Rea Brändle (1953–2019): Die Einzigartigkeit des Lebens
Sie war eine profilierte Journalistin und schrieb auch für die WOZ. Mit ihren bahnbrechenden Studien zu «Völkerschauen» hat sie die Diskussion um den Postkolonialismus mitgeprägt. Nun ist die Autorin Rea Brändle mit 66 Jahren gestorben.
Wir hatten denselben Jahrgang, 1953, und ich lernte Rea Brändle während des Studiums in Zürich kennen, am Deutschen Seminar. Wir gehörten, wie es sich damals gehörte, zur Basisgruppe Germanistik, und im März 1978 schrieben wir zusammen eine Seminararbeit: «Beobachtungen zu Frauensendungen von Radio DRS». Gleichberechtigung war Rea Brändle früh ein selbstverständliches Anliegen. So wirkte sie in der Frauengruppe der Schweizerischen Journalisten-Union (SJU) mit, die 1984 die Broschüre «Die Sprache ist kein Mann, Madame» herausgab.
In den achtziger Jahren arbeiteten wir parallel beim «Tages-Anzeiger». Rea Brändle war schon 1981 in die Kulturredaktion eingetreten, dort traf ich sie einige Jahre später, nach einem Umweg über andere Ressorts. Es waren fordernde Zeiten, die Kultur als fortschrittliche Bastion im Gegenwind des Neoliberalismus. Rea hatte sich neben der Literatur aufs Theater spezialisiert, sie schrieb mit Engagement, mit Empathie oder Empörung, die nicht ins Pathos kippten. Ihre Meinungen waren entschieden, auch in der Kulturpolitik, in der sie sich zunehmend profilierte.
Ein Findling
Der Herkunft aus dem Toggenburg blieb sie jederzeit verbunden, in aller Ambivalenz. Ihr erstes Buch, «Johannes Seluner. Findling» (1990), griff den Fall eines «enfant sauvage» aus der Region auf, eines Ausgegrenzten, lange bevor solche Geschichten in den Mainstream gerieten. Sie hat beschrieben, wie Bekannte in der Stadt «befremdet» auf den gewählten Stoff reagierten: «Ob ich tatsächlich unter die Heimatdichter gegangen sei, es gäbe doch weiss Gott aktuellere Themen in diesem Land, Fremdenphobie und Rassismus, Asylantenhetze, Gentechnologie und ständige Ausgrenzung sogenannter Minderheiten. Ja, das sind wichtige Diskussionen, konnte ich darauf nur sagen und selber noch nicht ganz glauben, dass ich in meiner Seluner-Recherche exakt auf solche Themen gestossen war.» Dabei verknüpfte sie eine exemplarische Fallstudie, was die Reaktionen auf den taubstummen Unbekannten betraf, mit dem Versuch, die Einzigartigkeit eines Lebens zu vergegenwärtigen, das doch ein Rätsel blieb.
In der WOZ publizierte sie 1992 eine Reportage über eine Gruppe von «Wilden aus Feuerland», von denen 1882 im Rahmen einer «Völkerschau» in Zürich Fluntern fünf elendiglich gestorben waren. Für die Schweiz war das Thema Neuland. Der Band «Wildfremd, hautnah» (1995) versammelte dann zehn Beiträge über Völkerschauen in Zürich zwischen 1880 und 1960, und er regte auch die internationale Forschung an. 2013 erschien das Buch in einer massgeblich erweiterten Neuausgabe; in der Diskussion um den Postkolonialismus hatte es neue Aktualität gewonnen, was sich an vielen Einladungen zu Vorträgen zeigte.
Während der Recherchen war Rea Brändle auf die Figur eines Togolesen gestossen, der als Unternehmer selbst eine Völkerschau durch Europa geführt hatte. Daraus entstand «Nayo Bruce. Geschichte einer afrikanischen Familie in Europa» (2007). Das weiträumig recherchierte Buch ist wissenschaftlich, dokumentarisch, aber ihre Quellen übersetzte Rea jeweils in einen Lauftext. So bleibt es jederzeit anschaulich, ohne etwas fiktional zu überhöhen. An Nayo Bruce zeigte sich auch die – beschränkte – Handlungsmacht einzelner afrikanischer Protagonisten. Auch hier: die Einzigartigkeit des Lebens.
Daneben trug Rea Brändle vielfältig zu verschiedenen Projekten bei, etwa zu einem Sammelband über die Zürcher Zentralbibliothek oder zu verschiedenen Monografien über bildende KünstlerInnen. Den Toggenburger Instrumentenmacher Ulrich Ammann würdigte sie auch in Theaterform. Zusammen mit Mario König verfasste sie 2012 eine Biografie von Alfred Huggenberger über die «Karriere eines Schriftstellers», die wegen der klar dargestellten reaktionären Tendenzen des Heimatdichters wiederum einiges aufwirbelte.
Hartnäckig und treu
In all diesen Jahren schrieb sie regelmässig für die WOZ. In ihren Texten zur Literatur arbeitete sie die künstlerischen Mittel für den bestimmten Zweck heraus; das war jederzeit geschmeidig geschrieben, jederzeit präzis gedacht. Als sie 2006 in der WOZ-Kulturredaktion aushalf, rief sie mich gelegentlich an: Sie wolle mich zu einem Artikel verführen, und wenn sie erläuterte, was sie sich von mir erwarte, war ich schon dafür gewonnen.
Rea Brändle war hartnäckig. Das war eine Tugend beim Nachforschen; ihre Nacherzählungen und Detailkenntnisse überforderten mich im Gespräch gelegentlich. Sie war unverblümt. Aber treu. Ja, sie behielt einen unverbrüchlich im Gedächtnis, erinnerte sich an Begebenheiten oder Gespräche, die mir längst in den Nebel der Vergangenheit versunken waren.
Gegen den Krebs kämpfte sie seit Anfang 2018 so wie bei allem, was sie anpackte: entschlossen und mutig. Sie arbeitete an einem dritten Buch über Völkerschauen, doch verschlimmerte sich die Krankheit. Während eines letzten Besuchs bei uns wünschte sie sich noch einmal, den reinen Sternenhimmel zu sehen, nicht überschattet von künstlichem, zivilisatorischem Licht. Am 2. September ist Rea Brändle gestorben.