Literatur: Dämonische Erzählerinnen

Nr. 28 –

Der neue Roman «Empusion» der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk ist eine feministische Horrorstory sowie eine Subversion chauvinistischer Ideologien.

In früheren Epochen machte «der Erzähler» es sich noch als «raunender Beschwörer des Imperfekts» gemütlich, wie Thomas Mann in seinem modernen Klassiker «Der Zauberberg» formuliert. Olga Tokarczuks ausgesprochen lesenswerter neuer Roman lässt, wie Manns «Zauberberg», ebenfalls einen jungen Ingenieur in ein Lungensanatorium reisen, allerdings nicht von Hamburg aus, sondern von Lwiw. Die Handlung spielt kurz vor dem Ersten Weltkrieg, also in jener Ära der kochschen Bazillen und Dampflokomotiven, wird jedoch teilweise im Präsens erzählt. «Empusion» ist auch perspektivisch ein Gegenpol zum «Zauberberg». Im Gegensatz zum traditionell allwissenden Erzähler ist hier kein (Thomas) Mann am Werk, sondern eine Erzählerin oder sogar ein ganzes Kollektiv von Erzählerinnen, die sich als «allsehend» beschreiben.

Dieses erzählende «wir» entpuppt sich als die titelgebenden Empusen, weibliche Schreckgespenster der griechischen Mythologie. Tokarczuk überschreibt diesen Dämoninnen parahistorische Superkräfte: Sie sind männerverschlingende, radikalfeministische Gegengestalten zu Chauvinismus, Patriarchat und Nationalismus, die im moosigen Unterholz wohnen.

Abendliche Likörrunden

Tokarczuk liess schon in früheren Romanen die verlorene Transkulturalität und Vielsprachigkeit Polens wiederaufleben. Damit bekommt dieses Erzählen eine politische Bedeutung, denn in Polen ist die autoritäre Rechte bekanntlich längst daran, die Gesellschaft nach ihren Vorstellungen einzurichten. Allerdings wird auch deutschsprachigen Leser:innen mit «Empusion» ein Angebot gemacht: Der Roman öffnet eine alternative Perspektive auf die deutsche Literaturgeschichte, die von der Peripherie Mitteleuropas ausgeht, wo Deutsch von Polinnen, Ungarn und Jüdinnen als Bildungssprache wahrgenommen wurde, ohne dass sie im 20. Jahrhundert der deutschen «Nation» zugeordnet wurden. Deutsche Literatur ist auch polnische, tschechische, jüdische – eben europäische Literatur.

Als Handlungsort geschildert bekommen wir denn auch jenes multikulturelle Grenzgebiet zwischen Polen, Deutschland und Tschechien in den letzten Jahren Österreich-Ungarns, ein Erzählraum, der Albtraum und Utopie in einem ist. So ist das «Gästehaus für Herren» im schlesischen Kurort Görbersdorf (heute Sokołowsko) einerseits ein Horrorhaus samt scharrenden Schritten auf dem Dachboden und Geheimkammer mit Fesselstuhl. Andererseits bietet es Raum für eine Befreiung von ganz anderen Leiden als der Tuberkulose. Der mutterlose Mieczysław Wojnicz, «Student der Wasser- und Canalisationstechnik aus Lemberg», kann schliesslich der Autorität von Vater und Onkel entfliehen, die von einem wiederhergestellten soldatischen Polen träumen. Im Verlauf der Erzählung wird er seine Geschlechtsidentität und seine Sprache wechseln, von Polnisch zu Deutsch.

Vielleicht nicht zufällig erinnert dieser rätselhafte Wojnicz an den Landvermesser K. aus Kafkas «Schloss»-Fragment. Auch Figuren wie der undurchsichtige Gästehausbesitzer Wilhelm Opitz und sein unheimlicher Gehilfe Raimund gleichen dem Personal Kafkas. Franz Kafka, der deutschsprachige jüdische Autor aus der tschechischen Hauptstadt Prag, verbrachte zu Beginn des Jahres 1922 einige Wochen im damaligen Kurort Spindlermühle (Špindlerův Mlýn), nur wenige Kilometer von Görbersdorf entfernt, und verfasste dort viele Seiten vom «Schloss» sowie die Erzählung «Ein Hungerkünstler».

