Stadtentwicklung: Alchemie macht deinen Marktplatz unsicher

Nr. 45 –

Nur fünf Prozent der BewohnerInnen fühlen sich unsicher - trotzdem werden Kameras installiert. Wie Schweizer Städte ihre Politik auf Bevölkerungsbefragungen stützen, auch wenn das Gegenteil drinsteht.

«Die Bevölkerungsbefragung». So lautete das erste Argument von Polizeivorstand Nino Cozzio letzte Woche auf einem Politpodium in St. Gallen. Es ging um die Vorlage zur Videoüberwachung, die am 25. November an der Urne entschieden wird. Laut Cozzio habe die 2005 vorgenommene Umfrage gezeigt, dass sich die Bevölkerung unsicher fühle. Darum nun die Vorlage «Sicherheitserhöhung durch Videoeinsatz und Alarmeinrichtungen» - ein Überwachungssystem mit 36 Kameras, welche den zentralen Marktplatz, zwei Bahnhofsunterführungen und das neue Fussballstadion filmen (siehe WOZ Nr. 33/07). Teils in sogenannter «Echtzeit», teils auf Knopfdruck - zur 2,5 Millionen Franken teuren Investition gehören auch elf Notrufsäulen. SOS, wie auf der Autobahn.

Auch das übernächste Argument von Cozzio war «die Bevölkerungsbefragung». Nun führte er sie genauer aus: Es wären zehn Prozent der Befragten, die sich auf dem Marktplatz unsicher fühlten. Der Berichterstatter vom «Tagblatt» schaute sich am nächsten Tag die Statistik genau an und stellte fest: Sogar nur fünf Prozent der Befragten haben sich unsicher gefühlt. Der Polizeivorstand lud daraufhin zur Pressekonferenz und korrigierte die Zahl, die noch anders falsch im Abstimmungsbüchlein steht (dort ist von neun Prozent die Rede). Nicht aufgegeben hat Cozzio allerdings seine falsche Interpretation der Umfrage: Das Ziel des Stadtrates sei es weiterhin, dass sich die St. GallerInnen «angstfrei» bewegen könnten, sagte der CVP-Politiker. Anstatt zu jubilieren: Rekordwert! 95 Prozent fühlen sich sicher auf dem zentralen Platz der Stadt!

Im Vergleich

Gewiss hat die Prozentposse mit dem Ausgang des Abstimmungsrennens am 25. November nichts zu tun. Aber vielleicht mit seinem Anfang. Umfragen werden nämlich allerorten in Auftrag gegeben:

«Die Resultate der vorliegenden Befragung sind wiederum sehr erfreulich (...) Die ZürcherInnen sind stolz auf ihre Stadt und die hohe Lebensqualität, die sie hier geniessen.»

«Dies sind nur ein paar Ergebnisse aus der telefonischen Bevölkerungsbefragung. 1063 WinterthurerInnen wurden zu den Lebensbedingungen und zur Wohnsituation in der Stadt befragt und gaben Rückmeldung über die Stadtverwaltung und Politik.»

«Anfang dieses Jahres fand in Basel die dritte Bevölkerungsbefragung statt (...) Damit ist es bereits möglich, neben einzelnen Momentaufnahmen erste Entwicklungstrends auszumachen.»

Wer sich derzeit durch die Websites der grösseren Schweizer Städte klickt, merkt rasch: Alle nehmen Bevölkerungsbefragungen vor, und zwar koordiniert - jedes zweite Jahr, mit dem gleichen Grundkatalog an Fragen. So wird ein Vergleich möglich. Dazu kommt meist ein lokales Schwerpunktthema. Diesen Herbst ist es wieder so weit: Abgesehen von der neusten St. Galler Befragung sind die Umfragen bereits ausgewertet und publiziert. Am 12. Dezember folgt der Vergleich der Resultate.

Umfragepionier ist Bern. Hier wird seit 1995 befragt. In Zürich fand eine Befragung erstmals 1999 statt, in Basel 2003, in St. Gallen 2005 und schliesslich in Winterthur in diesem Jahr. Befragt wird eine nach Alter, Herkunft, Wohnsituation differenzierte Stichprobe aus der Bevölkerung.

