereinigung der Terrorismusopfer AVT zum vierten Mal innerhalb von zwei Jahren gegen den baskischen Friedensprozess.
Währenddessen kämpfte ganz in der Nähe das inhaftierte Eta-Mitglied Iñaki de Juana Chaos mit einem Hungerstreik gegen das Gefängnisregime der Regierung. Seit vier Wochen verweigert der Gefangene die Nahrungsaufnahme - und das zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate. Sein erster Hungerstreik dauerte 63 Tage, von Anfang August bis Anfang Oktober. Am Samstag wurde er nun in ein Madrider Krankenhaus eingeliefert.
Haftverlängerung
De Juana Chaos, dem 25 Morde zur Last gelegt werden, protestiert, weil er eigentlich seit dem 24. Oktober 2004 frei sein müsste. An diesem Tag - nach achtzehn Jahren Haft - hätte er laut spanischer Strafgesetzgebung aus dem Gefängnis entlassen werden müssen - und das, obwohl er 1986 zu 3000 Jahren Haft verurteilt wurde. Das absurde Urteil bedeutet effektiv Höchststrafe, zur Zeit der Urteilsverkündung waren das in Spanien dreissig Jahre Gefängnis. Auf dieser Basis werden Strafverkürzungen wegen guter Führung, Arbeit, Studium und so weiter angerechnet.
Drei Tage bevor de Juana Chaos freigekommen wäre, erliess der konservative Richter Javier Gómez Bermúdez vom Nationalen Gerichtshof jedoch eine Verfügung, die die vorzeitige Haftentlassung verhinderte. Die richterliche Entscheidung war juristisch zwar nicht zu rechtfertigen, de Juana Chaos blieb jedoch im Gefängnis, was dem Richter Zeit gab, einen Grund für seine weitere Inhaftierung zu finden. Und den lieferte ihm der Häftling unwissentlich selbst. Im Dezember 2004 veröffentlichte de Juana Chaos zwei Beiträge in der baskischen Tageszeitung «Gara», worauf Gómez Bermúdez erneut den Häftling wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Gruppe und «terroristischer Bedrohungen» anklagte.
Anderthalb Jahre später, am 14. Juni dieses Jahres, wies Richter Santiago Pedraz (ebenfalls vom Nationalen Gerichtshof) die Klage zurück mit der Begründung, de Juana Chaos unterstütze in seinen Artikeln zwar die MLNV, die Baskische Bewegung der nationalen Befreiung, diese könne juristisch jedoch nicht mit der Eta gleichgesetzt werden.
In der Zwischenzeit hatte aber der Friedensprozess begonnen, und die spanische Rechte, allen voran die Volkspartei PP, verlangte von den regierenden SozialdemokratInnen der PSOE die Zusicherung, dass keinerlei Zugeständnisse an die Eta gemacht werden und dass Terroristen vom Schlage de Juana Chaos’ ihre Haftstrafe voll und ganz absitzen müssen.
Zwar wurden auch unter der rechtskonservativen Regierung der PP (1996- 2004) immer wieder Eta-Mitglieder aufgrund guter Führung vorzeitig aus der Haft entlassen (vor allem während der Verhandlungen mit der Eta im Jahr 1998), dennoch griffen nun selbst Mitglieder der sozialdemokratischen Regierung das Urteil von Richter Santiago Pedraz an. Justizminister Juan Fernando López Aguilar wollte «neue Anschuldigungen» finden, um zu verhindern, dass «inhaftierte Eta-Mitglieder vorzeitig auf freien Fuss gesetzt werden», und Generalstaatsanwalt Cándido Conde-Pumpido versicherte, «alles legal Mögliche zu tun, um Freilassungen zu unterbinden». Conde-Pumpido legte Berufung gegen den Richterspruch ein, und ein neues Verfahren gegen de Juana Chaos endete vor über drei Wochen damit, dass der Häftling zu weiteren zwölf Jahren und sieben Monaten Gefängnis verurteilt wurde. De Juana Chaos hat dieses Urteil erwartet und begann seinen Hungerstreik zwei Tage vor der Urteilsverkündung.
Der Fall de Juana Chaos ist wegen dessen blutiger Laufbahn und der zwei Hungerstreiks medienträchtig. Aber er ist nicht das einzige Eta-Mitglied, dessen Strafe kurz vor der Haftentlassung erhöht wurde. Laut Behatokia, dem Dachverband baskischer Menschenrechtsorganisationen, sind derzeit elf weitere Eta-Mitglieder in Haft, die kurz vor ihrer Freilassung erneut verurteilt wurden, und zwar alle so, dass sie insgesamt dreissig Jahre absitzen müssen.
Dabei haben sie noch Glück. Im Jahr 2003 reformierte die damals regierende PP das spanische Strafgesetz, und seither kommen verurteilte Terroristen, denen mehr als zwei Straftaten vorgeworfen werden, nicht mehr maximal dreissig, sondern vierzig Jahre hinter Gitter. Diese Reform war exklusiv auf Eta-Mitglieder zugeschnitten - islamistischen Terrorismus kannte man damals in Spanien noch nicht, die Anschläge in Madrid fanden ein Jahr nach der Gesetzesänderung statt.
Auf den Richterspruch gegen de Juana Chaos wurde im Baskenland mit Ausschreitungen reagiert. Seit Anfang November erlebt der «Kale Borroka», der Strassenkampf der neunziger Jahre, ein Revival: Nach mehreren Jahren Ruhe werden nun wieder Staatsgebäude, Parteibüros (vor allem der PSOE) und Bankfilialen mit Molotowcocktails attackiert.
Ornaldo Otegi, Vorsitzender der seit 2002 verbotenen Partei Batasuna (die weithin als politischer Arm von Eta angesehen wird), warf der spanischen Regierung vor, den Friedensprozess zu torpedieren: «Es gibt Grund zur Beunruhigung, deswegen ist jetzt ein ‹politischer Kalender› nötig, der auf lange Frist eingehalten wird», sagte er. In einem Interview mit dem baskischen TV-Sender EITB nannte er zwei Optionen: Entweder fliegt allen Beteiligten der Friedensprozess um die Ohren, oder sie setzen sich an einen Tisch, um eine Lösung für das nunmehr fast fünfzig Jahre andauernde Problem zu finden.
Frieden braucht Kompromisse
Dass sich die Eta Ende Oktober in Frankreich mit 350 Pistolen bestückt hat und seit kurzem auch wieder Erpresserbriefe an Firmen im Baskenland verschickt und «Revolutionssteuer» einfordert, hilft dabei nicht unbedingt weiter. Deswegen fordert Aralar - eine Partei, die im Jahr 2000 durch Abspaltung von Batasuna entstand und Gewalt ablehnt - von der SeparatistInnenorganisation wieder einmal die endgültige Aufgabe des bewaffneten Kampfs. Und von der spanischen Regierung fordert sie mehr Taten als Worte sowie eine Änderung der Strafpolitik.
Selbst Zapatero hat angedeutet, dass das Urteil gegen de Juana Chaos kontraproduktiv für den Friedensprozess sei. Allerdings hat der Ministerpräsident bereits im Frühjahr gesagt, dass ein dauerhafter Frieden viele Kompromisse fordere und nicht von heute auf morgen erreicht werden könne. Dass er selbst - auch angesichts des Drucks der Konservativen - zu Kompromissen bereit ist, wird er nun beweisen müssen. Sollte de Juana Chaos seinen Protest nicht überleben, hat der ohnehin schon labile Friedensprozess keine grossen Chancen.