Sachbuch: Überreizt und abgestumpft
Viele der frühen Völkerschauen fanden auf Jahrmärkten statt. Das Buch «‹Wilde, die sich hier sehen lassen›» schildert das entmenschlichende Nebeneinander von Tieren, Menschen und automatisierten Wachsfiguren.
Ihre Gebeine lagen in Kartonschachteln, die vor dreizehn Jahren im Anthropologischen Institut der Universität Zürich in einer kleinen Zeremonie einer chilenischen Delegation übergeben wurden. Zehn Feuerländer:innen waren im Winter 1882 in Zürich angekommen; eine Frau war bereits bei der Anreise im Güterwaggon gestorben, die anderen waren krank. Trotzdem wurden sie in einem Theater am Zürichberg dem zahlenden Publikum vorgeführt – fiebernd, hustend, frierend. Beworben wurde das grausame Spektakel mit den Worten «Die Wilden der Feuerland-Inseln im Plattengarten»; die Presse spekulierte über kannibalistische Bräuche dieser «Wilden». Am Ende des Zürcher Aufenthalts waren fünf der Südamerikaner:innen tot. Ihre Körper wurden im Anatomischen Institut der Uni Zürich seziert, ausgemessen, einzelne Körperteile gar nach Deutschland verschickt. Diese Wissenschaft verhielt sich genau so, wie sie ihr Gegenüber taxierte: barbarisch – über den Tod hinaus.
Die Restitution und schliesslich die würdige Bestattung auf einer chilenischen Insel hätte es kaum gegeben ohne die hartnäckige Recherchearbeit der Journalistin und Historikerin Rea Brändle. Sie war einst zufällig auf die sterblichen Überresten der Feuerländer:innen gestossen, als sie im Anthropologischen Institut der Universität Zürich nach den Knochen von Johannes Seluner, bekannt als «wildes Wolfskind» vom Toggenburg, gesucht hatte. Ihr Buch «Johannes Seluner. Findling» erschien 1990.
Seither hatte Brändle das Thema der sogenannten Völkerschauen, die im 19. und bis weit ins 20. Jahrhundert in ganz Europa auf Jahrmärkten, in Wirtshäusern, zoologischen Gärten, Weltausstellungen und im Zirkus inszeniert worden waren, nicht mehr losgelassen. Auch ein Kapitel im neuen Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe («Zürich und der Kolonialismus») stützt sich massgeblich auf Brändles Buch «Wildfremd, hautnah», ihre erste Aufarbeitung der Zurschaustellung «exotischer» Menschen als Massenvergnügen in Zürich und Umgebung. Kürzlich besuchte eine Delegation der Kawésqar, Seenomad:innen aus Patagonien, das Völkerkundemuseum auf den Spuren ihrer Vorfahr:innen, um der Gewaltgeschichte ein neues Kapitel entgegenzusetzen.
Schaulust in der Bilderarmut
Rea Brändle ist 2019 früh verstorben, nun ist posthum ihr letztes Buch erschienen, umsichtig editiert von ihrem Partner Andreas Bürgi. In «‹Wilde, die sich hier sehen lassen›» konzentriert sie sich vor allem auf frühe Völkerschauen und auf Jahrmärkte. Und sie hinterfragt die etablierte Scheidelinie zwischen dumpfer Schaulust und wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse, die in der Forschung ungefähr für das Jahr 1875 gezogen wird. Brändle zeichnet ein komplexeres Bild, eine Art Dialektik der Aufklärung, die klarmacht, dass sich exotistisches Spektakel und Ethnologie weder vor noch nach 1875 wirklich trennscharf unterscheiden lassen. Das so entstehende Bild ist nicht minder verstörend: die Verflechtung von Tier- und Menschenschauen; der rassistische Grundton, der Schaulust und Wissenschaft gleichermassen prägte; das Nebeneinander von Dämonisierung («Kannibalen!») und Verklärung («frei von der Fessel der modernen Kultur»).
Aufschlussreich ist auch der Begriff der Bilderarmut. Man müsse sich vergegenwärtigen, dass Europäer:innen bis circa 1850 mit ihren engen Bewegungsradien und Lebenswelten und in Ermangelung von Druckwaren kaum je mit ungewohnten Ansichten konfrontiert worden seien. Jahrmärkte und Wandermenagerien (Schausteller:innen, die mit exotischen Tieren von Ort zu Ort zogen) versetzten die Menschen in einen Ausnahmezustand.
Dass dort inmitten von Schlangenbeschwörungen, Löwen und Krokodilen Menschen aus fernen Ländern vorgeführt wurden, ist auch deshalb fatal, weil die ungewohnte Überreizung der Sinne das Mitgefühl ausgeschaltet haben dürfte. Eine andere Attraktion dieser Jahrmärkte beförderte diese Entmenschlichung wohl zusätzlich: Wachsfigurenkabinette mit Puppen von Berühmtheiten, die von den Schaubudenbesitzer:innen je nach finanzieller Lage zu beweglichen Automaten aufgerüstet wurden.
Völkerschau im Zirkus Knie
Brändle erzählt faktentreu, sachlich und doch packend. Sie rekonstruiert nicht nur Biografien von Schaubudenbesitzer:innen und ausgestellten Menschen, sondern zeigt auch, wie schon früh über Authentizität und Fakes gestritten wurde und wie auf Jahrmärkten das neue Medium der Fotografie unter die Leute gebracht wurde – zusammen mit Prototypen des Kinos.
Gut die Hälfte des Buchs ist einer Auflistung von Völkerschauen in Europa gewidmet. Aufhorchen lässt der Hinweis des Herausgebers zum Zirkus Knie, der bis 1964 ebenfalls Völkerschauen inszenierte. Er habe die Angaben nicht im Knie-Archiv in Rapperswil überprüfen können, die Verantwortlichen hätten seinen Besuch abgelehnt, schreibt Bürgi. Dazu passt, dass Rolf Knie 2019 zum 100. Geburtstag des Schweizer Nationalzirkus erklärte, Völkerschauen seien im Zirkus «normal» gewesen: «Diese Leute waren glücklich bei uns.» Die Aufarbeitung ist noch nicht zu Ende.