Deutschland im Herbst 1977 (1): Diese ganze Kriegsscheisse

Nr. 41 –

Wer hat wann auf wen geschossen? Die Frage beschäftigt die deutsche Öffentlichkeit seit Monaten - und überdeckt die politische Diskussion über die RAF, die Linke und die deutschen Verhältnisse vor dreissig, vierzig Jahren.

Am 19. Oktober 1977 wurde die Leiche von Hanns Martin Schleyer im Kofferraum eines Autos in Mülhausen im Elsass gefunden. Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie hatte sich ab dem 5. September in der Hand eines Kommandos der Roten-Armee-Fraktion (RAF) befunden. Mit dem Mord ging der spektakulärste Entführungsfall der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte nach 44 Tagen blutig zu Ende. Tags zuvor hatte ein deutsches Antiterrorkommando in Somalia die entführte Lufthansa-Maschine Landshut gestürmt. Und wenig später waren - ebenfalls am 18. Oktober - im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim die RAF-Gründungsmitglieder Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe erhängt oder erschossen in ihren Zellen aufgefunden worden. Einzig Irmgard Möller hatte von Stichwunden schwer verletzt überlebt.

Heute, fast dreissig Jahre später, ist ausgerechnet die juristische Seite der damaligen Ereignisse wieder umstritten und von neuerlichem Interesse. Dies erstaunt, galten doch gerade die kriminalistischen Aspekte des Deutschen Herbstes lange als fast vollständig geklärt. Für die Entführung von Schleyer und die gemeinschaftlich begangenen Morde an seinen Begleitern wurden insgesamt zehn RAF-Mitglieder verurteilt (Peter-Jürgen Boock, Monika Helbing, Sieglinde Hofmann, Christian Klar, Silke Maier-Witt, Brigitte Mohnhaupt, Adelheid Schulz, Sigrid Sternebeck, Rolf Clemens Wagner und Stefan Wisniewski). Zwei weitere Tatverdächtige, Willy Peter Stoll und Elisabeth von Dyck, wurden bei der Fahndung erschossen, sieben weitere wurden wegen anderer Delikte verurteilt. Nur nach Friederike Krabbe wird noch gefahndet.

Hauptsache lebenslänglich

Vor allem Stefan Wisniewski geriet Anfang des Jahres erneut in die Schlagzeilen. Nach Aussagen des «Spiegel»-Kronzeugen Peter-Jürgen Boock soll er im April 1977 die tödlichen Schüsse auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback und (zusammen mit Rolf Heissler) auch auf Hanns Martin Schleyer abgegeben haben. Diese rein kriminalistisch aufgezäumte Diskussion um einzelne, längst abgeurteilte RAF-Täter erscheint nicht immer einleuchtend.

Wisniewski zum Beispiel war 1978 als 25-Jähriger in Paris von der Polizei festgenommen worden. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurde er damals an die deutschen Behörden überstellt und wegen gemeinschaftlich begangenen Mordes und der Schleyer-Entführung zu zweimal lebenslänglicher Haft verurteilt. Die individuell nachweisbare Schuld eines RAF-Angeklagten kümmerte damals nicht sonderlich. Die RAF betrachtete sich als Kollektiv, welches gemeinschaftlich plante und handelte; der deutsche Staat und seine Justiz agierten in ähnlicher Logik: Wer der Mitgliedschaft in der RAF überführt werden konnte, wurde relativ willkürlich und nach kollektiven Kriterien abgeurteilt. Das frühere RAF-Mitglied Knut Folkerts schilderte kürzlich anhand seines Falles, wie die Anklagen der Bundesanwaltschaft oftmals konstruiert waren. Hauptsache, es reichte für die Verurteilung zu mindestens einmal lebenslänglich.

Stefan Wisniewski, der 1953 geborene Sohn eines polnischen Zwangsarbeiters und einer Deutschen, wurde 1981 vom Gericht als einer der Schützen beim Überfall auf Schleyers Eskorte identifiziert. Er sass die gegen ihn verhängte Haftstrafe ab und wurde 1999 - nach 21 Jahren Gefängnis - auf Bewährung entlassen. Als er von der Polizei gefasst worden war, soll er den verbliebenen RAF-Kadern um Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt so bedeutsam gewesen sein, dass sie seine Befreiung mit einem Hubschrauber planten. Dabei war Wisniewski spätestens 1981 nicht mehr auf RAF-Linie und hatte - wie man in der Justiz und in der Szene wusste - ein kritisches Verhältnis zum bewaffneten Aktionismus und zu seiner eigenen Geschichte. Dennoch weigerte er sich (im Gegensatz zu Boock und einigen anderen), seine früheren Motive gänzlich zu verleugnen oder gar ehemalige MitkämpferInnen zu belasten.

