Deutschland 1977 (3): Ein privater Blick
«Da stand ich doch tatsächlich in der Kneipe und trank ein Bier auf die Schleyer-Entführung», sagte kürzlich eine Freundin, «wie kam ich bloss dazu?» Beide Studentinnen aus bürgerlichem Elternhaus, sympathisierten wir damals nicht nur klammheimlich mit einer Gruppe, die den bewaffneten Kampf in Deutschlands Städte tragen wollte.
Unser Geschichtsunterricht endete mit dem Ersten Weltkrieg. Von den Jahren danach erzählte meine Mutter mit leuchtenden Augen. Mein Vater schwieg. Erst nach der Schulzeit erlas ich mir, was sich «Deutschlands dunkle Zeit» nannte, und entwickelte ein fassungsloses Misstrauen gegenüber allen Menschen, die vor mir erwachsen geworden waren, wiesen sie doch keinerlei Anzeichen von Traumata auf, sondern plauderten harmlos bei Kaffee und Kuchen. Ich fühlte mich einsam.
Nur die Ausserparlamentarische Opposition (APO) schien auf meine Fragen Antworten einzufordern. Wir lasen Marx, Engels und Lenin, lernten, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, und studierten die Rolle der Kader in der Revolution, wobei mich die Frage, wen das Proletariat denn nun rechtmässig an die Wand stellen dürfe, nur vorübergehend verunsicherte. Fröhlich skandierte ich «Ho-Ho-Ho-Chi-Minh» oder «USA - SA - SS» und genoss nach dem «Theoriegewichse die kooperative Praxis» - grosse Feste mit viel Alkohol, weichen Drogen und den angenehmen Seiten der sexuellen Befreiung, deren tatsächliche Bedeutung vermutlich nur begreift, wer je den Mief der fünfziger Jahre atmen musste. Auf die Marx-Schulungen folgten Wilhelm Reich und Sigmund Freud, doch die Gewissheit blieb, dass gesellschaftliche Ungerechtigkeit weltweit Folge ungerechter Macht- und Besitzverhältnisse ist und Macht niemals freiwillig abgegeben wird.
Als Gudrun Ensslin und Andreas Baader wegen Kaufhausbrandstiftung der Prozess gemacht wurde, genossen sie unsere Sympathie - schliesslich ist der Imperialismus mörderisch, und es hatte ja nur Sachschaden gegeben. Dann ermordete die Rote-Armee-Fraktion, die RAF, wie sie sich inzwischen nannte, erstmals Menschen. Ich erschrak und war diffus dankbar, nicht über persönliche Beziehungen zufällig in diese Gruppe geraten zu sein; gleichzeitig fühlte ich Bewunderung für deren scheinbar kompromisslose Konsequenz. Als einige Wohngemeinschaften im Morgengrauen von Polizeirazzien heimgesucht wurden, diskutierten wir die Frage: Was wäre, wenn ein RAF-Mitglied bei uns untertauchen wollte? Zum Glück mussten wir unsere Fantasien nie an der Praxis messen.
Inzwischen wurden die Mitglieder der RAF republikweit gesucht oder sassen in Isolationshaft - der Rechtsstaat versagte. Dass die RAF längst zur Sekte geworden war, entging uns dabei. Im November 1974 starb Holger Meins im Hungerstreik, für uns war es Mord. Als mich KommilitonInnen fragten, ob ich mit zur Beerdigung führe - man rechne mit Tausenden DemonstrantInnen und grosser Polizeipräsenz, es könne gefährlich werden -, kippte meine anfängliche Furcht plötzlich in wilde Entschlossenheit: Dann werde ich eben erschossen, dachte ich, einmal will auch ich mein Leben wagen.
In Hamburg verhinderte die Menschenmenge dann, dass ich überhaupt in die Nähe des Grabes kam, nur der Ruf «Holger, der Kampf geht weiter!» drang bis zu uns herüber. Dass da Rudi Dutschke rief, las ich später. Die Schiesserei blieb aus, die Menge löste sich auf, wie ernüchtert fuhren wir zurück.
Die RAF hinterliess ihre Blutspur, die APO zerfranste in Splittergrüppchen, und mir verging die romantisierende Abenteuerlust. Das Leben wagte ich fortan lieber in den staubigen Gefilden der Realität.