In Situ: Churer Kafka-Festspiele

Nr. 39 –

Eine der profiliertesten Theatergruppen der Schweiz bangt um ihre Existenz. Der Kanton Graubünden hat die Subventionen massiv gekürzt. Ein gesellschaftspolitisches Trauerspiel.

Die Ursprünge reichen ins Keltische. «Kora» war der Ort anno dazumal angeschrieben, und das heisst «Sippe». Doch weil die älteste Stadt der Schweiz nicht allzu viel zu bieten hat, was TouristInnen durchs Stadttor mit dem aufrecht stehenden schwarzen Steinbock locken würde und keine Stadt hierzulande auf fachhochschulisch abgesegnetes Standortmarketing verzichten mag, soll sie nun eingeläutet werden: die grosse Stunde der Kultur. Dafür sitzt der einstige Schauspieldirektor der Berliner Festspiele im Chefbüro des Theaters Chur. Und auch im Kunstmuseum sind sie begeistert: Nun hängen die fürchterlichen Visionen HR Gigers in jener Alpenstadt, in denen er seine ersten Albträume erleben durfte. Der Prosecco, mit dem sich Regierungs- und Stadträte, Tourismus-, Kultur- und Eventmanagerinnen zustossen, schmeckt. Wenn da nur nicht ...

Es begab sich nämlich vor langer Zeit Folgendes: Wolfram Frank hiess der Mann aus deutschen Landen, der 1984 als Dramaturg am Stadttheater landete und zwei Jahre später, nachdem es zum Gastspielbetrieb umfunktioniert worden war, die freie Produktionsgruppe In Situ gründete. Das graue Bünden staunte ob des Spektakels, und auch die Herren von der Regierung hatten Freud ob des guten Rufs, In Situ kam zu viel beachteten Gastauftritten im In- und Ausland. Im vergangenen Jahr, anlässlich des zwanzigjährigen Bestehens, gab es rund fünfzig Veranstaltungen, drei grosse Theaterprojekte, Ausstellungen, Diskussionen, Konzerte und Performances kamen auf die Bühne.

«In situ» kommt aus dem Lateinischen. Naturwissenschaftlich meint dies die Untersuchung eines Prozesses dort, wo er auftritt; in der Archäologie eines Objekts, das bei einer Ausgrabung am Ort gefunden wird, an dem es ursprünglich deponiert worden ist. In Chur meint In Situ die künstlerische Untersuchung eines Prozesses, wo er gesellschaftlich auftritt - an Ort und Stelle. «Wir hatten nie vor, Welttheater zu machen», sagt Wolfram Frank in einem Strassencafé in der Churer Altstadt. Seit dem 1. April ist er Sozialhilfeempfänger.

Es beginnt mit einem Steinwurf

Es begab sich am Sonntagabend des 24. September 2006, als das Schweizer Stimmvolk das neue Asyl- und Ausländergesetz angenommen hatte und Regisseur Wolfram Frank plötzlich eine Wut hatte. Diese Wut war so gross, dass er sich in dunkler Nacht in der alten Stadt aufmachte und einen Stein in eine Scheibe des Gebäudes der kantonalen Fremdenpolizei warf. Und weil damit die Wut noch nicht zu Ende war, flogen weitere Steine, und weitere Scheiben gingen in die Brüche. Fünf Monate später, am 26. Februar 2007, entscheidet die Stadt Chur, den Beitrag an In Situ für 2007 von 40 000 Franken im Jahre 2006 auf 20 000 Franken zu reduzieren (1993 waren es noch 70 000).

Am 9. März reicht In Situ das Jahresgesuch 2007 an den Kanton ein, ein weiteres bei der Stadt zuhanden anderer Budgetposten (Musik, Bildende Kunst), auf das Stadtrat Martin Jaeger nicht eintritt. Inzwischen geht es nicht mehr nur um Steinwürfe. Noch heftiger empört sich Jaeger über einen anderen Vorfall: «Völlig inakzeptabel ist das Verhalten von Herrn Frank im Anschluss an die Bekanntgabe des Stadtratsbeschlusses. Dieser griff bei einem zufälligen Zusammentreffen ein Mitglied der Kulturkommission körperlich an. Andere Mitglieder der Kommission oder einzelne Ehepartnerinnen wurden bis spät in die Nacht telefonisch mit schlimmsten Drohungen konfrontiert. Solange In Situ sich von diesem Verhalten nicht eindeutig distanziert, werden wir mit ihnen ab sofort keine weiteren Kontakte pflegen.» Eine Kopie geht auch an die Kantonsregierung.