Ihm und anderen nicht dogmatischen - aber eben auch nicht opportunistischen - früheren RAF-KämpferInnen wie Folkerts, Ella Rollnik oder Karl-Heinz Dellwo geht es bei der Einordnung ihrer Geschichte weniger ums «Rechthaben» als um eine politische Diskussion, die die damaligen politischen und zeitgeschichtlichen Gründe berücksichtigt, die sie als ursächlich für ihre Irrtümer sehen.

Ein neuer Faschismus?

In diesem Zusammenhang ist ein Interview von Interesse, das Helmut Schmidt Ende August der Wochenzeitung «Die Zeit» gab. Schmidt, während der Schleyer-Entführung Bundeskanzler, plauderte als jetziger Mitherausgeber der «Zeit» mit dem «Zeit»-Chefredaktor über jene dramatischen Tage im Oktober 1977. Auf die Frage, wie man in so schwerer Stunde - Schleyer und die «Landshut»-Maschine waren entführt - im Krisenstab unbeirrt an der harten Linie festhalten konnte, gab Altkanzler Schmidt zu Protokoll: «Wir waren ja erwachsene Männer und keine Jugendlichen. Wir hatten alle die Kriegsscheisse hinter uns (...) und waren abgehärtet. Und wir hatten ein erhebliches Mass an Gelassenheit bei gleichzeitig äusserster Anstrengung der eigenen Nerven und des eigenen Verstandes. Der Krieg war eine grosse Scheisse; aber in der Gefahr nicht den Verstand zu verlieren, das hat man damals gelernt.»

Eine über den Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg erworbene Erfahrung hat dem Krisenstab also nicht unwesentlich geholfen und ihn geeint. An anderer Stelle sagt Schmidt: «Ich habe mich weiss Gott wegen der Kiesinger-Regierung zu verteidigen. [Kurt Georg Kiesinger war von 1966 bis 1969 Bundeskanzler.] Es waren lauter ehemalige Nazis drin: Kiesinger war Nazi, [Bundespräsident Heinrich] Lübke zumindest Mitläufer, [Wirtschaftsminister Karl] Schiller war auch Mitläufer. Unter [Konrad] Adenauer strotzte das ganze Bundeskanzleramt vor Nazis - so war das. Aber zu behaupten, der Rechtsstaat sei in Gefahr gewesen, ist dummes Zeug.»

Im Nachhinein wird ihm da ein Grossteil der früheren KontrahentInnen aus der Linken nicht widersprechen. Nur war die Entwicklung in den sechziger und siebziger Jahren vielleicht weit weniger absehbar, als dies Schmidt heute darstellt. Stefan Wisniewski sagte 1997 - da sass er noch im Gefängnis - in einem Interview mit der «Tageszeitung»: «Es gab in der Zeit die Theorie vom neuen Faschismus, der aus den Institutionen kommt und keine Massenbasis braucht. Beides hat so nicht gestimmt. Diese schräge Theorie wurde nicht nur von der RAF vor- und nachgebetet, sie führte auch dazu, dass wir uns auf einen militaristischen Schlagabtausch mit dem Staat beschränkten.» Unter den Bedingungen von Postfaschismus und Kaltem Krieg hatte sich die Linke in den meisten westlichen Ländern unter ähnlichen - falschen - Prämissen wie in Deutschland damals radikalisiert.

Beide Augen zu

Wie lapidar insbesondere in Deutschland mit der NS-Geschichte umgegangen wurde, zeigt eine weitere Passage aus dem Schmidt-Interview. Auf die Frage, ob er Schleyer gut kannte, antwortete Schmidt, Schleyer sei «sicherlich zwei-, dreimal bei uns zum Abendessen gewesen». Er sei nicht mit ihm befreundet gewesen, aber sie hätten es gut miteinander gekonnt. Und dann wird es richtig interessant: «Er war ein sachlicher Mann, und er war kein reaktionärer Arbeitgeber. Von seiner Geschichte bis 1945 habe ich damals nichts gewusst.» Nachfrage des Interviewers: «Von seiner Zeit als SS-Offizier haben Sie erst im Zuge der Entführung erfahren?» Antwort Schmidt: «Das kam viel später.»

