Durch den Monat mit Jacqueline Revaz Frey (Teil 4): Hat die Einzelpraxis ausgedient?

Nr. 22 –

Jacqueline Revaz Frey über die notwendige Forschung in der Hausarztmedizin, neue Formen der medizinischen Zusammenarbeit und die prekäre Situation in Pflegeheimen.

Jacqueline Revaz in ihrer Praxis: «Für mich als Hausärztin der alten Garde geht es nicht nur um die punktuelle Behandlung, sondern vor allem auch um die langjährige Begleitung.»

WOZ: Jacqueline Revaz, der 2012 von Bundesrat Alain Berset lancierte Masterplan «Hausarztmedizin und medizinische Grundversorgung» verlangt für jede Universität einen Lehrstuhl für Hausarztmedizin. Wozu braucht es das?
Jacqueline Revaz: Wenn nun an allen Universitäten in der Schweiz ein solcher Lehrstuhl eingerichtet wird, wertet das auch unseren Beruf auf. Die Lehre in Hausarztmedizin ist schon gut im Grundstudium integriert. Die Forschung dazu steckt aber noch in den Kinderschuhen – als Hausärztin hat man ja auch kaum Zeit zum Forschen. Dies ist aber für uns und für die junge Generation von Hausärztinnen und Hausärzten zentral.

Was würden Sie gern erforscht haben?
Ganz allgemein: die Abläufe innerhalb der medizinischen Grundversorgung, insbesondere die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Fachleuten. Die Erforschung einer solchen Interprofessionalität ist auch angesichts der demografischen Entwicklung nötig: Da immer mehr Menschen immer älter werden, steigt die Zahl der Patienten, die gleichzeitig mehrere Krankheiten haben und von verschiedenen Leuten behandelt werden. Die sogenannte Polymorbidität ist eine der grössten Herausforderungen für unser Gesundheitswesen. Bei dieser Vielfalt von Krankheiten muss aber jemand den Überblick haben. Das sollte in meinen Augen die Hausärztin oder der Hausarzt sein.

Der Begriff «Interprofessionalität» geistert schon seit längerem durch die Debatten.
Dabei geht es auch um die Anerkennung der Stärke und der Besonderheit der Pflegeberufe, der medizinischen Fachangestellten und der Hausärzte. Gerade in Bezug auf die Polymorbidität braucht es ein gutes Zusammenspiel der verschiedenen Akteure. Dazu sollte jeder in seinem Rahmen in voller Eigenverantwortung handeln können. Es ist ein Unsinn, wenn eine Hausärztin darüber entscheiden muss, wie viel Zeit die Spitexbetreuerin für das Anziehen der Strümpfe braucht. Diese Entscheidungen sollte man speziell dafür ausgebildeten Pflegefachleuten zugestehen.

Wichtig ist auch die Aufwertung des Berufs der medizinischen Praxisassistentin MPA. Auch sie sollte mehr Kompetenzen erhalten. Anstatt neue Berufe zu erfinden, sollte man in bessere Weiterbildungsmöglichkeiten für die medizinischen Praxisassistentinnen investieren.

Gibt es nicht schon heute immer mehr medizinische Zentren, die versuchen, interprofessionell zu arbeiten?
Das ist auch gut so, weil die intensivierte Zusammenarbeit zwischen Ärzten, medizinischer Praxisassistentin, Pflegefachleuten und Physiotherapeuten immer unabdingbarer wird, da uns sonst die Ressourcen fehlen. Aber jemand muss dabei die Führung übernehmen, und das ist wohl doch eher der Hausarzt.

Die Zahl der Gemeinschaftspraxen und medizinischen Zentren ist in den letzten Jahren gestiegen: Hat die Einzelpraxis ausgedient?
Ich sage immer: Die Zukunft wird bunt sein. Es wird für die medizinische Grundversorgung in Zukunft ebenso Einzelpraxen wie Gemeinschaftspraxen oder medizinische Zentren brauchen, die zusammen mit anderen Gesundheitsfachleuten eine integrierte Versorgung anbieten. Das heisst noch lange nicht, dass es überall grosse Praxen braucht. Die Walk-in-Klinik am Bahnhof zum Beispiel ist nicht unbedingt für die achtzigjährige gehbehinderte Patientin gedacht, sondern eher für den jungen Geschäftsmann, der am Morgen Halsweh hat und das schnell vor dem nächsten Zug zeigen will. Hier kommt also ein gewisses Konsumverhalten ins Spiel: der Wunsch nach sofortiger Behandlung – und sofortiger Besserung.

Dann gibt es aber auch Patienten, die eine kontinuierliche Betreuung benötigen. Für mich als Hausärztin der alten Garde geht es nicht nur um die punktuelle Behandlung, sondern vor allem auch um die langjährige Begleitung. Dafür braucht es weiterhin die Praxis, in welcher Form auch immer.

Was heisst das für die Zusammenarbeit zwischen Hausärzten und Pflegeheimen?
Bereits heute leiden viele Heime darunter, dass immer weniger Hausärzte für die Betreuung der Heimbewohner zur Verfügung stehen. Ich selber gehe oft in ein Pflegeheim, um dort ehemalige Patienten privat zu betreuen – weil ich sie nicht fallen lassen möchte und verhindern will, dass sie unnötigerweise im Notfall landen.

Und Sie haben nie daran gedacht, die eigene Praxis auszubauen?
Wir wären offen gewesen, eine neue Struktur aufzubauen. Aber die Finanzierung ist unklar. Häufig ist leider die öffentliche Hand nicht bereit, solche Projekte finanziell zu unterstützen. Was ich schon lange gern hätte: eine junge Ärztin als Assistentin, in einem Teilzeitpensum zum Beispiel. Auch mit dem Hintergedanken, dass eine dieser Assistenten oder Assistentinnen dereinst die Praxis übernehmen könnte. Aber dazu haben wir zu wenig Platz in unserer Praxis. Also müssten wir zügeln, und das wäre dann doch, ein paar Jahre vor der Pensionierung, nochmals ein grosser Schritt.

Jacqueline Revaz Frey (57) führt mit ihrem 
Mann Bruno Frey-Revaz seit 25 Jahren 
eine Hausarztpraxis in Dotzigen, einem kleinen 
Dorf im Seeland bei Biel. Als Vorstandsmitglied 
und ehemalige Kopräsidentin der Berner Hausärzte engagiert sie sich für die Stärkung 
der medizinischen Grundversorgung.