Durch den Monat mit Hans Ruh (Teil 1): Blocher als Vorbild?

Nr. 1 –

Hans Ruh: «Solange es in Indien kein Mittagsmahl gibt, gibt es in Bern kein Abendmahl.»

WOZ: Herr Ruh, Sie sind Buchautor, waren Ethikprofessor an der Universität Zürich und halfen mit, die Erklärung von Bern ins Leben zu rufen.
Hans Ruh: Ja, ich war ein Gründungsmitglied.

Heute ist die Erklärung von Bern (EvB) eine etablierte Entwicklungsorganisation, die nicht in Bern, sondern in Zürich sitzt. Wie war das denn mit dieser Erklärung?
Es gab Ende der sechziger Jahre in Bern eine Pressekonferenz, an der diese Erklärung verlesen wurde. Soweit ich mich erinnere, hatten drei renommierte Theologen – André Biéler, Lukas Vischer und Max Geiger – die Erklärung initiiert.

Und was stand da drin?
Alle Unterzeichner der Erklärung verpflichteten sich, drei Prozent ihres Einkommens der Entwicklungshilfe zur Verfügung zu stellen. Es ging uns vor allem darum, das Verhältnis der Schweiz zur Dritten Welt zu thematisieren – mit Reflexion, Information, aber auch mit persönlichem Engagement. Ziel der Erklärung war es letztlich, auch den Bund dazu zu bringen, 0,7 Prozent des Bruttoinlandproduktes für die Entwicklungshilfe bereitzustellen. Das war damals eine internationale Vorgabe, an die sich aber kaum ein Staat hielt. Unsere Pressekonferenz in Bern wurde vom damaligen SP-Bundesrat Willy Spühler geleitet. Man muss sich das mal vorstellen …

Heute werden die Lohnprozente nicht mehr bezahlt, oder?
Später ist man auf ein Prozent heruntergegangen. Die EvB wurde dann zu einem Verein, man zahlt heute, glaube ich, einfach Mitgliederbeiträge. Die EvB macht immer noch ausgezeichnete Arbeit, aber bin nicht mehr dabei – man kann ja nicht überall mitmachen. Die sechziger, siebziger Jahre waren eine unglaubliche Zeit, die Kirchen konnten damals die Themenführerschaft übernehmen.

Zum Beispiel?
Sie brachten alle wichtigen Themen auf: wie eben die Entwicklungshilfe, den Waffenexport, die Geschäfte der Banken mit der Dritten Welt oder das Bodenrecht.

Sie meinen unser Bodenrecht?
Ja. Den Artikel 4 des Raumplanungsgesetzes zum Beispiel habe ich geschrieben.

Was steht da drin?
Darin ist das Mitspracherecht der Bevölkerung verankert. Ich habe den Artikel über einen befreundeten Nationalrat im Parlament einbringen lassen, und er kam durch. Damals konnten wir wirklich viel bewegen, die Leute verblüffen und verärgern. Die Gesellschaft war bereit, sich darauf einzulassen. Auch wenn viele über uns geflucht haben: Die kirchlichen Kreise wurden ernst genommen und konnten Agendasetting machen.

Sie haben in Bern Predigtverbot. Wie haben Sie das fertig gebracht?
Ich war Ende der sechziger Jahre als Gastprediger im Berner Münster eingeladen. In meiner Predigt sagte ich: «Solange es in Indien kein Mittagsmahl gibt, gibt es in Bern kein Abendmahl.» Siebzehn Bernburger sind aufgestanden und haben die Kirche unter Protest verlassen. Danach verhängten die dortigen Kirchenverantwortlichen das Predigtverbot. Es gilt bis heute, vermutlich hat man es einfach vergessen (lacht).

Warum haben Sie überhaupt Theologie studiert?
Das hat mit zwei markanten Theologen zu tun: Christoph Blochers Vater und Karl Barth, bei dem ich später studiert habe. Zudem stamme ich aus einer pietistisch orientierten Familie.

Bundesrat Blochers Vater?
Ja, Wolfram Blocher war mein Lateinlehrer, ein eindrücklicher Theologe. Er warf Fragen auf, von denen ich – als Sechzehnnjähriger – wusste, dass sie mich ein Leben lang nicht mehr loslassen würden. Fragen wie: Was ist ein Mensch? Was hat es mit der Schöpfung auf sich?

Wolfram Blocher gilt nicht gerade als aufgeschlossen.
Er war konservativ, streng, aber ein äusserst sensibler Theologe und Mensch … hochintelligent.

Jetzt müssen Sie noch sagen, was dieser Pietismus meint, in dem Sie aufgewachsen sind.
Es herrschte ein tiefer Glaube, eine tiefe Religiosität, eine fundamentalistische Haltung, eine starke Jesusbezogenheit, mit Sünden- und Rettungserfahrungen. Ah ja, da war noch Tante Klärli. Sie hat von mir verlangt, dass ich die Bibel zweimal ganz durchlese. Das habe ich tatsächlich getan, als ich acht oder neun Jahre alt war, das Alte und das Neue Testament. Das geht nicht spurlos an einem vorbei (lacht).

Vor kurzem haben Sie ein Buch veröffentlicht, in dem Sie sich damit beschäftigen, wie eine gerechte Welt aussehen müsste. Es geht um Wirtschaft, Umweltprobleme, Landwirtschaft et cetera. Das Buch trägt den Titel «Die Zukunft ist ethisch – oder gar nicht». Glauben Sie, dass sich noch jemand für ethische Debatten interessiert?
Sicher. Es geht um Grundsätzliches: Der Ökonom Wilhelm Röpke hat einmal festgestellt: Damit die Wirtschaft funktionieren kann, braucht es nicht nur den Markt – es braucht auch Werte wie Solidarität, Anstand, Zuverlässigkeit und so weiter. Der heutige Markt verbraucht diese Werte. Sind sie einmal ganz aufgebraucht, kann die Wirtschaft gar nicht mehr funktionieren. Deshalb sind die ethischen Fragen nicht nur etwas für Gutmenschen.

Hans Ruh (73) war bis 1998 Professor für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Sozialethik an der Universität Zürich. 2006 hat er zusammen mit Thomas Gröbly das Buch «Die Zukunft ist ethisch – oder gar nicht. Wege zu einer gelingenden Gesellschaft» publiziert.