25 Jahre In Situ: Warum es in Chur keine Orgie von Pasolini gibt
Dieses Jahr beging die Churer Kulturwerkstatt In Situ ihr 25-jähriges Bestehen. Nun muss das erste Projekt nach dem Jubiläum, die deutsch-rätoromanisch-italienische Schweizer Erstaufführung eines Pasolini-Stücks, vorzeitig abgeblasen werden. Sie passt nicht ins Konzept der schweizerischen Kulturpolitik.
Kaum ein freies Theater in der Schweiz arbeitet seit 25 Jahren in dieser kontinuierlichen Ernsthaftigkeit wie In Situ. «In situ» kommt aus dem Lateinischen und heisst «am Ort». Der Name der Gruppe um Regisseur, Dramaturg und Autor Wolfram Frank ist seit ihrer Gründung 1986 zugleich Programm und Manifest: «In Situ meinte von Beginn an die Sache, den Ort, situ, der Kunst», so Frank in einem «Manifest», das er zum Jubiläum der Churer Kulturwerkstatt geschrieben hat. Der Name soll ebenso darauf verweisen, «dass die Arbeit der Gruppe dem eigenen Ort Chur und Graubünden gelten sollte, dass sie also explizit die Arbeit in der Peripherie, Region, Provinz jener in den Zentren mit ihren Graben-, Karriere- und Modekriegen vorzieht».
Verglichen mit 1986 ist diese Positionierung stark veränderten Bedingungen ausgesetzt. Die Auswirkungen von Globalisierung und Neoliberalisierung lassen sich speziell an einem Ort wie Chur, in der sogenannten Provinz, ablesen. Die Arbeit von In Situ ist mehr als ein kritisches Begleiten dieser Entwicklungen. Sie ist der Versuch, ein anderes Denken entgegenzusetzen. Das offenbarte sich in unzähligen Inszenierungen mit Texten von Sophokles über Shakespeare und immer wieder Beckett bis hin zu Christa Wolf sowie in interdisziplinären Installationen und Textcollagen aus eigenen und anderen Texten. Typisch für In Situ ist immer wieder auch die Verortung Graubündens in der Welt – so etwa bei einem Projekt, bei dem Texte von Friedrich Nietzsche aus Sils-Maria mit Bildern von Giovanni Segantini in Verbindung gebracht wurden.
Sich und dem Ort treu zu bleiben, heisst für In Situ aber auch: sich der Aktualisierungsmode ebenso zu verweigern wie kulturpolitischer Gefälligkeit – und sich dafür umso engagierter in kultur-, asyl-, sozial- und medienpolitische Debatten in Chur und Graubünden einzumischen. Besonders geschätzt wird das nicht: Die Unterstützungsbeiträge von Stadt und Kanton sind in den letzten Jahren immer kleiner geworden.
Globalisierung im Kleinen
1986, als In Situ mit Albert Camus’ «Das Missverständnis» seine Tätigkeit aufnahm, gab es in Chur, so Frank, noch eine künstlerische und politische Szene: «Mehrere Lokale und Galerien, die noch jungen ‹Freilichtspiele› und ‹Klibühne› schufen ein Dispositiv der Diskussion, des Gesprächs.» Ein Vierteljahrhundert später sieht er hier «keinen eigenen Ort mehr». Graubünden habe sich «begierig und zustimmend wie alle Regionen, Randgebiete, Provinzen, Kantone und Städte dem ‹Koloss der Globalisierung› unterworfen».
Über Franks These, dass diese «Unterwerfung» auf den Zusammenbruch der sozialistischen Staaten 1989 zurückzuführen und daraufhin jede Streitkultur kollabiert sei, lässt sich streiten. Tatsächlich beobachten aber lässt sich am Ort Chur geradezu exemplarisch, wie eine Stadt innerhalb weniger Jahre eine einst lebendige Kulturszene verloren hat. Seit das Theater Chur (wo Frank zuvor als Regisseur arbeitete) 1992 in einen Gastspielbetrieb ohne eigenes Ensemble umgebaut wurde, trägt In Situ fast die ganze Last der kritischen Auseinandersetzung.
