Rea Brändle: «Wildfremd, hautnah»: Acht Albinos im Eskimodorf
Schlangenbeschwörer, mysteriöse Ägypter und katholische Indianer: Auszüge aus Rea Brändles neu aufgelegtem und erweitertem Buch «Wildfremd, hautnah» über Völkerschauen in der Schweiz.
Für nächstes Jahr habe er eine Indienschau engagiert, schrieb Carl Knie im Dezember 1926 an mehrere kantonale Polizeidirektionen und betonte, dass diese «als Annex an unsere Tierschau für manche Gegend etwas ganz Neues sein wird». Mit der geografischen Relativierung waren die ländlichen Regionen gemeint, denn in den grösseren Schweizer Städten war schon ein Vierteljahrhundert zuvor der legendäre Circus Barnum & Bailey aus den USA aufgetreten und seither von verschiedenen internationalen Tourneebetrieben imitiert worden. Wie ihr amerikanisches Vorbild führten sie in ihren Seitenzelten kleine Völkerschauen, Freakshows und Raubtiere mit. Sideshow hiess das Konzept, darauf war auch das Projekt der Knies ausgerichtet, wobei sie sich nicht mit dem traditionellen Muster begnügten: Die Indienschau bestand aus einer Truppe von fünfzehn Personen aus Ceylon und einigen indischen Provinzen. Ihre Aufgabe war es, tagsüber in einem der kleinen Zelte ihre Sitten und Gebräuche vorzuführen und an den Abendvorstellungen im grossen Nummernprogramm mitzuwirken. Hier waren sie Teil eines Spektakels, das als «Indische Vision» angekündigt war: «Ein Fest am Hof des Maharadjas von Seidpour» hiess die mehrteilige Pantomime. Sie begann mit dem pompösen Einzug des indischen Herrschers mit seinen Gästen und einer zahlreichen Gefolgschaft, den Untertanen und einer Tierkarawane. Fünfzig Personen kamen zum Einsatz, die Inder hatten ihre Spezialitäten vorzuführen, Stocktänze beispielsweise, Bambusstangenakrobatik und Schlangenbeschwörungen.
Dass in den Seitenzelten auch Tiere ausgestellt waren, lässt sich leicht erklären. Sie mussten ohnehin mitgeführt werden, weil sie Abend für Abend in der Manege mitwirkten. Umso besser also, wenn ihnen während der langen Nachmittage ein zahlendes Publikum beim Fressen und Dösen zusah. Oder man konnte mitverfolgen, wie die Tiere ihren täglichen Auslauf bekamen, während die Käfige und Ställe geputzt wurden. (…)
Das Seitenzelt für Aussereuropäische
Ende März hatte die Tournee in Rorschach und Frauenfeld begonnen, im April war die Indienschau dazugekommen, die bis Mitte November in insgesamt 24 Städten gezeigt wurde, von Winterthur bis an den Genfersee, von Schaffhausen bis Chiasso.
Der Erfolg ermutigte den Circus Knie, sein Völkerschauenprojekt weiterzuführen. Für die nächste Saison konnten Fahmi Ezzat und – ein Pseudonym offensichtlich – Prinz Hessen Mohamed mit ihren Truppen engagiert werden. Das waren zwei Marokkaner, die sich seit Jahren im Showbusiness betätigten und, in häufig wechselnden Formationen, orientalisches Varieté zum Besten gaben. Eine gekürzte Variation ihres bewährten Programms «Ägypten und seine Rätsel» war abends in den Hauptvorstellungen der Knies zu sehen; während der übrigen Zeit hielten sie sich im Seitenzelt auf, führten kleine Kunststücke vor und verkauften Werbekarten. Ihr Publikum bestand nicht nur aus Schulklassen, wie dies die Öffnungszeiten nahelegen könnten, auch der Anthropologieprofessor Otto Schlaginhaufen, für ein paar Tage in der Innerschweiz weilend, besuchte die Seitenschau des Circus Knie, kaufte eine Werbekarte und schickte sie seiner Frau nach Küsnacht am Zürichsee: «Zur Abwechslung unternehme ich einen Abstecher nach Luzern, wo ich mich an Tier- und Völkerschau ergötze», schrieb er und erkundigte sich im PS, ob die «Neue Zürcher Zeitung» schon über seinen Vortrag berichtet habe.
Luzern und Zürich waren zwei von 27 Tourneestationen, auch kleinere Ortschaften wie Weinfelden, Brugg oder Fleurier wurden diesmal berücksichtigt, und noch ehe der Zirkus im November die Saison im Tessin beendete, war schon das Programm für 1929 eingefädelt worden, darunter auch wieder eine Attraktion fürs Seitenzelt mit dem vagen Titel «Völker-Schau von Indern und Afrikanern». Und so ging es vorderhand weiter, fast für jede Tournee der nächsten zehn Jahre wurden im Seitenzelt aussereuropäische Menschen, Kleinwüchsige und andere sogenannte Freaks ausgestellt.
