Documenta 13 : Wie im richtigen Leben eben

Nr. 25 –

Sie kommt gut an, die aktuelle Documenta in Kassel. Obwohl oder gerade, weil sie uns zeigt, in welch verwirrender Zeit wir eigentlich leben.

Auf der Suche nach dem Künstlerhotel: Mario García Torres’ «Have You Ever Seen the Snow?». Foto: Roman März, © Jan Mot.

Zwei Frauen, zwei Ausstellungen – und eine Welt dazwischen. 1997 wurde Catherine David als erste Frau mit der Leitung der Documenta beauftragt und präsentierte unter dem Titel «Retroperspektive» ein theoriegeladenes Konzept, das an politische und gesellschaftliche Themen anknüpfte und erstmals der einsetzenden Globalisierung der Kunst Rechnung trug. Fünfzehn Jahre später kommt nun erneut eine Frau zum Zug: Carolyn Christov-Bakargiev propagiert ein «no-concept-concept», ein Konzept ohne Konzept. Ihre Ausstellung soll «traumatische Momente, Wendepunkte, Unfälle, Katastrophen und Krisen» beleuchten, ihre Choreografie nennt sie «unharmonisch und frenetisch».

Das Resultat ist eine Ausstellung, die – trotz einiger Schwerpunkte – inhaltlich wie inszenatorisch in alle Richtungen wabert, an den Rändern teilweise völlig ausfranst und gerade dadurch dem Publikum die Freiheit lässt, seine eigenen Bedeutungsnetze aufzuspannen. Ganz anders das Konzept von Catherine David 1997: Ihre Inszenierung war streng und autoritär und folgte einem logischen Plan. Die Gegensätzlichkeit der beiden Ausstellungen ist nicht allein im unterschiedlichen Temperament der beiden Frauen begründet, sondern spiegelt den jeweiligen Zustand der Gegenwartskunst.

Nachdem bis Mitte der neunziger Jahre die westliche Kunst im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden hatte, begann sich 1997 die Perspektive auf andere Erdteile zu öffnen, zeitgenössische Kunst wurde global und zusehends politischer. Diese Öffnung bewirkte – neben einem unüberschaubaren Zuwachs zeitgenössischer Kunstschaffender – eine Erosion des in der Moderne wurzelnden Kunstbegriffs: Etablierte Kriterien begannen zu bröckeln. An ihre Stelle traten subjektive Urteile, die man teilen mag oder nicht. Selbst die Unterscheidung zwischen Kunst und Nichtkunst hat an Schärfe verloren, und immer häufiger überlagert sich Kunst mit anderen Wissenssystemen.

Kabul, Kairo, Kassel

Dieser neuen Unübersichtlichkeit trägt die Documenta 13 Rechnung – nicht, indem sie versuchen würde, Ordnung zu schaffen. Ziel der Ausstellung scheint es vielmehr zu sein, das gegenwärtige Chaos abzubilden und sich mit ihm zu versöhnen – wie im richtigen Leben. «Demut» ist hier ein Stichwort der Kuratorin. Auch von «Skeptizismus» spricht sie, einer im Grunde optimistischen Haltung, welche die «Gleichwertigkeit der entgegengesetzten Sachen und Argumente» anerkenne.

«Collapse and Recovery» – Zusammenbruch und Wiederaufbau – lautet das Leitmotiv der Documenta 13. Das ist viel greifbarer und realer als etwa der nichtssagende Titel «Illuminazioni», mit dem die letztjährige Venedig-Biennale hantierte. «Zusammenbruch und Wiederaufbau» nimmt Bezug auf die Gründung der Documenta im Jahr 1955 in Kassel, einer Stadt, die im Zweiten Weltkrieg wegen der dort ansässigen Rüstungsindustrie stark zerstört wurde. Als Anhängsel der damaligen Bundesgartenschau war es die Aufgabe der Documenta, den durch Nationalsozialismus und Krieg unterbrochenen Anschluss an die Kunst der Moderne zu schaffen.

«Zusammenbruch und Wiederaufbau» bezieht sich aber auch auf die Krisenherde, die die heutige Welt prägen. Kabul und Kairo sind für die Kuratorin solch symptomatische Schauplätze, die in Kassel eigentliche Schwerpunkte bilden. Ebenso dazu gehören Stätten in und um die Stadt, wie das ehemalige Benediktinerkloster Breitenau in Guxhagen. Mitte des 19. Jahrhunderts in ein Gefängnis umfunktioniert, diente es später als Besserungsanstalt und wurde schliesslich unter der NS-Herrschaft als Konzentrationslager genutzt. Obwohl kein Ausstellungsort, soll Breitenau das «geisterhaft andere», «das Unbewusste» der Documenta-Ausstellung verkörpern.

