Schwarze Liste: Geschätzte Patienten

Nr. 17 –

Leistungsstopps von Krankenkassen setzen faktisch das Versicherungsobligatorium aus: Behandelt wird nur, wer es sich leisten kann. Der Kanton Thurgau führt bereits eine Datenbank für PrämiensünderInnen.

Im Thurgau verfügen sie seit dem 1. November 2007 über eine neue Datenbank. Sie wird von den Krankenkassen geführt. In der Datenbank sind alle 4300 Menschen mit Wohnsitz im Thurgau aufgelistet, die zurzeit von einem Leis­tungsstopp betroffen sind. Zugriff auf die Datenbank haben nicht die Gemeinden, um etwa Prämien einzutreiben, sondern ÄrztInnen und Apotheken. Ein Arzt kann somit nach schnellem Blick in die Datenbank die Behandlung verweigern, damit er nicht das Risiko eingeht, auf den Kosten sitzen zu bleiben.

Damit es dabei nicht um Leben und Tod geht, einigte man sich im Thurgau auf die Notfallregelung: Im «Notfall» übernimmt die öffentliche Hand die Kosten. Denn ÄrztInnen oder Spitäler dürfen und können Nothilfe nicht verweigern, auch wenn der Kunde keine Prämie bezahlt hat. Ein Detail, das die Thurgauer Datenbank nicht aufschlüsselt: Warum die Prämie nicht bezahlt wurde. Eine Verweigerung aus Prinzip? Aus Überforderung? Oder weil jemand tatsächlich pleite ist?

«Case Management»

Der Verband der Thurgauer Gemeinden hält die Datenbank für eine gute Idee. Man habe den Begriff der Notfallbehandlung eingeführt, damit Ärzt­Innen nicht einfach 20 000-Franken-Behandlungen machen und die Rechnung dann der Gemeinde schicken, sagt ein Sprecher. So sind sie offenbar, die Schweizer ÄrztInnen: helfen ohne Rücksicht auf die Kosten. Im Januar 2007 hat, zum Ärger der achtzig Thurgauer Gemeinden, das kantonale Verwaltungsgericht entschieden, dass die Gemeinden die offenen Arzt- und Spitalrechnungen ihrer BürgerInnen übernehmen müssen. Es ging um 1,2 Millionen Franken. Im Gegenzug entstand die Datenbank. Die Patientenorganisationen kritisieren, mit der Datenbank werde der Schwarze Peter den ÄrztInnen zugespielt. Die Organisationen fragen: Ist es sinnvoll, das erhöhte finanzielle Risiko auf Ärzte und Apotheken abzuschieben? Kratzt dies nicht an deren Sorgfaltspflicht? Und: Deckung bei Notfällen – was ist ein Notfall? Kann eine Ärztin bei einem Erstbesuch ohne Untersuchung wissen, ob es sich nicht um einen Notfall handelt? Und was, wenn sie dann merkt, dass es kein Notfall war?

Raphael Herzog vom Thurgauer Gesundheitsamt sagt, man rede den Ärzten bei der Notfalldefinition nicht rein. Die ganze Sache sei grosszügig angelegt. «Case Management» heisst das. Jede Gemeinde sei verpflichtet abzuklären, warum einzelne BürgerInnen ihrer Prämienpflicht nicht nachkommen. Der Sprecher sagt, der Vorteil an der Datenbank sei, dass der Arzt jetzt halt einfach gucken könne, ob ein Leistungsstopp bestehe. Bei einem Erstkontakt gehe man natürlich vom Notfall aus. Wenn der Arzt aber danach entscheide, weiterzubehandeln, geschehe dies auf eigenes Risiko.

Artikel 64a

Die Geschichte der Thurgauer Datenbank gründet auf einer Minirevi­sion des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) im Jahr 2006. Es geht um die Einführung des Artikels 64a. Dieser Artikel besagt Folgendes: Krankenkassen müssen bei ausstehenden Zahlungen die Leistungen sistieren – früher durften sie das tun. Und sie können diese sis­tieren, bevor der Verlustschein vorliegt. Der Verlustschein steht am Ende einer Betreibung – ob von einer Pfändung oder einem Konkurs.

