Justiz: «Jeder würde verdächtig»

Nr. 49 –

Kriminalität ist ein gesellschaftliches Konstrukt. Ein Sammelband zeigt auf, wie in der Schweiz Recht entstanden ist.

Die Menschen vergessen schnell und glauben, Recht sei eine neutrale Grösse, gleich einem Naturgesetz. Doch Recht hat mehr mit Mode gemein als mit Gerechtigkeit, wie der kürzlich erschienene Sammelband «Kriminalisieren - Entkriminalisieren - Normalisieren» anhand der Schweizer Justizgeschichte aufzeigt. Zum Beispiel die Fingerabdrücke im Pass. Die USA verlangen - als Folge der Anschläge in New York - biometrische Daten in den Pässen. Die Idee ist alt. Anfang des 20. Jahrhunderts verfolgte die Schweiz dieselbe Idee, damals allerdings ohne äusseren Druck.

Seit dem späten 19. Jahrhundert verwendet man Fingerabdrücke in der Kriminalistik und nutzte sie zur Identifizierung von rückfälligen StraftäterInnen. Der Fingerabdruck hatte von Anfang an eine repressive Seite. Man wendete ihn nicht nur bei DelinquentInnen an; auch unbescholtene Menschen wurden daktyloskopisch erfasst, wenn sie als «Vaganten, Vagabunden oder Zigeuner» galten - alle Unangepasste, die man möglichst fernhalten wollte.

Pässe als Provisorium

Zu Beginn des Ersten Weltkrieges erklärten alle europäischen Staaten Pässe für obligatorisch, um die Mobilität von In- und AusländerInnen besser kontrollieren zu können. Ursprünglich ging man davon aus, diese Regelung würde nach dem Krieg wieder aufgehoben, doch die Pässe blieben - und schafften Raum für ganz neue Überlegungen: Galten die Fingerabdrücke ursprünglich als Mittel, um unerwünschte Personen in den Griff zu bekommen, so war es mit dem Pass möglich, die Zutrittsberechtigung festzulegen. Wer einen Pass hat, darf rein, die andern bleiben draussen. Dafür musste man jedoch die Berechtigten einwandfrei identifizieren können, und das hätte der Bund Anfang der zwanziger Jahre gerne mit Fingerabdrücken im Pass getan, was damals noch kein europäischer Staat tat. Vor allem die Schweizer Auslandvertretungen meldeten jedoch Bedenken an: «Gegen Fingerabdrücke herrscht ein derartiges Vorurteil, dass man im Allgemeinen den Inhaber eines Passes mit Fingerabdruck wenn nicht für einen Verbrecher, so doch sicherlich für ein verdächtiges Individuum halten würde», schrieb das Generalkonsulat in Budapest auf eine Vernehmlassung des Bundes. Man fand die Technik zwar toll, fürchtete aber den kriminalisierenden Effekt. Die Schweizer Behörden begruben das Projekt 1926.

Das Geschäft mit der Einbürgerung

Wie relativ und wandelbar Recht ist, lässt sich an der Einbürgerung veranschaulichen: Einbürgerungen waren stets Sache der Gemeinden. Im 19. Jahrhundert pflegten verschiedene Gemeinden daraus Kapital zu schlagen. 1870 klagte der Bundesrat, «dass Agenten (dieser Gemeinden) ihr Bürgerrecht in Deutschland wie einen Handelsartikel anboten, dass geldgierige Gemeinden dasselbe wirklich massenhaft an Personen verschacherten, die sie in ihrem Leben nie gesehen hatten». Militärpflichtige Deutsche und Franzosen hatten sich durch den Kauf eines schweizerischen Gemeindebürgerrechts in ihren Heimatländern dem Militärdienst zu entziehen versucht, «was ausländische Regierungen zu scharfen Protestnoten an den schweizerischen Bundesrat veranlasst hatte», wie Regula Argast in ihrem Beitrag «Kontrolle, Integration, Abwehr: Das Schweizer Bürgerrecht als Sicherheitsdispositiv» darlegt. Das führte dazu, dass sich seit 1876 nur einbürgern lassen kann, wer bereits einige Jahre in der Schweiz gelebt hat, und zudem jede Einbürgerung vom Bund bewilligt werden muss.

Um 1900 fürchtet man, der Schweiz könnten die Arbeitskräfte ausgehen, weil die einheimische Bevölkerung eine «Abneigung gegen gewisse Arbeiten», insbesondere bei der «Industrie der Steine und Erde», hegte, wie damals ein sozialdemokratischer Politiker festhielt. Dieses Problem zu lösen, griff der Bund zu einem sehr progressiven Mittel: Er erteilte den Kantonen die Befugnis, ein kantonales ius solis einzuführen. Konkret war damit die automatische Einbürgerung ausländischer Kinder gemeint, wenn deren Mutter Schweizerin war oder die Eltern zum Zeitpunkt der Geburt während fünf Jahren ununterbrochen im Kanton gewohnt hatten. Die erhoffte Wirkung blieb jedoch aus: «Kein Kanton machte davon Gebrauch, nicht einmal Zürich, Basel-Stadt oder Genf, die sich für die erleichterte Einbürgerung eingesetzt hatten», konstatiert Argast.

Kriminalität als Konstrukt

Heute ist die Justiz immer wieder pauschal mit dem Vorwurf konfrontiert, zu täterfreundlich zu sein. Gesetzesverschärfungen jagen sich und keiner weiss mehr, was noch vor einigen Jahrzehnten war. Der Sammelband «Kriminalisieren - Entkriminalisieren - Normalisieren» bietet den historischen Rahmen für die aktuellen, hitzigen Debatten und zeigt gerade am Beispiel der Verwahrung, wie die Psychiatrie im letzten Jahrhundert sukzessive die Rolle der Justiz übernahm. Wie Unschuldige jahrelang versorgt wurden, nur weil sie schwierige Menschen waren. Und wie Jenische systematisch verwahrt wurden, nur weil sie Jenische waren. Es ist nicht lange her, doch fast vergessen. Dagegen schreibt das Buch an: Kriminalität ist ein gesellschaftliches Konstrukt - das Recht ist deshalb nie dagegen gefeit, im Namen der Sicherheit grosse Ungerechtigkeiten zu begehen.

Claudia Opitz, Brigitte Studer und Jakob Tanner (Hrsg.): Kriminalisieren - Entkriminalisieren - Normalisieren. Chronos Verlag. Zürich 2006. 385 Seiten. 58 Franken