Immerhin zehrte die Gruppe bis vor wenigen Jahren von ihrem guten Ruf in der deutschsprachigen Theaterlandschaft. Bis vor einigen Jahren wurden ihre Produktionen an Staatstheater in Deutschland und Frankreich sowie immer wieder ans Zürcher Theaterspektakel eingeladen. Und immer wieder erhielt sie Unterstützung von überregionalen Stiftungen wie etwa der Kulturstiftung Pro Helvetia.
Damit könnte nun Schluss sein. Die für den 25. Februar 2012 in Chur geplante Premiere der deutsch-rätoromanisch-italienischen Schweizer Erstaufführung von Pier Paolo Pasolinis «Orgie» (1966) muss abgeblasen werden, nachdem die Arbeitsgruppe Theater des Stiftungsrats der Pro Helvetia Anfang November schriftlich mitgeteilt hat, das Projekt nicht zu unterstützen: «Als nationale Stiftung konzentriert Pro Helvetia ihre Unterstützung auf Projekte von Gruppen, die in der Schweiz überregional präsent sind. Dies ist u. a. gegeben, wenn eine Gruppe kontinuierliche Gastspieltätigkeit bei profilierten Veranstaltern in verschiedenen Regionen der Schweiz und im Ausland nachweisen kann und mit ihren Produktionen regelmässig ein überregionales Medienecho erzielt.»
Diese streng reglementarische Begründung ohne jede künstlerische oder inhaltliche Bezugnahme liefert einen Vorgeschmack auf das neue Kulturförderungsgesetz, das am 1. Januar 2012 in Kraft treten wird. In diesem Rahmen wird auch die Organisation der Pro Helvetia «modernisiert» und ihr Aufgabenbereich neu geregelt. Dabei soll auch die Entscheidungskompetenz der einzelnen BereichsleiterInnen erhöht werden. Auf die problematischen Folgen daraus hat unlängst schon Suisseculture, der Dachverband der KünstlerInnenorganisationen, hingewiesen: «Je mehr sich einzelne Personen bei den Entscheiden exponieren müssen, umso stärker wird die Tendenz, sich über Reglementierungen abzusichern» (vgl. «Das Pro-Helvetia-Theater»).
Eine Gruppe wie In Situ, die sich beharrlich mit dem eigenen Ort und seinem Verhältnis zur Welt auseinandersetzt, steht in dieser Kulturpolitik, in der nicht künstlerische, sondern mediale Kriterien entscheiden, auf verlorenem Posten. Und das, obwohl es sich beim Pasolini-Projekt gerade um ein Vorhaben handelt, in dem der Austausch zwischen Sprachregionen zentral ist – nicht, indem in einer anderen Sprachregion gespielt wird, sondern indem die Sprachregionen (bündnerisches und friaulisches Rätoromanisch, Deutsch und Italienisch) selbst zum Thema und auf der Bühne unmittelbar zu hören sein werden. Das Pasolini-Projekt wäre also geradezu ein Paradebeispiel für die Erfüllung von Artikel 1 des Bundesgesetzes betreffend die Stiftung Pro Helvetia («Die Stiftung bezweckt die schweizerische Kulturwahrung und Kulturförderung sowie die Pflege der kulturellen Beziehungen mit dem Ausland»).
In Situ hat beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde gegen den Entscheid eingereicht: Die Begründung der Gesuchsablehnung habe «weit über In Situ hinaus einen paradigmatischen Charakter». Es mache ein Projekt wie jenes von In Situ von Beginn an unmöglich. «Ginge es nach der Pro Helvetia, soll Theater also nicht für einen bestimmten Ort, in unserem Fall Graubünden/Chur gemacht werden, sondern für den nationalen beziehungsweise internationalen Markt. Globalisierung im Kleinen: Löschung der Orte (ausser den Zentren), der Regionen (insbesondere Randregionen), Kantone, Dialekte, des Eigenen» (Frank).