Nicht nur die Knies setzten auf Nebenattraktionen. Für seinen kleinen Abstecher in die Schweiz im Sommer 1927 hatte auch der Circus Carl Hagenbeck eine «vielfache Völkerschau» angeboten, «aus Lappländern, Abessynern oder Samoanern und Indern bestehend», und als er für 1931 erneut eine Auftrittsbewilligung beantragte, erklärte er dem Zürcher Regierungsrat: «Wir werden unserem Gastspiel dadurch eine besondere volksbildende Bedeutung verleihen, dass wir eine ausgedehnte Völkerschau mitbringen, die wir durch unsere eigenen Reisenden aus ihrer fernen Heimat holen liessen und die wohl kein anderes Circusunternehmen zeigen kann.» Sein Versprechen konnte er dann allerdings aus Platzgründen nicht einhalten, weil er im Nebenzelt rund 500 Tiere mitführte, eine Art reisenden Zoo.
Für noch mehr Aufsehen sorgte Hans Stosch-Sarrasani. «Massenkonzert der 100 Sarrasani-Musiker sowie Vorführung der echten Sioux-Indianer, die Mitte Mai aus Süd-Dakota mit der ‹New York› in Cherbourg eingetroffen sind», kündigte er im August 1930 seine Attraktionen im Seitenzelt an. In einem weiteren Inserat bot er einen Tanzkurs für junge Frauen an, mit der vielversprechenden Bemerkung, ein Engagement sei nicht ausgeschlossen. Weil er jedoch davon ausgehen konnte, dass die Indianer auf das meiste Interesse stossen würden, organisierte er zusätzliche Aktivitäten ausserhalb der Zelte. So nahm er sie am 28. August, einem Donnerstag, zu einer Wallfahrt nach Einsiedeln mit. Dort gab es für sie eine Messe in der Klosterkirche, ein Mittagessen mit den Patres, anschliessend einen Fototermin und eine Extravorstellung für die Schulkinder. Die Einladung sei zustande gekommen, weil die Indianer katholisch seien, schrieben die Zeitungen. (…)
Zirkus, Krieg und Armee
1939 war die Zürcher Sechseläutenwiese den ganzen Sommer über von der Landesausstellung belegt. Die Knies konnten deshalb nicht auf ihrem Stammplatz auftreten. Weil sie aber unter keinen Umständen auf ihr, wie sie schrieben, lukrativstes Gastspiel der gesamten Schweizer Tournee verzichten konnten, bekamen sie als Ausweichmöglichkeit das Kasernenareal zugewiesen, zumal dort im Hochsommer keine Rekruten ausgebildet wurden. Gegen diesen Entscheid protestierte die Zürcher Offiziersgesellschaft schriftlich bei Regierungsrat Robert Briner. Der Kasernenhof müsse «der ernstesten dienstlichen Arbeit vorbehalten werden», heisst es im Schreiben vom 31. März 1939. Ein Zirkus habe da nichts verloren, weil eine schädigende Wirkung für das Ansehen der Armee zu befürchten sei, «und die Folgen einer solchen Profanierung würden nicht ausbleiben».
Der isländische Entfesselungstrick
Briner, Mitglied der Demokratischen Partei, mochte solche Befürchtungen nicht teilen. Die Knies kamen mit einem «Landesausstellungsprogramm» auf die Kasernenwiese und brachten als zusätzliche Attraktion eine Exoten- und Raubtierschau mit, die seltsamste Völkerschau, die bisher in ihrem Seitenzelt zu sehen war. «Eismenschen im Eskimodorf» versprachen die Inserate, ausgestellt waren acht Albinos, darunter eine junge Frau, die sich im Badekostüm eine halbe Stunde lang in einen Berg von Trockeneis einmauern liess. Eine andere Frau betätigte sich als Rechenkünstlerin, der Chef der Truppe führte den sogenannten isländischen Entfesselungstrick vor. «Es sind anspruchslose Menschen, die sich da produzieren und in ihren eigenartigen, selbstverfertigten Kleidern merkwürdig genug aussehen», schrieb der «Tages-Anzeiger». Das sozialdemokratische «Volksrecht» druckte ein Foto und orientierte ausführlich über Albinismus, mit einem nicht unzutreffenden Fazit: «Man findet solche Menschen unter allen Rassen, am häufigsten aber unter den Negern. In einigen Gegenden sind sie ein Gegenstand des Abscheus, weshalb sie sich in unbewohnte Gegenden zurückziehen und dort beisammen leben, sodass man sie als eine besondere Nation oder Rasse betrachtet hat.»
