Autonomie bedeutet verteilen der Verantwortung

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Am 21. Dezember ist der linksgrüne Stadtparlamentarier und Anwalt Daniele Jenni überraschend gestorben. Anhand von Voten im Rahmen seines ersten Stadtratsmandates aus den Jahren 1981–1983 wird deutlich, wie energisch sich Jenni für Grundrechte und eine soziale Wohnpolitik eingesetzt hat. Viele der damals diskutierten Themen sind heute aktueller denn je.

Polizei, 80er-Jugendunruhen und Schnüffelstaat

Sitzung vom 30. April 1981:

Verwaltungsbericht über das Jahr 1980, Abschnitt Polizeidirektion

Wo kommen persönliche Daten her? Wie werden sie beschafft? Hat der Bürger Gelegenheit, Einblick in diese zu nehmen? Kann er wissen, was ein Denunziant, ein böser Nachbar, ein verärgerter Vorgesetzter oder Klubkamerad, ein zufällig anwesender Polizist darin hat eintragen lassen? Hat er die Möglichkeit, offensichtlich falsche Angaben berichtigen zu lassen? Wie ist Gewähr dafür geboten, dass persönliche Daten nur in die Hände von kompetenten Leuten geraten, die über die geistige Bandbreite psychologischer Bildung verfügen?

Interpellation Daniele Jenni (DA) betr. Absicht der Kantonsregierung, Kundgebungen vor dem Rathaus während der Grossratsessionen allgemein untersagen zu lassen. Eingereicht am 4. Januar 1982

Das als Vorbild für das verlangte Verbot erwähnte Kundgebungsverbot auf dem Bundesplatz während der Ratssessionen wurde bis heute nicht gerichtlich überprüft, und es ist mehr als fraglich, ob es einer solchen Prüfung angesichts der heutigen Praxis (dieses Verbot wurde 1925 erlassen) Stand hielte…

Interpellation Daniele Jenni (DA) betreffend Absperrmassnahmen bei Kundgebungen auf dem Bundesplatz. Eingereicht am 25. Februar 1982

Auch der Schutz einer Fassade rechtfertigt nicht jede Einschränkung der Freiheit. Die Massnahmen sind so wohl eher durch die Zielsetzung begründet, jenen, die ihr Anliegen durch Kundgebungen ausdrücken wollen und denen oft kein anderes Mittel der wirksamen öffentlichen Artikulation zur Verfügung steht, dieses Ausdrucksmittel unwirksam zu machen und damit zu nehmen. Auch das rührt an den Kerngehalt der geschützten Freiheit.

Quelle: Protokolle der Stadtratssitzungen.

Daniele Jenni sass auch von 2000-2007 im Stadtparlament. Seine Vorstösse und Erklärungen aus dieser Zeit sind zugänglich über das Archiv des Stadtratsprotokolls auf www.bern.ch

Stadtratssitzung vom 29. April 1982:

Interpellation Nationale Aktion betreffend neue Trägerschaft oder Schliessung des autonomen Jugendzentrums (AJZ) in der städtischen Reitschule

Der Gemeinderat hat von Anfang an nicht begriffen, dass es nicht darum geht, irgendein Zentrum zu besitzen, sondern dass ein autonomes Begegnungszentrum gefordert wird. Autonomie bedeutet nicht Verantwortungslosigkeit, sondern das Verteilen der Verantwortung auf alle Beteiligten, ohne hierarchische Struktur. Man will nicht die gleiche Struktur wie in der Verwaltung oder bei der Polizei. (…)

Die Aktionen gegen das Zentrum lassen sich nicht einfach damit begründen, dass Rechtswidrigkeiten passierten, das geschieht überall. Genau die Leute, die am lautesten für Ruhe und Ordnung schreien, werden in ihrem eigenen Selbstverständnis immer von neuem verunsichert. Sie fühlen sich ideologisch bis zu einem gewissen Grade abgedrängt. Aus dieser Ecke reagieren sie mit dem einzigen Mittel, über das sie verfügen, nämlich mit Tränengas. (…)

Es ist unmöglich, dass Menschen, die geistig bei Verstand sind, im Ernst daran glauben, man könne für dieses Zentrum Verantwortliche nennen, die tatsächlich akzeptiert würden, da man weiss, dass dies gegen die Grundprinzipen der ganzen Bewegung verstösst und die erst noch gegenüber der Polizei als Denunzianten auftreten sollten und gleichwohl das Vertrauen der dort tätigen Leute geniessen.