Die öffentliche Hand wiederum hilft der betroffenen Person erst, wenn dieser Verlustschein vorliegt und klar ist, dass Hilfe tatsächlich benötigt wird. Bis dies so weit ist, kann es 8 bis 24 Monate dauern. Somit wurde ein zeitliches Vakuum geschaffen, in dem Menschen nicht versichert sind.

Der 2006 eingeführte Artikel entstand auf Druck der Krankenkassen­lobby. Wer sein Handy nicht bezahlt, dem wird schliesslich auch das Handy abgestellt, war die Argumentation. Das Gesundheitssystem als Gewinnmaschine betrachtet und nicht als Garantie dafür, dass alle BürgerInnen eines Landes, und vor allem auch jene, die kaum Geld haben, grundsätzlich versichert sind. Der Artikel hat zwar nicht juristisch, aber faktisch das Schweizer Versicherungsobligatorium ausgehebelt.

120 000 Betroffene

Juristisch sind die von einem Leis­tungsstopp Betroffenen zwar noch versichert (sie haben nach wie vor einen Vertrag), faktisch aber nicht, da die Krankenkasse nicht zahlt. Eine Sprecherin der GDK, der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren, übersetzt für Nichtjuristen: «Die Betroffenen haben in dieser Zeit keinen Versicherungsschutz.» Auch wenn bei Vorliegen des Verlustscheins dann klar wird, dass sie pleite waren und die öffentliche Hand ihnen die Versorgung hätte sichern müssen. Patientenvertreterin Margrit Kessler sagt, dass die Schweiz somit das US-amerikanische Gesundheitssystem eingeführt habe. «Wer die Prämie nicht zahlt, bekommt keine Leistung.»

120 000 Menschen sind in der Schweiz von einem Leistungsstopp betroffen. Die GDK machte bereits 2007 in der Gesundheitskommission des Nationalrats (SGK) den Vorschlag, Artikel 64a wieder abzuändern und zur alten Regelung zurückzukehren. Die Kommission entschied sich mit Stichentscheid des Präsidenten Pierre Triponez (FDP) dagegen. Das führte zu chaotischen Situationen: In Genf verweigerten im letzten Jahr in über hundert Fällen Apotheken AidspatientInnen lebenswichtige Medikamente. Sie wurden ans Kantonsspital weitergereicht. In der Innerschweiz verweigerte eine Apotheke die Herausgabe von Insulin. Und so weiter.

Wer zahlt warum nicht?

Erika Ziltener, Präsidentin des Dachverbandes Schweizerischer Patientenstellen, sagt, mit dem Artikel 64a habe man jenen das Handwerk legen wollen, die ihre Prämien nicht zahlen. Dann habe man gemerkt, dass ein Paragraf nicht rausfinden kann, warum die Leute die Prämien nicht zahlen. Wer weigert sich? Und wer ist unverschuldet in einen Leistungsstopp reingerasselt wie jene Frau, deren Fall Ziltener schildert, die schwer an Krebs erkrankt ist und aufgrund der Erkrankung überfordert und am Anschlag war – dann kam der Leis­tungsstopp. In der Apotheke weigerte man sich, ihr die dringend benötigten Schmerzpflaster zu geben. Und dann waren da die anfallenden Zusatzkosten und die Mahnungen und die Gebühren und die finanziellen Altlasten aus dem letzten Jahr und der Krebs.

Die GDK führt zurzeit mit Santé­suisse, dem Verband der Schweizer Krankenversicherer, Verhandlungen. Der Zeitplan ist ambitioniert. Ende Mai dieses Jahres sollen die Gespräche ­abgeschlossen sein, und im Herbst soll der gemeinsam ausgearbeitete Vorschlag ins Parlament gebracht werden: Die Revision des 2006 eingeführten Artikels 64a soll die öffentliche Hand dazu verpflichten, Verlustscheine zu übernehmen, wenn diese Kranken­kassenprämien oder Kostenbeteiligungen, etwa Selbstbehalt, betreffen. Damit sollen die Krankenkassen von den Kantonen sozusagen eine Voll­kaskoversicherung bekommen – und im Gegenzug auf den heute praktizierten Leistungsstopp verzichten. 2010 soll es in der Schweiz keine Leistungsstopps mehr geben.