Asyl und Gesundheit: Illegale dürfen erblinden

Nr. 10 –

Die Kantone schliessen abgewiesene Asylsuchende von der Krankenversicherung aus, obwohl dies gegen geltendes Recht verstösst. Ärzte und Menschenrechtlerinnen protestieren, und die Bundesämter streiten.

«Mein Hausarzt sagte mir am Telefon, ab sofort könne er mich nicht mehr behandeln», sagt I. S.*, die vor fünfzehn Jahren aus dem Iran in die Schweiz geflohen ist. Seit dem Telefongespräch sind zwei Wochen vergangen, und ihre starken Brustschmerzen sind nicht verschwunden. Wieso wird sie nicht behandelt? Der Kanton Solothurn hat Anfang Jahr ihre Krankenkasse gekündigt. Grund: Mit dem verschärften Asylgesetz haben abgewiesene Asylsuchende nur noch das Recht auf eine minimale Nothilfe – einige Franken pro Tag in Bargeld oder in Einkaufsgutscheinen. So sollen sie zum Verlassen des Landes oder zum Abtauchen gedrängt werden (siehe WOZ Nrn. 46/07 und 09/08).

Was ist ein Notfall?

Auch die Kantone Zürich, Waadt, Bern und Graubünden melden abgewiesene Flüchtlinge von der obligatorischen Krankenkasse ab. Dies kann Françoise Kopf, Koordinatorin der IGA – SOS Rassismus, anhand amtlicher Dokumente belegen. In Rundschreiben teilen diese Kantone den ÄrztInnen und den Spitälern mit, ab sofort seien rechtskräftig abgewiesene Asylsuchende nicht mehr medizinisch zu versorgen, ausser wenn es sich um «Notfälle» handle.

Beda Egger, Abteilungsleiter für Asyl und Massnahmenvollzug im Kanton Graubünden, zur WOZ: «Wir bezahlen weiterhin die Krankenkassenprämien von Personen, die krank sind oder es werden könnten.» Alle anderen habe der Kanton bereits von der Krankenkasse abgemeldet. Hier komme der Kanton in medizinischen Notfällen nun selber für anfallende Kosten auf, sagt Egger.

Nur ist das so eine Sache mit der Behandlung in Notfällen. Afra Weidmann von der Menschenrechtsgruppe Augenauf bringt die Problematik auf den Punkt: «Leute ohne jede Ausbildung in Gesundheitsfragen, wie etwa Büroangestellte eines Sozialamtes, müssen diesen Menschen Arztbesuche bewilligen.» So seien ihr mehrere Fälle bekannt, wo ernsthafte Erkrankungen zu spät erkannt worden seien und zum Beispiel zu teilweisem Erblinden wegen grünem Star oder zu Lebensgefahr wegen einer Darmperforation geführt hätten. «Die Zweiklassenmedizin ist ein Dauerthema in der Politik. Dabei haben wir sie schon, nur wird darüber nicht berichtet», sagt Weidmann.

Gegen die Berufsethik

Ähnlich argumentiert auch der Arzt Cyrill Jeger. Er ist Kopräsident von Consano, der Vereinigung für eine faire und soziale Medizin in der Schweiz. «Wir Ärzte sind dem hippokratischen Eid verpflichtet, der sinngemäss fordert, dass wir uns voll und ganz für die uns anvertrauten Patienten einsetzen», so Jeger. Aus Protest gegen die jüngsten Weisungen der Kantone hat er deshalb einen offenen Brief lanciert, den bisher 87 ÄrztInnen unterzeichnet haben. Professor Hans Gerber, Kantonsarzt in Bern, der eines der von Jeger kritisierten Rundschreiben verfasst hat, versucht zu beschwichtigen: «Wir führen nur aus, was uns der Kanton vorgibt.» Da eine Behandlung in Notfällen weiterhin möglich sei, werde die Berufsethik der ÄrztInnen nicht in Frage gestellt.

Doch ist es überhaupt legal, jemandem die Krankenkasse zu kündigen? Wer in der Schweiz wohnt, muss versichert sein, so steht es im Krankenversicherungsgesetz KVG. Und das gilt auch für illegal Anwesende, wie das Bundesamt für Sozialversicherungen in einer Weisung im Jahre 2002 bezüglich Sans-Papiers explizit festgehalten hat. Seither gab es diesbezüglich keine Anpassung im KVG, wie Theo Laubster vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) festhält: «Unserer Meinung nach gilt weiterhin, dass alle in der Schweiz lebenden Menschen krankenversichert sein müssen.»

Bundesamt gegen Bundesamt

Florian Düblin, Leiter des Migrationsdienstes des Kantons Bern, gibt immerhin zu, dass die Lage rechtlich unklar sei: «In der Frage der Krankenkassenpflicht gibt es eine Meinungsverschiedenheit zwischen dem Bundesamt für Migration und dem Bundesamt für Gesundheit.» Sein Amt teile die Auffassung des Bundesamts für Migration (BFM). Eine Rechtsgrundlage für die Auffassung des BFM kann Düblin aber nicht nennen. Seine Begründung ist eher praktischer Natur: Es ergebe nämlich keinen Sinn, die Versicherungsprämien abgetauchter Asylsuchender weiterhin zu zahlen, wenn unklar sei, ob sich diese überhaupt noch in der Schweiz aufhielten, so Düblin.