«Viel später» - darf man dies Schmidt glauben, der selber einen Grossteil seiner Jugend im Nationalsozialismus zubrachte und bei der Wehrmacht gekämpft hatte? Wohl kaum. Eher könnte man annehmen: Es war ihm damals einfach egal. Historisch beide Augen zuzudrücken, gehörte in der alten Bundesrepublik zum Programm, zumindest für viele, die oben waren oder nach oben wollten.

Das belegen auch die mittlerweile erschienenen Biografien, die sich wissenschaftlich mit den Eliten im NS-Nachfolgestaat beschäftigen. Gerade vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, wie wenig Beachtung in den derzeitigen Diskussionen Werke wie jenes von Lutz Hachmeister («Schleyer - Eine deutsche Geschichte») finden. Dabei wären sie ein Schlüssel zum Verständnis und Selbstverständnis einer Gesellschaft und ihres Establishments, gegen das die Jugend in den sechziger Jahren aufbegehrte und kurz darauf die RAF Amok lief: Wendehälsen wie dem früheren Nazi Schleyer fehlte Zeit ihres Lebens jegliches Unrechtsbewusstsein für das, was sie aktiv zum Untergang der Weimarer Republik und zum Aufbau des Dritten Reiches beigetragen haben. «Entjudung», Massenmord und Okkupation waren ihnen so selbstverständlich wie das Einfordern von Managerposten in der neuen Bundesrepublik.

Banales aus der Familienforschung

In seiner Bewerbung für den Geschäftsführerposten der Industrie- und Handelskammer Baden-Baden im Jahr 1949 strich der frühere SS-Offizier und leitende Wirtschaftskader im besetzten Protektorat Böhmen und Mähren Schleyer ausgerechnet seine «Kenntnis der Organisation der gewerblichen Wirtschaft und Erfahrungen im Aussenhandel» sowie «den festen Willen zum restlosen Einsatz meiner Person für eine gestellte Aufgabe» heraus. Bei anderer Gelegenheit beschwerte sich Schleyer, «im Osten Hab und Gut verloren» zu haben - dabei residierten die Schleyers zuletzt in einer arisierten Villa im besetzten Prag. Das Übel, auf das die Jugend in den sechziger Jahren im Westen stiess, war keineswegs eingebildet, auch wenn die theoretischen und praktischen Schlüsse, die die radikalisierte Linke daraus zog, später teilweise verhängnisvoll waren.

Heute sind sich viele der von den Attentaten ab den siebziger Jahren unmittelbar Betroffenen der zeitgeschichtlichen Verstrickung viel stärker bewusst als einige der früheren linken Claqueure. Wem der Vater weggeschossen wird, möchte anscheinend genauer wissen warum. Blättert man hingegen in voluminösen Bänden, wie sie Wolfgang Kraushaar zu «Die RAF und der linke Terrorismus» herausgibt, stösst man allzu oft auf leidenschaftsloses Halbwissen. Zur Erklärung, warum einige in den Untergrund gingen und andere nicht, werden Banalitäten aus der Familienforschung bemüht.

Tobias Wunschik schreibt dort beispielsweise, «dass in einem Alter von 14 Jahren jeder vierte deutsche Linksterrorist nicht mehr in einem vollständigen Elternhaus lebte». Dies gelte insbesondere für die zweite Generation der RAF. «Peter-Jürgen Boock beispielsweise war vormals lange Zeit in Jugendheimen untergebracht, die alleinstehende Mutter der Brüder Wolfgang und Henning Beer litt an Alkoholsucht, und auch bei Inge Viett, Silke Maier-Witt, Brigitte Mohnhaupt, Volker Speitel und Stefan Wisniewski fehlten Elternteile.»

Sicherlich, Stefan Wisniewskis Vater, der Zwangsarbeiter aus Polen, verstarb früh. Das mag faktisch genauso stimmen wie die Tatsache, dass SS-Offizier Schleyer aus einer nach gängigen Vorstellungen völlig intakten Familie stammte. Nur, was besagt dies alles? Bestimmt nicht, dass der eine den anderen hat oder hätte erschiessen dürfen. Die auf der einen oder anderen Seite näher Beteiligten wissen das. Doch solange die juristische die politische Diskussion überdeckt, kann dies anscheinend nicht richtig wahrgenommen und ausgedrückt werden.