Uhrenindustrie: In der Tradition des Schweigens

Nr. 25 –

Ist die Krise angekommen? Gibt es Entlassungen? Was sagen die Patrons? Die WOZ machte sich auf in den Neuenburger Jura, um Antworten zu suchen - eine seltsame Reise in die stille Welt der Zeiger und Zifferblätter.


Der Tag beginnt nicht gerade berauschend: «Die Uhrenindustrie ist wie die Nasa. Niemand wird mit Ihnen sprechen», sagt ein Gewerkschafter aus der Uhrenstadt La Chaux-de-Fonds übers Handy. Das sind keine guten Neuigkeiten, wenn man sich gerade auf der Fahrt in den Neuenburger Jura befindet, um vor Ort herauszufinden, wie stark die Krise die Uhrenindustrie schon erfasst hat.

Im Vorfeld, telefonisch, hat sich jedenfalls kein angefragter Luxusuhrenhersteller bereit erklärt, die WOZ zu empfangen und über die Krise und ihre Auswirkungen Auskunft zu geben. Erst viel später an diesem Tag wird uns jemand erklären, was es mit der Geheimnistuerei auf sich hat.

Vor Ort ist es nicht viel anders: Die zahlreichen hier angesiedelten kleinen und mittleren Zulieferbetriebe für Uhrenbestandteile sind offensichtlich nicht an medialer Öffentlichkeit interessiert. Bei einem Uhrengehäusehersteller, von dem die WOZ weiss, dass er in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckt, fragen wir, ob wir den Patron treffen könnten. Die Empfangsdame telefoniert, nickt in den Hörer und richtet knapp und deutlich aus: «Er lehnt ab.»

Weiterfahrt zu einem Unternehmen, das Uhrwerke dekoriert und bereits Angestellte entlassen musste. Hier winkt die Empfangsdame gleich ab, ohne den Patron überhaupt erst zu fragen. Im Neuenburger Jura machen Hunderte solcher Zulieferbetriebe den Grossteil der Uhrenindustrie aus. Sie beschäftigen etwa drei Viertel der rund 13 000 ArbeiterInnen. Die Uhrenbestandteile werden an Uhrenhersteller in Genf, am Lac de Joux, in Biel und an eine Handvoll in der Gegend ansässige Markenhersteller geliefert.

«Welche Krise?»

Wir versuchen unser Glück bei Tag-Heuer, einer der in La Chaux-de-Fonds ansässigen Marken. Sie gehört seit 1999 zur französischen LVMH-Gruppe, neben der Swatch Group und Richemont einer der drei grossen Spieler im Schweizer Uhrenmarkt. In der Lobby empfängt uns die PR-Managerin Mariam Sylla. Ob wir Uhrenjournalisten der «Weltwoche» seien, so die erste mit breitem Lächeln gestellte Frage.

«Ähm, nicht ganz, wir sind von der WOZ - die ist zwar auch aus Zürich, mit Luxusuhren beschäftigen wir uns in der Regel aber nicht so oft.»

Das Lächeln bleibt.

«Wir möchten wissen, wie stark Sie die Krise trifft.»

«Welche Krise?!», rufen Frau Sylla und Herr Schumacher, ein inzwischen herbeigerufener deutschsprachiger Angestellter im Chor. Dann macht das vertrauenswürdige Lächeln einem nervösen Lachen Platz.

Herr Schumacher nimmt uns mit auf einen Betriebsrundgang. Vieles läuft hier halb automatisch. Schmale, überdachte Fliessbänder bringen die Gehäuse von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz. Kein Stäubchen weit und breit. Mit ruhiger Hand setzt eine jüngere Frau Zeiger auf ein Zifferblatt. Ein Bildschirm zeigt in tausendfacher Vergrösserung, ob die Zeiger präzise waagerecht zu liegen kommen. Es muss schnell gehen, zack, zack, das Band rollt in Intervallen.

«Qualitätssicherung», sagt Herr Schumacher immer wieder und zeigt stolz eine neue Abteilung, wo Komponentenherstellung in- statt outgesourct wird. «Hier entstehen neue Arbeitsplätze - trotz Krise.» Zurzeit beschäftige Tag-Heuer in La Chaux-de-Fonds rund 300 ArbeiterInnen.