Nun geht es aber durchaus auch um Personen, bei denen bekannt ist, wo sie sich aufhalten – etwa in Nothilfezentren der Kantone. Dazu Françoise Kopf: «Nicht genug, dass die abgewiesenen Flüchtlinge unter ethisch unhaltbaren Gesetzen leiden müssen. Den Behörden fehlt auch noch der Anstand, die wenigen noch bestehenden Rechte zu garantieren.»

Kopf fordert die Kantone auf, sich «an geltendes Recht» zu halten. Das BFM solle die Kantone dazu auffordern, den Krankenversicherungsausschluss zurückzunehmen und den Betroffenen eine «normale Gesundheitsversorgung» zuzugestehen.

BFM-Pressesprecher Jonas Montani betont auf Anfrage, die Angelegenheit liege in der Kompetenz der Kantone. Man verfolge aber die Situation in einem Monitoring zusammen mit dem BAG und der Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren. «Im Herbst werden wir Empfehlungen zuhanden der Kantone abgeben», so Montani.

«Ich hoffe nicht, dass da rechtliche Schritte nötig werden», antwortet Kopf. Dies können die Behörden durchaus als Drohung auffassen: Zusammen mit dem Anwalt Peter Nideröst hat Kopf im Jahre 2003 vor Bundesgericht das absolute Recht auf Nothilfe für Asylsuchende mit Nichteintretensentscheid erzwungen. Damals hatte der Kanton Solothurn versucht, diesen Menschen auch die heute gewährte minimale Nothilfe zu streichen.

*Name der Redaktion bekannt.

Ein brisantes Dokument

Alle in der Schweiz lebenden Personen müssen eine Krankenversicherung haben. So steht es im Gesetz – auch wenn die Kantone dies abstreiten. Müssten dann nicht auch alle in der Schweiz lebenden Personen das Recht haben, die gleichen medizinischen Leistungen zu erhalten? Also auch abgewiesene Flüchtlinge, die heute aufgrund des Asylgesetzes nur eine rudimentäre medizinische Notfallversorgung bekommen?

Die Frage wird von überraschender Seite bejaht: Vom Bundesamt für Justiz (BJ). Dieses hat im Jahre 1999 ein Kurzgutachten zu dieser Frage erstellt. Das Dokument war bisher nicht öffentlich zugänglich. Die WOZ hat es im Rahmen ihrer Recherchen zur Praxis der Kantone, abgewiesene Asylsuchende von der obligatorischen Krankenkasse abzumelden, vom Bundesamt verlangt und zur Kenntnisnahme an Menschenrechtsorganisationen weitergeleitet.

Die rechtliche Argumentation im Gutachten ist auch heute noch aktuell: Betont wird, dass das Krankenversicherungsgesetz von der Gleichbehandlung aller Versicherten ausgehe. Davon könne nur abgewichen werden, wenn sich innerhalb dieses Gesetzes eine Ungleichbehandlung aufdränge. «Dies ist im vorliegenden Zusammenhang eindeutig zu verneinen», heisst es im Kurzgutachten. Die naheliegende Begründung folgt sogleich: «Asylsuchende Personen, Schutzbedürftige und vorläufig Aufgenommene sind, wenn sie krank oder verletzt sind, grundsätzlich in der gleichen Situation wie Schweizerinnen und Schweizer.» Höchst interessant ist, wer dieses Gutachten in Auftrag gegeben hat: Damals tagte eine Arbeitsgruppe, die dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement Vorschläge zur Kostensenkung im Asylwesen ausarbeiten sollte. Die Arbeitsgruppe verfasste den sogenannten «Bericht Fuhrer/Gerber», benannt nach den Vorsitzenden der Arbeitsgruppe, der Zürcher SVP-Regierungsrätin Rita Fuhrer und dem ehemaligen Direktor des Bundesamts für Flüchtlinge, Jean-Daniel Gerber. Der Bericht schlug verschiedene abschreckende und angeblich kostensenkende Massnahmen vor, insbesondere den heute praktizierten Sozialhilfestopp für abgewiesene AsylbewerberInnen. Ebendiese Arbeitsgruppe bestellte das erwähnte Minigutachten beim BJ und hielt dann schwarz auf weiss im Schlussbericht fest, dass das Krankenversicherungsgesetz KVG zwingend geändert werden müsse, wenn die medizinische Versorgung der abgewiesenen AsylbewerberInnen im Rahmen des Sozialhilfeentzugs eingeschränkt werden solle. Bis heute ist die Änderung im KVG aber nicht erfolgt. Somit lässt sich anhand von Dokumenten, die von dem Vorgängeramt des BFM mitverfasst worden sind, belegen, dass nicht nur der Krankenkassenausschluss von NothilfebezügerInnen illegal ist, sondern auch, dass das praktizierte System der eingeschränkten medizinischen Versorgung an sich rechtlich unhaltbar ist.