Nachdem Frank bei der neuen Kulturbeauftragten Doris Hold um ein Gespräch ersucht hat und diese verlauten lässt, dass sie Weisung habe, keine Gespräche zu führen, auch kein Antrittsgespräch, stellt der Vorstand von In Situ in einem Schreiben an den SP-Stadtrat die Frage, «wie eine sozialdemokratische Partei solche Maulkorbpraktiken rechtfertigen kann». Inzwischen ist im Rathaus auch Franks Stellungnahme zu den Vorwürfen von Stadtrat Jaeger eingetroffen. In Tat und Wahrheit, so Frank, habe es sich beim «körperlichen Angriff» um einen «Griff an den Mantel» des Carrossiers Bruno Claus gehandelt.

Am 18. April begründet Regierungsrat Claudio Lardi den Entscheid des Kantons, den Jahresbeitrag von 100 000 auf 50 000 Franken zu kürzen: «Der Exponent von In Situ, Wolfram Frank, hat das Vertrauen mehrfach enttäuscht und auch vor strafrechtlich relevanten Taten nicht haltgemacht.» In einer Stellungnahme kommt der Vorstand von In Situ zum Schluss, dass es bei diesem Vertrauen nicht um ein «Vertrauen in die Kunst, die Sache, sondern in die Botmässigkeit, Schmeichelei der Kunst» gehe.

Am 24. April reicht In Situ Klage beim Verwaltungsgericht gegen den Entscheid der Stadt ein. Gleichentags steht Frank wegen Sachbeschädigung vor dem Bezirksgericht Plessur und sorgt für eine Verzögerung, indem er Dr. Urs Raschein nicht als Richter akzeptieren will, da sich dieser der Verletzung der Menschenrechte schuldig gemacht habe (Raschein war Haftrichter von Hamid Bakiri, der am 20. September 2001 nach zwei Monaten Isolationshaft unter ungeklärten Umständen in einer Churer Polizeizelle starb.) Der Gerichtsausschuss lehnt den Antrag ab und bestätigt das Urteil des Kreispräsidenten.

Am 11. Juli gibt das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden sein Urteil bekannt: Die Beschwerde von In Situ gegen die Stadt wird abgewiesen. Dieser Tage hat In Situ eine öffentlich-rechtliche Beschwerde beim Bundesgericht eingereicht. Zudem hat Frank beim Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg gegen das strafrechtliche Urteil geklagt: Das neue Ausländer- und Asylgesetz sei völkerrechtswidrig.

Frank sieht die Situation in einem weltweiten Zusammenhang. In seinen Augen begann die Misere mit dem Berliner Mauerfall. Inzwischen seien die «verheerenden Wirkungen der Globalisierung» auch in den Regionen spürbar. «Fast alle kreativen Leute gehen weg von Chur. Wir bewegen uns in einem abgestorbenen Umfeld.» Das Drama findet statt. An Ort und Stelle agieren, schreiben, schweigen: ein Stadtrat, ein Regierungsrat, ein Sozialhilfeempfänger. In Nebenrollen: ein Carrossier, der Regierungsrat werden möchte, eine schweigepflichtige Kulturbeauftragte, ein Richter und viele HungerkünstlerInnen. Das Stück ist von einem kafkaesken Briefverkehr geprägt: auf der einen Seite der künstlerisch-philosophische Ton des Theatermachers, auf der andern der bürokratische von Justiz und Politik. Dazwischen: verordnetes Schweigen.

Auftritt Hungerkünstler

Mit Franks Steinwurf will die Regierung die massive Kürzung der Beiträge begründen. Damit verhängt sie eine Kollektivstrafe über ein Ensemble, an dem im letzten Jahr rund hundert Personen beteiligt waren. Es droht ein Präzedenzfall, indem die Politik nicht nur die Kunst (wie im Fall Hirschhorn), sondern einzelne Kulturschaffende mundtot zu machen versucht.