Wir haben nicht mehr viel Zeit. Bald ist Mittag. Die Marketingabteilung will er uns noch zeigen - und unbedingt die Qualitätssicherung. Das ist ein Labor mit allerhand abenteuerlichen Geräten zum Härtetest für zugekaufte Uhrenbestandteile. Hier wird ein Uhrengehäuse auf fünfzig Grad Celsius erwärmt - und dann sofort mit eiskaltem Wasser betropft - «Temperaturschocktest». Dort hat es eine Maschine, die stundenlang kleine weisse Baumwollfetzen über ein farbiges Uhrenband reibt - um herauszufinden, ob allenfalls weisse Hemden beim Tragen der Uhr verfärbt werden könnten. Die Botschaft ist klar: In diesem Haus steht Qualität an erster Stelle. Und das soll so auch in der Zeitung stehen.

Dann doch noch ein kurzes Gespräch zur Krise mit PR-Managerin Mariam Sylla. Sie sitzt auf einem Designersofa und übt sich in Optimismus: «Wir haben die Krise antizipiert, weswegen wir jetzt weniger leiden als die Konkurrenz. So mussten wir nur eine Handvoll Leute entlassen und stellen bereits wieder neue ein.»

Das erstaunt doch sehr. Wenige Tage zuvor hatte der Genfer Uhrenhersteller Franck Muller die Entlassung der Hälfte der Belegschaft - rund 200 Personen - bekannt gegeben. Die Uhrenexporte sind in den ersten vier Monaten des Jahres um ein Viertel eingebrochen. Im Marktsegment von Tag-Heuer, den Uhren mit Verkaufspreis zwischen 1500 und 9000 Franken, sogar um 35 Prozent.

«Können Sie uns Geschäftszahlen nennen, Frau Sylla?»

Nein, das könne sie natürlich nicht, sagt sie. «Nur so viel: In den USA läuft das Geschäft überhaupt nicht. Dafür siehts wegen des schwachen Pfunds in England ganz gut aus. Und in den arabischen Ländern, da spüren wir Auftrieb.» Im Treppenhaus lächelt der Formel-1-Pilot Lewis Hamilton zum Abschied sein Handgelenk an. Draussen peitscht der Regen durch die langen, rechtwinklig angeordneten Strassen von La Chaux-de-Fonds.

Der Gewerkschafter

Wir suchen Kneipen, um mit ArbeiterInnen ins Gespräch zu kommen. Doch die sind trotz Mittagszeit praktisch menschenleer. Ist das wegen der Krise oder wegen des vor gut zwei Monaten in Kraft getretenen Rauchverbots? Klar ist: Die Arbeitslosigkeit in La Chaux-de-Fonds ist mit 7,8 Prozent bereits sehr hoch - dabei soll die Uhrenkrise noch kaum angefangen haben. Überhaupt ist der Industriesektor im Kanton Neuenburg mit gut einem Drittel der Beschäftigten grösser als anderswo. Die Krise schlägt hier stärker zu.

Nach dem einsamen Mittagessen empfängt uns Eric Thévenaz, Regionalsekretär der Unia. Wir sind vorgewarnt worden: Die Gewerkschaften in der Uhrenindustrie würden anders ticken als in anderen Branchen. Man sei historisch einer starken Sozialpartnerschaft verpflichtet. Entgegen unserer Befürchtung schliesst das die Tradition der Verschwiegenheit nicht mit ein. Herr Thévenaz erläutert geduldig und gestenreich die Lage.

WOZ: Herr Thévenaz, wieso schweigen die Uhrenunternehmer zur Krise?

Eric Thévenaz: Es gibt einen Kult des Geheimen in der Uhrenindustrie. Wir kennen viele Traditionen, aber die am stärksten verankerte ist, dass man nicht sagt, wie es einem wirtschaftlich geht. Denn wer mechanische Träume verkauft, mag diesen Traum nicht durch Pessimismus verderben. Dieser Schweigetradition fühlen sich auch die kleinen und mittleren Zulieferbetriebe verpflichtet. Kaum ein Patron sagt mir, bei wem er gerade einen Auftrag verloren hat.

Können Sie so überhaupt abschätzen, wen die Krise trifft?

Die Patrons reden schon mit uns, sie nennen einfach keine Kundennamen. Neunzig Prozent der in der Uhrenindustrie Beschäftigten unterstehen zudem einem Gesamtarbeitsvertrag. Bei Entlassungen müssen wir informiert werden. Dieses Jahr wurden uns bis Mitte Mai rund 700 Entlassungen gemeldet. Temporärarbeiter sind in dieser Zahl nicht enthalten.

Welche Unternehmen trifft es?

