Niederlande: Aussterbendes Virus

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Der Meeresspiegel steigt, die Flüsse drohen überzulaufen, doch was wirklich wehtut: Das berühmte Schlittschuhrennen Elfstedentocht fällt Jahr um Jahr ins Wasser.

Der drahtige ältere Mann in einer Ecke des Amsterdamer Oosterparks wirkt deplatziert: Etwas abseits von sonnenbebrillten Spaziergängerinnen und Joggern in kurzen Hosen, die an diesem warmen Novembermorgen ihre Runden drehen, federt er in der Hocke gleichmässig von einem Bein aufs andere. Seine langen Gleitbewegungen deuten die nahende Schlittschuhsaison an.

Doch vier Monate später ist das Eis noch immer fiktiv. Stattdessen sind längst die Osterglocken aufgegangen, und die Schlittschuhhändler erleiden mitten in der winterlichen Hochsaison gigantische Einbussen. Beinahe schon standardgemäss endet der Wetterbericht mit den Worten: «Es bleibt vorläufig viel zu warm.»

Im niederländischen Friesland verfolgt man während des Winters die Temperaturen mit besonderer Spannung. Doch es sind nicht die Prognosen über kommende Klimakatastrophen, die den BewohnerInnen von Küste und Hinterland Sorgen machen. Es geht vielmehr um das Ereignis, das die abgelegene Region im Norden alle Jubeljahre zum Mittelpunkt der Niederlande macht: die Elfstedentocht, die Elf-Städte-Tour. 1997 wurde der 200 Kilometer lange Schlittschuhmarathon zum letzten Mal ausgetragen. Zwar gab es in der knapp hundertjährigen Geschichte schon längere Durststrecken, und das Spekulieren, ob es diesmal wohl etwas wird mit der «Tour der Touren», gehört in Friesland zu den lieb gewonnenen winterlichen Alltagsgesprächen.

2007 aber hat sich deren Ton verändert: Die warme, nasse Witterung als spürbare Vorbotin weitreichender Klimaveränderungen liess etwas Endgültiges zwischen Hoffen und Bangen Einzug halten. «Wird es jemals wieder eine Elfstedentocht geben?», fragte unlängst die Zeitung «Volkskrant». Trotzig hielten ihr die teilweise hoch betagten früheren GewinnerInnen entgegen, die nächste Tour rücke mit jedem frostfreien Jahr näher. Henk Angenent, der Sieger der letzten Veranstaltung im Jahr 1997, setzt geradezu auf die zunehmenden Kapriolen des Wetters. «Mal ist es extrem nass, mal extrem warm. Warum soll es nicht auch extrem kalt werden können?»

Auftauendes Engagement

Henk Kroes, Vorsitzender des organisierenden Vereins De Friesche Elf Steden, ist skeptisch. Für die Tour ist eine Eisdicke von mindestens fünfzehn Zentimetern nötig, die nur unter speziellen Bedingungen entstehen kann. Ein Wechselspiel von kurzen, heftigen Temperaturextremen ist dem nicht zuträglich. Was es braucht, ist «kontinuierlicher Frost». Der Blick auf die windgepeitschte Regenlandschaft gibt diesen Worten fast schon etwas Surreales. Es ist dieses Szenario, das Kroes beunruhigt, nicht das traurige Jubiläum von zehn Jahren ohne Elfstedentocht. «Zwischen 1963 und 1985 lagen sogar 22 Jahre Pause. Aber in dieser Zeit konnten wir oft Schlittschuh laufen, auch wenn das Eis nicht für eine Tour reichte. Nach 1997 dagegen gab es so gut wie kein Eis, das ist der grosse Unterschied.»

Für die Elfstedentocht, die bei entsprechenden Bedingungen innerhalb kürzester Zeit auf die Beine gestellt werden muss, liegt darin vor allem eine indirekte Gefahr: Die Tour lebt von der Beteiligung zahlreicher Freiwilliger. Nur mit enormer Begeisterung für die Sache kann der grosse organisatorische Aufwand geleistet werden. Bisher wurde das «Schlittschuhvirus», wie Kroes es nennt, über Jahrhunderte weitergegeben. Fehlendes Natureis taut jedoch auch das Engagement der Bevölkerung auf, vor allem bei denjenigen, die mit eislosen Wintern aufgewachsen sind. «Die Jugend lernt nicht mehr Schlittschuh laufen. Das ist die grösste Bedrohung.»

Mehr Regen

Beklemmende Szenarien von ganz anderer Tragweite entwerfen Klimafachleute für die Niederlande. Infolge der Eisschmelze an den Erdpolen steigt der Meeresspiegel, und es wird auch mehr regnen. Das nationale Meteorologische Institut KNMI rechnet bis 2050 mit sechs Prozent mehr Niederschlägen. Die Überbelastung der Flüsse ist dadurch programmiert. Potenzielle Risikozonen beschränken sich daher nicht allein auf die Küste: Auch die Gebiete entlang Rhein, Maas, Schelde und IJssel sind gefährdet. In jüngster Zeit gaben ExpertInnenkommissionen wiederholt zu bedenken, technische Massnahmen wie der Bau von immer höheren Deichen seien angesichts dieser Perspektiven nicht mehr ausreichend. Sie fordern die Anlegung von Überflutungsarealen, um dem Wasser Raum zu geben, bevor es ihn sich selbst holt. Mitte Januar erschien ein nationaler Klimareport zu den Entwicklungen der letzten beiden Jahre. Er unterstreicht die trüben Prognosen. Dennoch stelle der Winter der Rekordtemperaturen keinen Grund dar, die langfristigen Prognosen anzugleichen, sagt Meteorologe Harry Geurts vom KNMI.

Gerade dieser Langzeitcharakter der Prognosen jedoch steht einer breiten Wahrnehmung der Problematik in der holländischen Bevölkerung im Weg. So fehlt etwa der Bereich Klima auf der von Meinungsforschern ermittelten Liste der zehn dringendsten Probleme 2006. Und bei den Wahlen im Herbst räumten gerade zwei Prozent der WählerInnen der Umweltpolitik entscheidenden Einfluss auf ihr Votum ein. Die niederländische Tradition des Ringens mit dem Wasser, die gefühlte Identität einer Nation von Deichbauern, all dies fördert eine Mentalität abgeklärten Gleichmuts. Der Friese Henk Kroes bringt es auf den Punkt: «Wir haben erst am Wasser gewohnt, später haben wir kleine Deiche gebaut, dann immer stärkere und höhere. Wir werden weitermachen, bis es auf die Frage hinausläuft, ob das Ganze ökonomisch noch sinnvoll ist.»