Kafkas Figurenkabinett hat definitiv Einzug gehalten. Seit dieser Woche und noch bis Samstag ist vor der Rathaushalle ein Hungerkünstler in einem Käfig zu sehen. Damit nehmen Frank und Ko-Leiter Timon Böhm Bezug auf den «Hungerkünstler», der 1924, kurz vor Kafkas Tod, erschien. «Eine Parabel auf unsere Zeit», wie Frank sagt: «Der Künstler, der hungert, verhungert, weil man sogar diese Kunst vergisst.» Auf die Frage, warum er nicht anders als hungern könne, antwortet der Hungerkünstler: «Weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt.» Dass es sich um die Speise des Sinns handelt, ist offensichtlich. Frank sieht darin eine hellsichtige Antizipation des Neoliberalismus und der «biopolitischen Wende», die in den Augen von Philosophen wie Michel Foucault und Giorgio Agamben seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Gesellschaften beherrscht. Nachdem das Publikumsinteresse erloschen ist, wird der einst erfolgreiche Hungerkünstler im «Zoo» links liegen gelassen, er ist nur noch «Hindernis auf dem Weg zu den Ställen». Was sich ankündigt, ist die Rückverwandlung zum «blossen, nackten Leben» (Agamben).

«Wenn es so weitergeht, wird die hiesige Szene vollends kaputtgehen.» Wolfram Frank sitzt noch immer im Strassencafé in der Churer Altstadt, die sich auch an diesem Nachmittag von ihrer schönsten Seite zeigt: «Die Provinz verödet weiter. Kulturpolitik gibt es keine mehr. Nur noch Kulturmarketing.» Der Sozialhilfeempfänger wird versuchen, die Zeit fürs Schreiben zu nutzen. Ein erstes Fazit ist dieser Tage im Calven-Verlag erschienen: «Nichts - Ort und Entortung. In Situ Chur 1986 - 2007».




«Der Hungerkünstler im Käfig» in: Chur, vor der Rathaushalle, bis Sa, 29. September, 16.30-19.30 Uhr. «Hochalpiner Kulturgipfel & Wo Körper immerzu suchen» (Kafka-Performance), Rathaushalle, Fr, 28. September, 19 Uhr; So, 30. September, 18 Uhr. www.insitu-chur.ch

WOLFRAM FRANK: «Nichts - In Situ 1986 - 2007». Calven Verlag. Chur 2007. 300 Seiten. 26 Franken.

Was sagen VTS und Stadtrat?

Der VTS (Vereinigte Theaterschaffende der Schweiz) hat den Entscheid der Bündner Regierung verurteilt und diese zur Rücknahme aufgefordert: Regierungsrat Lardi nehme das private Verhalten eines Künstlers zum Anlass, einem Ensemble die Unterstützung zu kürzen, das «weit über die Landesgrenzen hinaus Anerkennung gefunden» habe. Über hundert Personen aus der Kulturszene (Linard Bardill, Iso Camartin und andere) haben sich solidarisch erklärt. Nicht unterschrieben hat Markus Luchsinger, Direktor des Theaters Chur. Stadtrat Martin Jaeger (SP) nimmt gegenüber der WOZ wie folgt Stellung: «Der Grund dafür, dass der diesjährige Beitrag der Stadt nur der Hälfte des letztjährigen entspricht, steht in keinem Zusammenhang mit Franks Steinwürfen. Die jeweilige Höhe der Jahresbeiträge ist variabel und ergibt sich aus der Qualität der Gesuche und der Anzahl der berücksichtigten Gruppen.» Für 2007 wurden grössere Beiträge an die Freilichtspiele Chur und zwei neue Gruppen verwendet. Unter Markus Luchsinger soll das Theater Chur eine überregionale Ausstrahlung erhalten. Daraus resultiert, dass vor allem Gruppen wie 400asa mehr Geld erhalten, die nicht im engeren Sinn «einheimisch» sind, aber mit dem Theater Chur koproduzieren.