Was ist der Zweck der Befragungen? Walter Eichhorn von den Berner Statistikdiensten: «Sie dienen der Politikkontrolle einerseits und der Informationsbeschaffung andererseits.» Welche Mittel werden gebraucht? «Die externen Kosten für ein Marktforschungsinstitut betragen 60 000 bis 70 000 Franken. Hinzu kommt die interne Auswertung.» Und die Folgen für die Politik? Eichhorn lacht und sagt: «Da halten wir uns als Statistiker raus.»

Legitimitätsressource

Unpolitisch sind die Umfragen allerdings nicht - im Gegenteil: Wohl können die Befragten die drei grössten Probleme ihrer Stadt selbst nennen. Doch dann sollen sie auch die Lebensbedingungen, beispielsweise die Sauberkeit auf Strassen und Plätzen, oder Einrichtungen, etwa das Kulturangebot, nach Wichtigkeit und Zufriedenheit benoten. Das ergibt einen sogenannten «Handlungsbedarfsindex». Schliesslich sollen verschiedene städtische Massnahmen bewertet werden, gegen den Drogenmissbrauch, für die Verkehrsberuhigung und so weiter.

Abgefragt werden also zur Hauptsache äussere Merkmale und innere Befindlichkeiten - soziale oder wirtschaftliche Fragen kommen nur am Rand vor. In einem beinahe alchemistischen Prozess wird, über die Zutaten in Form vorgegebener Antworten - «sehr einverstanden», «eher einverstanden», «eher nicht einverstanden», «nicht einverstanden» - aus dem Weichen, dem diffusen Gefühl, das Harte, ein politischer Fakt. Ein Postkartenbild der Stadt entsteht, mit Zahlen belegt. Wer die Kriterien festlegt, entscheidet auch über die Ergebnisse. Das zeigt sich speziell beim Schwerpunktthema: In St. Gallen, bei bürgerlich dominiertem Stadtrat, lautete es 2005 «Sicherheit und Sauberkeit». Elmar Ledergerbers Zürich wiederum wollte in diesem Jahr mehr über die Einstellung der Bevölkerung zu den «vielfältigen Veränderungen» in der Stadt wissen, namentlich zu den Grossbauprojekten wie Kongresshaus oder Sihlcity.

Timon Beyes ist Soziologe an der Universität St. Gallen. Er verfolgt die Kameradiskussion, sprach selbst in einem Vortrag zur «Logik der Sicherheit». Beyes sieht die Befragungen in erster Linie als «Legitimitätsressource» für die Politik. Überschaubarkeit sei nicht mehr zu haben - die Statistik werde zur neuen Autorität. Sie simuliere etwas Beruhigendes, Verlässliches. Auch in ihrer Form, etwa in Balkendiagrammen. «Kritischer kann man durchaus von einer Regierungstechnik sprechen. Das Leben wird durch Evaluationen regiert. Im Hotel, an der Universität, auch in der Zeitung - überall gilt es, Fragebogen auszufüllen. Warum sollen die Städte da nicht mitmachen?» Mit dem Städtevergleich als Fluchtpunkt werden die BürgerInnen zu KundInnen - befragt nach Kriterien, die dem Stadtmarketing dienlich sind. «Dass die Fragen nach der Sicherheit zahlreich sind, verwundert nicht. Die Sicherheit als offener Begriff, lediglich definiert durch die Abwesenheit von Unsicherheit, eignet sich perfekt für gefühlsmässige Einschätzungen.»

Und so verwundert es auch nicht weiter, dass zu Beginn niemand bemerkte, dass sich auf dem St.Galler Marktplatz mehr als neunzig Prozent sicher fühlen. Und dass der Polizeivorstand trotzdem nur über die restlichen Prozente redete. Es ging in der Umfrage, wie jetzt im Titel der Vorlage, um die «Sicherheitserhöhung». Auch wenn sie schon fast beim Maximum angekommen ist.