Pasolini und Graubünden
Gerade diese «Zerstörung der Kultur des Eigenen» war ein zentrales Thema des friaulischen Dichters, Denkers und Filmemachers Pasolini (1922–1975), mit dessen Werk sich In Situ schon in früheren Projekten auseinandergesetzt hat. Dies nicht zuletzt, um die durch nationale Grenzen in Vergessenheit gebrachte Zusammengehörigkeit der friaulischen und bündnerischen Regionen (als Teile der rätoromanischen Sprachfamilie) bewusst zu machen. Pasolinis Werk ist für Graubünden auch deshalb relevant, weil er stets auf dem «Eigenen» und auf der Autonomie von Minderheiten beharrte, für einen kulturellen Pluralismus einstand und von «einer einzigen Region von Triest bis Chur» träumte. Umso mehr erstaunt es, wie wenig der laut Frank einzige Schriftsteller der internationalen Rätoromania, dessen Werk Weltgeltung erlangt hat, in der Schweiz und insbesondere in Graubünden beachtet wird.
Wolfram Frank sieht in der Auseinandersetzung mit Pasolini auch eine politische Dringlichkeit: «Gerade weil seine Intentionen an der Übermacht der neuzeitlichen geschichtlichen Bewegung insbesondere nach 1989 gescheitert sind, ist sein Denken heute von grosser Bedeutung, um die schlimmstmöglichen Szenarien zu mindern oder ihnen zumindest ein mögliches Denken gegenüberstellen zu können.»
Rund um die Schweizer Erstaufführung hatte In Situ zusammen mit der Lia Rumantscha und der Pro Grigione Italiana in Chur, Samedan und Basel Lesungen, Diskussionen und Filmvorführungen auf Italienisch, Rätoromanisch und Deutsch geplant. Auch daraus wird unter diesen Umständen bis auf weiteres nichts. Stattdessen zeigt In Situ eine zweite Fassung der szenischen Installation «Hoc est enim corpus meum». Darin wird in Videoarbeiten und Performances dem abendländischen Weg des Körpers nachgespürt – mit Materialien zu christlichen Prozessionen, Geisselungen und Hexenprozessen bis zur zeitgenössischen Schönheits-, Fitness- und Pornoindustrie. Bereits darin ist ein Monolog aus Pasolinis «Orgie» zu sehen und zu hören: ergreifend dargebracht von Julia Maurer.
Abschluss des 25-Jahre-Jubiläums in: Chur Postremise So, 18. Dezember, 18.15 Uhr: Wolfram Frank liest aus seinen Texten; 19.30 Uhr: Die rätoromanische Liedermacherin Bibi Vaplan stellt ihre neue CD, «Eu vegn cun tai», vor.
«Hoc est enim corpus meum II» in: Chur Pulvermühlenareal Sa, 25., Di, 28. Februar sowie Sa, 3. März 2012, 20 Uhr.
Zurzeit entsteht unter der Regie von Curdin Schneider und Marc Teuscher auf Grundlage des Videoarchivs ein Dokumentarfilm über In Situ. www.insitu-chur.ch
Das Pro-Helvetia-Theater
Gemäss «Wegleitung für den Fachbereich Theater» unterstützt Pro Helvetia neue Theaterproduktionen nur, wenn es sich um solche «von überregional anerkannten freien Gruppen aus der Schweiz» handelt. Eine Unterstützung setzt voraus, dass insgesamt zehn Vorstellungen am Premierenort und einem weiteren Spielort in der Schweiz feststehen. Bezüglich Gastspielen in der Schweiz will die Kulturstiftung den Austausch zwischen den Sprachregionen unterstützen. So sind nur Beiträge möglich an Gastspiele freier Gruppen und institutioneller Ensembles in anderen Sprachregionen der Schweiz. Gewährt werden auch Beiträge an Gastspiele im Ausland von Schweizer Gruppen «mit überregionaler Anerkennung» sowie von Häusern «mit internationalem Ruf», die von international bekannten Bühnen oder Festivals eingeladen worden sind.