Kassel im Zentrum

Einen starken Eindruck hinterlassen vor allem jene Beiträge, die gleich mehrere der von der Kuratorin vorgeschlagenen Themen aufnehmen – Natur und Ökologie beispielsweise oder feministische Anliegen. Willie Dohertys Videofilm «Secretion» (2012) erzählt in geheimnisvollen Bildern einer verseuchten Landschaft in der Umgebung von Kassel die Geschichte eines Mannes, der sich bei seiner Arbeit in einer Fabrik (oder ist es ein Konzentrationslager?) mit etwas ansteckt, das zunächst seine Haut verunstaltet und dann auch sein Hirn aufzulösen beginnt.

Der dreiteilige Film «Muster (Rushes)» (2012) von Clemens von Wedemeyer überblendet diverse Geschichten, die alle auf unterschiedlichen Zeitebenen im ehemaligen Kloster Breitenau spielen: Im Jahr 1990 besuchen August und Amelie mit ihrem Klassenlehrer die Gedenkstätte und erfahren vom Unvorstellbaren, das sich hier zugetragen hat. Auf der zweiten Leinwand sieht man US-Soldaten im Jahr 1945, die das Konzentrationslager stürmen und die Häftlinge befreien. Der dritte Teil spielt in den siebziger Jahren und zeigt Amelie als Insassin des damaligen Mädchenerziehungsheims und als Hauptdarstellerin bei den Dreharbeiten zu einem Film, der Ulrike Meinhofs «Bambule» zur Vorlage hat.

Gleich mit zwei starken Werken sind Janet Cardiff und George Bures Miller vertreten: «Alter Bahnhof Video Walk» (2012) führt die BesucherInnen mithilfe eines iPhones durch den ehemaligen Hauptbahnhof Kassels. Gefilmtes und Reales, Gegenwart und Geschichte überlappen sich – etwa, wenn die Erzählstimme vor Gleis 13 berichtet, dass von hier aus Juden und Jüdinnen in Konzentrationslager deportiert wurden.

Versteckt in einem Waldstück im weitläufigen Auepark findet sich das zweite Audiostück von Cardiff und Miller: Sitzt man dort auf einem bestimmten Baumstrunk, rollt eine gewaltige Soundkulisse über einen hinweg. Aus dreissig unsichtbar an den Bäumen befestigten Lautsprechern ertönen die unterschiedlichsten Geräusche – ein schweres Atmen direkt hinter dem Rücken, ein nahendes Gewitter, das Krachen umstürzender Bäume, explodierende Bomben.

Verschlungenes Denken

Bereits im Vorfeld der Documenta ist Christov-Bakargiev mehrmals mit ihrer Entourage nach Kabul gereist und hat dort Workshops abgehalten. Dieser Tage wird sie in der Hauptstadt Afghanistans einen Documenta-Ableger eröffnen. Umgekehrt sind in Kassel auch afghanische Kunstschaffende präsent. Eine von ihnen ist Mariam Ghana, die in «A Brief History of Collapses» (2012) die thematischen Vorgaben der Kuratorin vielleicht etwas gar wörtlich nimmt: Ihre Doppelprojektion stellt zwei Gebäude einander gegenüber – das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Fridericianum in Kassel, heute ein Museum und Hauptaustragungsort der Documenta, und die Ruine des Darulaman-Palastes in Kabul.

Auf verschlungenen Wegen nähert sich der mexikanische Künstler Mario García Torres der afghanischen Hauptstadt: In seinem Film «Have You Ever Seen the Snow?» (2010) erzählt er von seiner Suche nach dem One Hotel, das der italienische Künstler Alighiero Boetti von 1971 bis 1977 in Kabul betrieb. Einen fiktiven Zugang zum Thema wählt indessen der israelische Künstler Omer Fast in seinem Film «Continuity» (2012), der von einem deutschen Ehepaar handelt, dessen Sohn als Soldat in Afghanistan getötet wurde.

Es sind – neben der beeindruckend grossen Anzahl hervorragender Kunstwerke – solche Spuren, die von Kassel nach Kabul und anderswo führen, die die Ausstellung trotz ihrer Disparatheit zum Erlebnis machen. Die Fäden verlaufen horizontal, verbinden Arbeiten an unterschiedlichen Orten; sie verlaufen aber auch vertikal, indem sie historische Schichten freilegen. Die Documenta 13 öffne sich wie eine Matrjoschkapuppe hin zu verborgenen Räumen und Erzählungen, schreibt Christov-Bakariev. In einer Ausstellung in der Ausstellung, die die Kuratorin als «Brain» (Gehirn) bezeichnet, gewährt sie einen Einblick in ihr assoziatives Kunstverständnis, das neben vorchristlichen Figurinen aus Turkmenistan auch im libanesischen Bürgerkrieg beschädigte Kunstobjekte umfasst.

Konzeptlos, wie Christov-Bakariev im Vorfeld suggerierte, ist ihr Ansatz also keinesfalls. Aber ihr Denken ist  verschlungen, chaotisch, rhizomartig wuchernd. Und damit trifft sie den Nerv der Zeit – und der Kunst.

Documenta in: Kassel, bis 16. September 2012. 
www.documenta.de

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