Vor allem die selbstständigen Zulieferbetriebe, die beispielsweise Uhrzeiger, Zifferblätter oder Gehäuse herstellen. Sie bieten kein fertiges Produkt an, sind von den Bestellungen der grossen Marken abhängig. Vor letztem Oktober, da waren es noch die Zulieferbetriebe, die am längeren Hebel sassen. Die Marken haben 20 000 Stück einer Komponente bestellt, auch wenn sie nur 10 000 benötigten. Dies, um sicherzustellen, als Erste beliefert zu werden. Denn ein einziges fehlendes Teilchen kann die Produktion eines Uhrenmodells stoppen.

Und dann ist die Stimmung gekippt?

Ja, das kam praktisch über Nacht. Bei einigen Zulieferbetrieben brachen die Bestellungen um über die Hälfte ein. Die Lager bei den Endmonteuren sind voll. Die Marken geben Komponenten sogar mit dem Argument zurück, sie würden den Qualitätsrichtlinien nicht genügen, was natürlich eine Ausrede ist. Zuvor haben sie dieselben Teile ja verwendet - jetzt verlangen sie ihr Geld zurück.

Sie brechen Verträge?

Verträge in der Uhrenindustrie sind weniger Wert als Verträge in anderen Branchen. Sie werden oft einseitig verändert. Wer gerade am längeren Hebel sitzt, macht das Gesetz. Der Schwächere kann es sich oft nicht leisten, sein Gegenüber zu verärgern.

Welche Arbeiter landen denn jetzt auf der Strasse?

Es sind weniger die ausgebildeten Uhrmacher. Hier gibt es sogar noch offene Stellen. Vielmehr trifft es Mechaniker, Poliere oder Maschinenoperateure der Zulieferbetriebe. Da sind auch viele Grenzgänger und Migranten dabei. Und es trifft viele Frauen, die für Filigranarbeit etwa an Zifferblättern angestellt waren.

Haben Sie das Gefühl, dass es bald wieder aufwärtsgeht?

Ich habe eher das Gefühl, dass das erst die Hälfte oder gar erst ein Drittel der Entlassungen gewesen ist. Das ist nicht nur ein Gefühl, dafür sprechen auch handfeste Indikatoren. In der Mehrheit der Betriebe wird schon Kurzarbeit geleistet. Nach den Sommerferien kommen weitere dazu. Universo, ein Zeigerhersteller der Swatch Group, hat für September Kurzarbeit angemeldet, um nur ein Beispiel zu nennen. Und dann gibt es internationale Indikatoren: Schon die Uhrenverkäufe zu Weihnachten waren eine Katastrophe. Dann kam der Genfer Uhrensalon: Nicht gut. Das chinesische Neujahrsfest: eine Katastrophe. Die Basler Uhrenmesse: Auch nicht gut ... Aber die Hoffnung bleibt.

Ergreifen Sie angesichts der Entlassungswelle jetzt Kampfmassnahmen?

Nein, wir kommen nicht mit den Fahnen angerannt. Wir sind keine Gegner der kleinen Patrons. Der Patron ist genauso Opfer der Krise wie der Angestellte. Er fährt keinen Ferrari, beschäftigt vielleicht zwanzig Arbeiter, stand früher selber täglich viele Stunden in der Manufaktur. Mit den Verfehlungen der Banken hat er ebenso wenig zu tun wie Sie und ich.

Was tut die Gewerkschaft dann?

Unsere Arbeit ist weder glamourös noch spektakulär. Wir reden mit den Patrons, suchen Lösungen wie Kurzarbeit oder längere Betriebsferien. Wenn Entlassungen nicht vermeidbar sind, empfehlen wir, eher die jüngeren, mobileren Mitarbeiter zu entlassen, da die auch ausserhalb der Branche früher oder später Arbeit werden finden können.

Und wenn es um Entlassungen bei grossen Unternehmen geht?

Nicolas Hayek hat gesagt, aus wirtschaftlichen Gründen werde die Swatch-Group keine Angestellten in der Uhrenindustrie entlassen. Hätte er das anders gehandhabt, hätten wir ihm wahrscheinlich den Krieg erklärt. Auch Richemont oder LVMH haben noch keine Massen entlassen.

Am Tag nach diesem Interview ist die von Unia-Mann Eric Thévenaz gefürchtete Grossentlassung dann Realität geworden. Die Uhrenmarke Zenith aus Le Locle, einem Nachbarstädtchen von La Chaux-de-Fonds, hat letzte Woche siebzig Personen auf die Strasse gestellt - ein Drittel der Belegschaft. Zenith gehört LVMH. Vielleicht muss Eric Thévenaz jetzt doch eine Kriegserklärung abgeben und die Unia-Fahnen aus dem Estrich herunterholen.