Obamas Gesundheitsreform: Kein Job, keine Pillen

Nr. 39 –

Selbst wenn der US-Präsident seine Gesundheitsreform durchbringt – bis zu 25 Millionen US-AmerikanerInnen bleiben unversichert. Das Gesundheitssystem bleibt beim Prinzip «Profit privat, der Schaden dem Staat».


«Gibt es einen guten Grund dafür, dass in einer so reichen Nation auch nur ein einziger Mensch ohne Gesundheitsversorgung auskommen muss?», fragte kürzlich der CNN-Talkmaster Larry King den republikanischen Senator John McCain. Soeben hatte Präsident Barack Obama vor versammeltem Kongress die Gesundheitsreform in den USA als historischen Jahrhundertauftrag präsentiert. «Ich bin nicht der erste Präsident, der das Gesundheitswesen zu reformieren versucht», sagte er, «aber ich will der letzte sein.» Nach der Rede gab Larry King Obamas politischem Gegenspieler, dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten McCain, das Wort. Dieser lächelte, nickte und sagte: «Es ist nicht einzusehen, weshalb es keine erschwingliche und zugängliche Versicherung und Gesundheitsvorsorge für alle Amerikanerinnen und Amerikaner geben sollte. Die Frage ist bloss, haben wir auch den öffentlichen Auftrag dazu?»

Der englische Begriff «the public mandate» bezeichnet genau das Gleiche wie auf Deutsch: den öffentlichen Auftrag. Es gibt keine versteckte oder doppelte Bedeutung, die besagt, das «public mandate» müsse auch die Profitinteressen der Gesundheitsindustrie abdecken oder die irrationalen Ängste der fanatischsten Obama-GegnerInnen berücksichtigen – Leute, die Plakate hochhalten, auf denen steht: «Im Zoo gibts Afrikaner. Im Weissen Haus gibts lügende Afrikaner.»

Therapien sind Verluste

Versteht man den öffentlichen Auftrag im üblichen Sinn, dann ist die aktuelle Gesundheitsreform in den USA durchaus legitimiert. Seit Jahren bestätigt die US-Bevölkerung in zahllosen Umfragen, dass sie eine umfassende Reform des Gesundheitssystems wünscht. Zuoberst auf der Wunschliste stehen: erschwingliche Prämien, Möglichkeit des Versicherungsbeitritts auch bei einer sogenannten Vorerkrankung und Kündigungsschutz beim Auftreten chronischer Krankheiten, weniger Leistungsbeschränkungen, mehr Transparenz bei der Abrechnung mit der Versicherung, tiefere Franchisen und Selbstbehalte. Die AmerikanerInnen möchten endlich als Hilfe suchende PatientInnen und nicht nur als parasitäre Störenfriede behandelt werden. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht schmälern nämlich Kranke die Profite der AktionärInnen der Krankenkassen; so werden die erbrachten Leistungen in den Bilanzen der Versicherer denn auch als «medizinischer Verlust» verbucht.

Wo steht die Ärzteschaft in diesem Interessenkonflikt? Die Ärztevereinigung American Medical Association (AMA) unterstützt eine sanfte «Verschweizerung» des US-Gesundheitssystems (siehe WOZ Nr. 36/2009). Eine staatliche Kasse, die sogenannte «public option», die die Privatwirtschaft konkurrenzieren würde, lehnt sie aber entschieden ab. Viele US-BürgerInnen lassen sich von der AMA einschüchtern. Die wenigsten wissen, dass diese Vereinigung bloss ein Drittel der praktizierenden ÄrztInnen umfasst. Die meisten AMA-Mitglieder sind weiss, wohlhabend und männlich – die alte Garde sozusagen. Die neue Generation von MedizinerInnen, die mehr Frauen und mehr Angehörige von ethnischen Minderheiten aufweist, ist in der AMA nur schwach vertreten. Befragt man eine repräsentative Auswahl der Ärzteschaft der USA, wie das AutorInnen der Fachzeitschrift «New England Journal of Medicine» im Juni dieses Jahres getan haben, ergibt sich ein ganz anderes Bild: 62,9 Prozent der Befragten befürworten eine Mischung aus privaten und staatlichen Versicherungsmöglichkeiten. 9,6 Prozent würden sogar eine ausschliesslich staatliche Krankenversicherung (wie im benachbarten Kanada) vorziehen. Bloss 27,3 Prozent der MedizinerInnen wollen das bisherige rein privatwirtschaftliche Versicherungssystem beibehalten, das nicht bloss von den RepublikanerInnen, sondern auch von vielen DemokratInnen – und widerstrebend auch von Präsident Obama – als einziges mehrheitsfähiges Modell dargestellt wird.

Woher kommt diese Diskrepanz zwischen dem medizinischen und dem politischen Personal? Die ÄrztInnen sind täglich mit Krankheit und Elend konfrontiert. Sie erleben die Schwächen des bestehenden Gesundheitssystems am konkreten Einzelfall. Viele PolitikerInnen im US-Kongress hingegen werden massgeblich mit der finanziellen Unterstützung der Gesundheitsindustrie gewählt, die nach den Banken als zweitgrösste Wahlspenderin fungiert. Von daher fühlen sich die Abgeordneten mehr der Gesundheitsindustrie als den WählerInnen verpflichtet.