Stadtratssitzung vom 27. Mai 1982:

Verwaltungsbericht 1981, Abschnitt Polizeidirektion

Es wurde damals festgestellt, dass immer dann, wenn man daran war, das Zentrum aufzubauen, die Polizei mit enormen Mitteln und mit völlig unverhältnismässigen Methoden eingegriffen hat. Dies hatte auch beim neuen AJZ in der Reithalle Tradition. Über all dies steht im Verwaltungsbericht fast nichts. Andererseits wird über vier Seiten hinweg dargelegt, in er Stadt herrsche Anarchie, Unordnung, Vandalismus, Sachbeschädigungen, und dies selbstverständlich nur von der anderen Seite; die Polizei besteht demgegenüber aus Engeln. (…)

Die Jugendpolitik des Gemeinderates mit dem gegenwärtigen Scherbenhaufen zeigen, zu was es führt, gesellschaftliche Probleme mit der Polizei lösen zu wollen.

Stadtratssitzung vom 9. September 1982:

Bestandeserhöhung bei der Sicherheits- und Kriminalpolizei, Antrag des Gemeinderates auf 50 neue Stellen im Polizeidienst.

Daniele Jenni meint, die Überbelastung der Polizei wäre vermeidbar. Die Demokratische Alternative musste feststellen, dass das Gewicht sehr einseitig auf den Schutz materieller Werte gelegt wird und die Tätigkeit, die direkt zum Schutz von Leben dient (z.B. Verkehrskontrollen) vernachlässigt wird. Man kann sich natürlich als Korps und als Direktion überlastet fühlen, wenn für jede Demonstration eine halbe Armee mobilisiert wird. (…) Man kann auch bei sehr harmlosen Fällen Telefone abhören und sich nachher überlastet fühlen (…) Man erhält eher den Eindruck, dass gewisse Orte von Leuten gesäubert werden sollen, die offenbar das ästhetische Empfingen der Touristen stören. Mann kann ein provisorisches AJZ während zweier Monate fotografieren und überwachen und behaupten, man sei überlastet.

Stadtratssitzung vom 4. November 1982:

Dringliche Interpellation Junges Bern betreffend Verhältnismässigkeit der Polizeieinsätze („klare Fragen statt Hetze“) / Dringliche Interpellation POCH betreffend Polizeieinsatz auf der Schützenmatte anlässlich der Demonstration vom 18. September 1982 für die Wiedereröffnung des AJZ (polizeiliche Festnahme von 236 Personen)

Daniele Jenni (DA): Bevor in Frankreich die Bourbonen endlich das Regiment verlassen mussten, sagte man von ihnen, sie hätten nichts gelernt und nichts vergessen. In Bezug auf den Gemeinderat kann man höchstens sagen, er habe nichts gelernt und alles vergessen, falls er jemals etwas wusste. Wenn der Sprechende nicht wüsste, in welchem Ausmass in der Mehrheit des Gemeinderates und vor allem beim Polizeidirektor eine bösartige Form der politischen Unfähigkeit Platz ergriffen hat, so würde er sich über das Gesagte empören. Aber angesichts des Abgrundes von Zynismus, der dem Polizeidirektor aus dem Munde floss, verbiete sich auch das Gefühl der Empörung; denn Empörung ist ein menschliches Gefühl, das jene, die solche Aussagen stützen, und auf eine solche Art Sachen verdrehen, nicht verdienen.

Stadtratssitzung vom 27. Januar 1983:

Postulat FDP betreffend bürgernäheren Einsatz der Polizei

Daniele Jenni (DA) zweifelt nicht daran, dass diesem Postulat gute Intentionen zugrunde liegen (…) Die DA sind der Meinung, dass solche Ziele letztlich zu einer Vergrösserung des Personalbestandes bei der Polizei führen. Ein Strassenbild mit möglichst vielen Polizisten sei aber sicher keine Zierde einer Demokratie.

Wohnungsnot / Hausbesetzungen / Stadtentwicklung

Stadtratssitzung vom 18. Juni 1981:

Sanierung Gerberngasse 5, Nachkredit

Daniele Jenni (DA) weist darauf hin, dass man nicht nur Abreissen und neu Aufbauen oder von Grund auf Sanieren könne, sondern es gebe auch die sogenannte sanfte Renovation. Aus dieser resultieren dann Mietzinse, die noch zahlbar sind.

Postulat Daniele Jenni (DA) betreffend Nutzung von leerstehendem Wohnraum. Eingereicht am 21. Januar 1982

Der Gemeinderat wird in diesem Sinne angefragt, ob er bereit ist, Wohnbesetzungen soweit zu tolerieren als sich dies rechtlich gerade noch vertreten lässt, und die Polizeiorgane anzuweisen, jede über dieses rechtliche Minimum hinausgehende Eigeninitiative, wie etwas Massnahmen zur Erwirkung eines Strafantrages oder eine Räumungsandrohung sowie Tätigkeiten vor dem Vorliegen solcher Begehren, zu unterlassen.