Zeitgenossen Kafkas bevölkern Tokarczuks Roman. Der Kurhausdoktor referiert eigenwillig Freuds Psychoanalyse, der Schriftsteller und Patient August August versteckt seine Homosexualität ebenso wie seine jüdische Herkunft, weil er nach dem Vorbild des Wiener Philosophen Otto Weininger die antisemitischen Stereotype in krasser Weise internalisiert hat. Es sind Männer aus den unterschiedlichen Ländern des Habsburgerreichs, die sich bei ihren abendlichen Likörrunden in redundanten Schlaufen über die Inferiorität des Weiblichen auslassen, wobei sie wörtliche Zitate aus der (Un-)Geistesgeschichte der Misogynie von Augustinus bis Schopenhauer vom Stapel lassen, bis endlich der Alkohol ihre Angstlust dämpft.

Patriarchale Speisen

Die Abwertung des Weiblichen ist drastisch und erstreckt sich bis in den Tod hinein. Am ersten Tag seines Aufenthalts findet Wojnicz auf dem Esstisch die tote Ehefrau des Gästehausbesitzers, die sich eben erhängt hat. Das grösste Problem ist nun, dass die Köchin fehlt und der vom Gehilfen eilig gekochte Tafelspitz ungeniessbar ist. Das Abendessen bietet eine Szenerie der verdrängten Leere. Die Männer kauen schweigend «das widerständige Fleisch». Wojnicz sitzt «wie erstarrt da, gleichsam geknebelt durch den Bissen in seinem Mund».

Das Essen steht in enger Verbindung zum Schreiben. Denn Wojnicz notiert sich jedes Menü und rapportiert geflissentlich seinem Vater, was er verzehrt hat. Leitmotivisch wiederholen sich Essensbeschreibungen von grosser Intensität, seien es «köstliche» (ein Ausdruck, den Wojnicz für alles Mögliche benutzt) oder widerliche. Tokarczuk ist eine Meisterin in der Beschreibung ekelerregender Speisen – auch dies erinnert an Kafka –, die sich wie Symbole patriarchaler Herrschaft ausnehmen.

Da wäre die Erinnerung daran, dass der Vater den jungen Wojnicz dazu zwingt, eine Suppe aus Entenblut herunterzuwürgen, weil er diese für ein traditionelles polnisches Gericht hält. Da ist die Passage, in der die Männer in einem Ausflugslokal eine lokale, «überaus schmackhafte» Spezialität verzehren, die direkt aus einem David-Lynch-Film stammen könnte. Die bandnudelartigen Gebilde, knorpelig und mit einer Art Béchamelsauce überzogen, stellen sich im Nachhinein als Parasiten von Süsswasserfischen heraus, die einmal im Jahr nach dem Aufplatzen der Fischbäuche an der Oberfläche des Teichs treiben, sich dort gegenseitig mit Sperma bespritzen und von den Fischern in rauen Mengen eingesammelt werden, was bei Wojnicz «Wellen der Übelkeit» auslöst.

Doch das Essen bietet auch Trost. Die einzige Frau, die Wojnicz in seinem Leben näher kennenlernt, ist die Haushälterin seiner Kindheit, deren Speisen von unbedingter Liebe zeugen, sei es ein «Löffel Buchweizenhonig», «ein knuspriges Brotscherzel», dick mit Butter bestrichen, oder Goggelmoggel – mit Zucker verquirltes Ei. «Diese Küche war der beste Ort seines Lebens gewesen.» Wojnicz findet also im Gegensatz zu Kafkas Hungerkünstler durchaus die Nahrung, die ihm schmeckt. Es ist eine Nahrung, die mit «liebevoller Zuneigung» zubereitet wird, so bezeichnet Tokarczuk in ihrer Nobelpreisrede 2019 selbst ihr Ideal des Erzählens, ein Erzählen, das den «liebevollen Blick» auf die Figuren ins Zentrum stellt. Äusserst elegant haben Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein Tokarczuks Sprache übersetzt.

Fluide Geschlechtsidentität

Die Empusen verkörpern in Tokarczuks Roman die Angst vor dem Ambivalenten und Vieldeutigen. Wojnicz macht sich gegen Schluss verdächtig, da seine fluide Geschlechtsidentität scheinbar öffentlich wird. August erzählt, dass man in der Antike «solche wie dich im Meer ertränkt hat». Dabei hat er die Rechnung ohne die transformatorische Energie dieser Erzählerinnen gemacht, die Wojnicz allsehend bis in die weiblichen und männlichen Geschlechtsorgane hinein durchleuchten, um ihn dann als «sie» liebevoll in die Weiten des 20. Jahrhunderts und die Weltliteratur zu entlassen. Freigesetzt ist damit auch ein Begriff von Schreiben, der sich jeder nationalen Zuordnung entzieht.

Buchcover «Empusion»
Olga Tokarczuk: «Empusion». Roman. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein. Kampa Verlag. Zürich 2023. 384 Seiten. 36 Franken.