Wahl ins Stadtpräsidium: St. Gallens Aufbruch in die Welt
Ein kultureller Aufbruch hat die politischen Verhältnisse in St. Gallen auf den Kopf gestellt. Diesen Sonntag könnte mit Maria Pappa erstmals eine Frau und Seconda das Stadtpräsidium erobern.
Anfang der achtziger Jahre rottete das zugenagelte und baufällige St. Galler Kunstmuseum bereits zehn Jahre vor sich hin, gewissermassen als Sinnbild für den Niedergang bürgerlicher Kultur. Politisch schwebten die Bürgerlichen damals allerdings noch über allen. Stadtparlament und Stadtrat waren fest in ihrer Hand. CVP und FDP dominierten nach Belieben. Ihre Macht ist seither dramatisch zerfallen.
Vierzig Jahre später können die beiden Parteien froh sein, wenn überhaupt eine von ihnen im Stadtrat verbleibt. Die CVP ist seit 2017 – nach dem Tod des beliebten Nino Cozzio – erstmals seit 99 Jahren nicht darin vertreten. Cozzio wurde durch die Grünliberale Sonja Lüthi ersetzt. Damit war die einstige bürgerliche Dominanz im fünfköpfigen Gremium endgültig gebrochen. Übrig blieb bloss noch FDP-Stadtpräsident Thomas Scheitlin.
Nach dessen Rücktritt könnte die FDP nun das gleiche Schicksal wie die CVP ereilen. Die ehemals politisch Verbündeten streiten sich nun um den übrig gebliebenen Knochen. Und nach dem nächsten Wochenende kann sich die Mitte-links-Dominanz im zweiten Wahlgang um das Stadtpräsidium nochmals akzentuieren. Dann nämlich, wenn sich bei der Wahl ins Stadtpräsidium die bisherige SP-Stadträtin Maria Pappa gegen den freisinnigen Kandidaten Mathias Gabathuler durchsetzt. Ihre Wahl ist wahrscheinlich. Im ersten Wahlgang distanzierte sie ihren Gegner deutlich. Maria Pappa wäre die erste Stadtpräsidentin in der Geschichte St. Gallens – und die erste Seconda im Amt. Sie hat sich vor zehn Jahren einbürgern lassen, wurde erst vor acht Jahren ins Stadtparlament gewählt, und vor vier Jahren holte sie für die SP einen zweiten Stadtratssitz.
Pappa hat bisher mit einem partizipativen Politikstil überzeugt: So brachte sie als Bauvorsteherin die jahrzehntelang umstrittene Neugestaltung des Marktplatzes in einer Abstimmung durch.
SP-Präsident Peter Olibet sagt: «Maria Pappa hat sich als Stadträtin rasch etabliert. Und in welchem Zustand die FDP ist, kann man daran ablesen, dass sie mit Mathias Gabathuler ein politisches Greenhorn ins Rennen schickt.»
Weg mit dem Mief
Dieser Rutsch nach links hat nur bedingt mit inspirierender Parteipolitik zu tun. St. Gallen folgt mit Verspätung einem Trend, der sich in den anderen Schweizer Städten bereits vollzogen hat: Sie ist nach links gerückt.
Das Fundament dafür legte ein kultureller Aufbruch, der Anfang der achtziger Jahre einsetzte und bis heute anhält. Der Künstler Josef Felix Müller sagt: «Bemerkenswert ist, dass es in St. Gallen nicht bei diesen Gründungen blieb, die folgenden Generationen haben diesen Weg auf zeitgemässe Weise weiterentwickelt. Es gab kaum Generationenkonflikte, wie das sonst so ist.»
Es waren Achtzigerbewegte, KünstlerInnen, Feministinnen und Linke, die die Atmosphäre veränderten, die Türen öffneten und gegen Widerstände den bürgerlichen Mief auslüfteten und die Welt nach St. Gallen holten. Die Politische Frauengruppe trug bereits ab 1981 (und bis heute) die feministische Perspektive ins Stadtparlament. Bewegte kämpften für Freiräume wie die Kunsthalle, das Konzertlokal Grabenhalle oder das Kinok. Heute sind dies alles etablierte Institutionen.
Die nachfolgenden Generationen trieben diese Entwicklung voran. Sie waren und sind nicht bewegt in scharfer Abgrenzung zum Etablierten, sie sind beweglich, ohne Berührungsängste und dennoch klar links, die meisten jedenfalls.
1994 wurde das Kulturmagazin «Saiten» gegründet, das nicht als politisches Projekt angelegt war, sich aber Anfang der nuller Jahre in St. Gallen mit politischem Journalismus profilierte. Es ist auf dem Platz mittlerweile die einzige Gegenstimme zum bürgerlichen «St. Galler Tagblatt». In den nuller Jahren entstanden neue Kulturräume wie das Konzert- und Diskussionslokal Palace. Diese kulturellen Bewegungen sind selbst politisch und beeinflussen die Politik. Paul Rechsteiners historische Wahl in den Ständerat schöpfte aus dieser Bewegung, die sich für ihn engagierte.
Kunstmuseum als Test
Wie im Stadtrat sind auch im Parlament die moderaten und linken Kräfte gegenüber der vergangenen Legislatur erstarkt. Die St. Galler Linke sollte nun beweisen, dass sie anders agiert als die bürgerlichen PolitikerInnen. Just das Kunstmuseum wird dabei zum Test. Im Sommer hat der Stadtrat eine dringend nötige Sanierung auf 2025 verschoben. Bleibt zu hoffen, dass der neu zusammengesetzte Stadtrat auf den Entscheid zurückkommt. Ein zugenageltes Kunstmuseum ist etwas für Bürgerliche.