Eine Ausnahme ist Steve Kagen, ein demokratischer Abgeordneter aus dem Bundesstaat Wisconsin. Kagen ist selber Arzt und ein Krankenkassenverweigerer aus Gewissensgründen: Er will sich erst dann dem grosszügigen Versicherungsplan für US-Kongressmitglieder anschliessen, wenn seinen WählerInnen daheim in Green Bay eine vergleichbare Krankenversicherung angeboten wird.

In den Fünfzigern erfunden

Die Gesundheitsversorgung – und insbesondere ihr Versicherungssystem – ist in den USA tief mit der Ideologie der freien Marktwirtschaft verstrickt. Die Schweiz kennt die unsozialen Kopfprämien, doch das System in den USA ist womöglich noch unsozialer: Ob jemand Zugang zu einer erschwinglichen Krankenversicherung hat, hängt nämlich in erster Linie von der Stellung im Berufsleben ab. Je besser qualifiziert und bezahlt ein Job ist, desto besser ist auch die Krankenversicherung, die zu einem Grossteil der Arbeitgeber – und zwar für die ganze Familie der Angestellten – bezahlt. Dieses System wurde kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt, als die Firmen mit diesen Zusatzleistungen um die knappen Arbeitskräfte warben.

Knapp sechzig Prozent der US-AmerikanerInnen (Erwerbstätige und ihre Angehörigen) sind heute – oft bloss minimal – über ihren Arbeitsplatz in der Privatwirtschaft oder beim Staat versichert, doch nimmt diese Zahl rasch ab. Nur neun Prozent der Bevölkerung leisten sich in den USA eine private Krankenversicherung; denn individuelle Einzelprämien sind viel teurer als die von den Grossbetrieben ausgehandelten Kollektivversicherungen.

Was in den fünfziger Jahren für die umworbenen Lohnabhängigen attraktiv war, wirkt sich heute in der Krise verheerend aus. Monat für Monat verlieren Hunderttausende mit ihrem Arbeitsplatz auch ihre Gesundheitsvorsorge; das gilt auch für diejenigen, die wegen Krankheit arbeitsunfähig werden. An den verbleibenden Arbeitsplätzen werden zudem die vom Betrieb erbrachten Versicherungsleistungen knapper, und die Prämienkosten für die Lohnabhängigen wachsen ins Unerschwingliche. Kleinbetriebe können sich eine Versicherung ihrer Angestellten in der Regel nicht leisten. Grossbetriebe klagen, dass das System ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtige. Dazu kommt, dass die wachsende Zahl von Erwerbstätigen in prekären Arbeitsverhältnissen, also alle, die Teilzeit, im Stundenlohn oder auf Abruf arbeiten, gar nie in den Genuss dieser Sozialleistungen kommen werden.

Eine obligatorische Krankenversicherung, wie sie alle andern Industriestaaten kennen, wäre angesichts dieser Realität die naheliegendste Lösung. Doch in den USA mit ihrer protestantischen Arbeitsethik ist eine universelle oder sogar staatliche Krankenversicherung bloss etwas für Kinder, alte Menschen und Sozialfälle, nicht aber für AmerikanerInnen im erwerbsfähigen Alter. Dabei decken die staatlichen Krankenversicherungen in den USA bereits heute ein Drittel der Bevölkerung ab. Die zwei grössten Institutionen sind Medicare, das Programm für über 65-Jährige mit etwa 45 Millionen BezügerInnen, und Medicaid, das Programm für sozial Benachteiligte mit 50 Millionen Versicherten, dazu kommen die kleineren staatlichen Spezialgesundheitssysteme für die Veteranen, die indianische Bevölkerung oder Staatsangestellte. Es grenzt ans Absurde, wenn erzürnte SeniorInnen in Amerika «Obama – Hände weg von meinem Gesundheitssystem» rufen, denn der Staatschef ist bereits heute ihr oberster Gesundheitsversorger.

Nicht mehr als Erste Hilfe

Bereits hat Barack Obama angekündigt, dass etliche Bevölkerungsteile von der Versicherungspflicht ausgenommen werden sollen. Die wichtigste Gruppe sind Leute mit niedrigem Einkommen, die zu viel verdienen, um ins Sozialhilfeprogramm Medicaid zu passen, aber zu wenig, um sich die Krankenkassenprämien leisten zu können. Ausdrücklich von der Krankenversicherung ausgeschlossen werden ImmigrantInnen, die keinen legalen Aufenthaltsstatus vorweisen können.

Auch wenn die verschiedenen Gesundheitsreformvorlagen noch nicht bereinigt sind, steht fest: Im Gegensatz zu einem durch Steuern finanzierten Gesundheitssystem wie in Kanada oder Dänemark, wo alle SteuerzahlerInnen automatisch erfasst und in der Folge anspruchsberechtigt sind, wird die Gesundheitsvorsorge in den USA auch in Zukunft nicht flächendeckend sein. Weiterhin werden zwischen 17 und 25 Millionen Menschen keine Versicherung und kein Anrecht auf ärztliche Behandlung haben. Denn selbst im Notfall müssen MedizinerInnen in den USA zahlungsunfähige PatientInnen bloss stabilisieren, nicht aber die zugrunde liegende Krankheit behandeln. Genauso funktioniert die gegenwärtige Gesundheitsreform in den USA: Es ist bestenfalls eine Erste-Hilfe-Massnahme, aber sicher keine Langzeittherapie, die das System gesunden lässt.