Am 26. August konnten die Knies doch noch auf den Sechseläutenplatz umziehen. Es sei allgemein bedauert worden, dass das schöne Schweizer Unternehmen seine Zelte habe so verborgen auf dem Kasernenhof aufschlagen müssen, kommentierten die Zeitungen, einzig im «Volksrecht» war zu lesen, dass vielleicht auch die politische Lage zur Dislozierung beigetragen habe, die Notwendigkeit nämlich, «den Kasernenhof für alle Eventualitäten frei zu haben».
Ein paar Tage später brach der Zweite Weltkrieg aus. In der Schweiz begann die allgemeine Mobilmachung. Die Landesausstellung wurde vorzeitig geschlossen, das Gastspiel des Circus Knie hingegen verlängert. Männer in Militäruniformen hätten nur den halben Eintrittspreis zu zahlen, hiess es am 9. September in einem der verschiedenen Inserate, die für einen Zirkusbesuch warben. Wie fast alle Unterhaltungsbetriebe verhiessen auch die Knies «eine herrliche, wohltuende Ablenkung, welche in der heutigen Zeit besonders wohltut». Befremdlicher sind die nachfolgenden Aufforderungen ans verehrte Publikum: «Lassen Sie Ihre Sympathien auch in schweren Zeiten dem National-Zirkus angedeihen», bat am 9. September ein Inserat im «Volksrecht», und auf der Inserateseite des «Tages-Anzeigers» wurde am 16. September nachgedoppelt: «Versäumen Sie nicht, das herrliche Programm anzusehen. Sie verschaffen sich während drei Stunden einen vollkommenen Genuss und verhelfen dem Schweizer National-Zirkus zu seinem Fortbestehen.»
Eine Woche später zogen die Knies nach Lausanne und Genf und beendeten die Saison wie immer Mitte November. Ihr Unternehmen verkörperte so etwas wie schweizerische Normalität. In den nächsten Jahren schrieb sich der National-Zirkus dann wieder Circus, wobei die Programme etwas bescheidener ausfallen mussten. Die Zeltarbeiter kamen nicht mehr aus Böhmen, sondern wurden in der Schweiz rekrutiert. Das Tierfutter war rationiert, der Stammplatz nicht in vollem Umfang verfügbar, weil das städtische Gartenbauamt auf der Sechseläutenwiese, wie es der Plan von Bundesrat Traugott Wahlen vorsah, Kartoffeln und Sommergerste anpflanzte.
Ehrenindianer Dr. Landolt
1946 konnte wieder ein grosses internationales Programm angekündigt werden. «Circus Knie ganz neu», so hiess der Slogan; die Inserate verwiesen auch auf die Sideshow mit dem vergrösserten Tierbestand und Tigerdressuren. Was allerdings nicht heisst, dass dort künftig keine Menschen mehr ausgestellt wurden. Die «Eismenschen» von 1939 waren die zehnte von insgesamt neunzehn Produktionen, die vom Circus Knie explizit als Völkerschauen bezeichnet wurden.
Wie beliebt Knies Völkerschauen in Zürich bis in die höchsten Kreise waren, zeigt eine Aufnahme vom Stadtpräsidenten; mit riesigem Federbusch auf dem Kopf und flankiert von zwei Indianern, posiert er für die Fotografen. Mit einer längeren Bildlegende versehen, wurde das Gruppenbild im «Tages-Anzeiger» vom 1. Mai 1958 veröffentlicht: «Als Auftakt zum Gastspiel des Zirkus Knie in Zürich stattete der Comanchen-Häuptling ‹Eisernes Pferd› in Begleitung des ‹Verrückten Fuchses› dem Zürcher Stadtpräsidenten Dr. E. Landolt eine Antrittsvisite ab, wobei das Oberhaupt der Limmatstadt zum Ehrenindianer ernannt wurde.»
«Wildfremd, hautnah»
Fast zwanzig Jahre nach der Erstauflage ist das Völkerschauenbuch von Rea Brändle in einer erweiterten Neuausgabe erschienen: grösser und schöner, gebunden, mit zusätzlichen Texten und Bildern und einem Vorwort der Geschichtsprofessorin Gesine Krüger. In der ausführlichen Dokumentation sind weit über hundert Völkerschauen aus allen Schweizer Landesteilen aufgeführt.
Rea Brändle: «Wildfremd, hautnah. Zürcher Völkerschauen und ihre Schauplätze 1835–1964». Rotpunktverlag. Zürich 2013. 256 Seiten. Zahlreiche historische Fotos. 42 Franken.