Stadtratssitzung vom 1. Juli 1982:

Interpellation SVP betreffend Stadtentwicklungspolitik

Daniele Jenni betont, dass die Stadt versuche, denen die sich darum bemühen, dass Büroraum in Wohnraum umgewandelt wird, Steine in den Weg zu legen. Man sollte sich damit befassen, den Umbauten nachzugehen und jeden zu kontrollieren, um so, wenn immer möglich, zu verhindern, dass Wohnraum in Büroraum umgewandelt wird.

Stadtratssitzung vom 19. August 1982:

Postulat SVP betreffend Umbenennung von Tiefenmösli in Merzenacker

Daniele Jenni (DA) möchte das Postulat nicht bekämpfen…es scheint ihm grotesk, wenn darüber diskutiert wird, ob ein Grüngebiet, das jetzt zubetoniert werden soll, Tiefenmösli oder Merzenacker heisst. Am besten würde es „Betonschütti“ genannt.

Stadtratssitzung vom 20. Januar 1983:

Dringliche Interpellation SO betreffend Überbauungsplan Quartierhof (Lorraine)

…stellt nun auch der Quartierhof einen Testfall dar. Dieser vereinigt alle Eigenschaften auf sich, die sich im Normalfall bei einem spekulativen Vorhaben finden. Er ist erhaltenswert und soll zerstört werden, er bietet heute billigen Wohnraum und es soll luxuriöser teurer Wohnraum entstehen, und schliesslich bietet er Wohnmöglichkeiten für Leute, die auf eine andere Art zusammenleben wollen, als das landläufigerweise üblich ist. Auch das ist nämlich ein Grund weshalb der Quartierhof erhalten bleiben soll.

Stadtratssitzung vom 24. Februar 1983:

Daniele Jenni (DA) findet, die Zielvorstellungen seien eine wilde Ansammlung von politischem Begriffsstrandgut und widersprüchlich in sich selber; jeder kann auslesen was er will.

Verschiedenes

Stadtratssitzung vom 8. Mai 1981:

Verwaltungsbericht über das Jahr 1980, Abschnitt Gesundheitsdirektion

Daniele Jenni (DA) hat festgestellt, dass sich auch hierzulande nach amerikanischem Muster die „fast-food“-Ernährung, die von Grossverteilern angeboten wird, durchsetzt. Ernährungsphysiologisch ist bekannt, dass diese Ernährungsform alles andere als ideal ist. Der Sprechende regt an, die Nachteile dieser Nahrung abzuklären und die Ergebnisse in die Ernähungsberatung an den Schulen einfliessen zu lassen; gerade Jugendliche bilden ja den Hauptabnehmerkreis.

Stadtratssitzung vom 19. November 1981:

Postulat EVP Betreffend Vorschriften über das Rauchen in der Schule

Daniele Jenni (DA) betrachtet ein generelles Rauchverbot für Schüler als fragwürdig. Es sollten andere Wege gesucht werden. Er beantragt das Postulat abzulehnen.

Stadtratssitzung vom 6. Mai 1982:

Verwaltungsbericht 1981, Abschnitt Gesundheitsdirektion

Daniele Jenni (DA) betont mit Hinweis auf verschiedene Vorredner, es dürfe nicht erstes Ziel der Bemühungen um die Minderheiten sein, diese in die bestehende Gesellschaft zu integrieren. Vielmehr müssten den Minderheiten Hilfen angeboten werden bei ihrer Suche nach der eigenen Identität.

Stadtratssitzung vom 27. Mai 1982:

Verwaltungsbericht 1981

Nach Ansicht von Daniele Jenni ist der Konsum von Cannabisprodukten nicht schädlicher als das gesetzlich tolerierte Rauchen von Tabak.

Stadtratssitzung vom 19. August 1982:

Motion POCH betreffend Beitrag an die CSS (Centrale Sanitaire Suisse) zur Unterstützung des Gesundheitsdienstes der Befreiungsbewegung von El Salvador.

Daniele Jenni hält es für ausgesprochen zynisch, wenn versucht wird, die Herrscher in El Salvador, welche die Möglichkeit haben, sich selber zu helfen und die einen Krieg gegen das eigene Volk führen, und die Mehrheit der Bevölkerung, welche gegen einen völlig unhaltbaren Zustand kämpft und medizinisch keine Möglichkeit besitzt, sich selber zu helfen, einander gegenüberzustellen. Es tönt immer gut, wenn man unparteiisch helfen will. Wenn das aber dazu führt, dass man einerseits Verbrecher und andererseits solche, die dagegen kämpfen, gleichermassen unparteiisch unterstützt, dann ist das nicht mehr unparteiisch, sondern bedeutet eine Parteinahme für die Verbrecher.