USA: Rassismus im Zeitalter Obamas

Nr. 14 –

Die Strafjustiz der USA produziert eine neue Kaste von rechtlosen Schwarzen. Und das fünfzig Jahre nach dem Sieg der Bürgerrechtsbewegung und unter einem afroamerikanischen Präsidenten.

Seit Barack Obamas Wahl zum Präsidenten feiern Menschen und Regierungen in aller Welt den Sieg der USA über den Rassismus. Das rassistische Kastenwesen der Nation gehöre endgültig der Vergangenheit an, heisst es.

Die Anwesenheit von Obama im Weissen Haus gilt als Beweis dafür, dass das «Land der Freiheit» sein Versprechen auf Gleichberechtigung endlich eingelöst hat. Seine Auftritte auf der Weltbühne enthalten eine implizite, aber klare Botschaft: So sieht Freiheit aus. Das kann Demokratie bewirken. Wenn du arm und marginalisiert bist oder in eine minderwertige Kaste abgeschoben wirst, dann gibt es Hoffnung für dich. Vertraue uns. Vertraue unseren Regeln, Gesetzen, Bräuchen und Kriegen. Auch du kannst ins gelobte Land gelangen!

Es ist eine Jahrhundertlüge. In den USA blüht und gedeiht das rassistische Kastenwesen. Die meisten Leute hören das zwar nicht gern. Sie werden wütend. Im Zeitalter der «Farbenblindheit» klammern sie sich fast fanatisch an den Mythos, dass wir als Nation den Rassismus «hinter uns gelassen» haben. Die Tatsachen widersprechen dieser triumphalen Erzählung:

•  Heute stehen mehr AfroamerikanerInnen unter der Gewalt des Strafvollzugs (in Untersuchungshaft oder im Gefängnis, mit bedingter Strafe oder auf Bewährung), als es im Jahr 1850, ein Jahrzehnt vor Beginn des grossen Bürgerkriegs, SklavInnen gab.

•  2004 waren mehr afroamerikanische Männer ohne Bürgerrechte (aufgrund der Gesetze, die Strafgefangenen das Wahlrecht entziehen) als 1870. Damals wurde der Verfassungszusatz ratifiziert, der das Stimm- und Wahlrecht allen «Rassen» und ethnischen Minderheiten garantierte.

•  Ein schwarzes Kind, das heute geboren wird, hat weniger Chancen, von beiden Elternteilen aufgezogen zu werden, als ein schwarzes Kind, das zur Zeit der Sklaverei zur Welt kam. Der Zerfall der afroamerikanischen Familie ist grösstenteils auf die massenhafte Inhaftierung schwarzer Väter zurückzuführen.

•  In manchen urbanen Gebieten der USA ist die Mehrheit der afroamerikanischen Männer für den Rest ihres Lebens als Verbrecher abgestempelt. Diese Männer sind Teil einer wachsenden Unterkaste – wohlgemerkt nicht einer Klasse, sondern einer Kaste. Sie werden per Gesetz zu Menschen zweiter Klasse erklärt. Das Stimmrecht kann ihnen entzogen werden; und sie sind automatisch vom Mitwirken in Geschworenengerichten ausgeschlossen. Bei der Stellen- oder Wohnungssuche und beim Zugang zur Bildung oder zu öffentlichen Gütern werden sie, ganz legal, benachteiligt – gerade so, wie ihre Grosseltern und Urgrosseltern vor dem Sieg der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den sechziger Jahren durch rassistische Gesetze diskriminiert wurden.

Die Mär von den «bad guys»

Innert weniger Jahrzehnte ist in den USA die Zahl der Gefangenen von 300 000  auf über 2 Millionen explodiert, angeblich wegen steil ansteigender Kriminalitätsraten. Ausserdem wird uns weisgemacht, es gebe deshalb so viele schwarze und braune Männer hinter Gittern, weil sie halt einfach die «bad guys» seien, die Bösewichte. Die plötzliche und dramatische Masseninhaftierung von AfroamerikanerInnen in den letzten dreissig Jahren lässt sich jedoch nicht mit Verbrechensraten erklären. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die Kriminalität auf einem historischen Tief. Und doch steigt die Zahl der Inhaftierten ständig und rapide weiter. Tatsache ist: Der grösste Teil des Zuwachses verdankt sich dem US-amerikanischen «Krieg gegen die Drogen».

Es ist ein Krieg, komplett mit Spezialeinsatzkommandos, Panzern, Bazookas, Granatwerfern und der Stürmung ganzer Wohnquartiere. Wer in den weissen Stadtteilen wohnt, hat oft keine Ahnung, welche Zerstörung diese Polizeiaktionen mit sich bringen. Denn dieser Krieg wird fast ausschliesslich in armen, von Schwarzen bewohnten Quartieren geführt. Und das, obwohl wissenschaftliche Studien immer wieder belegen, dass Menschen aller Hautfarben etwa gleich häufig illegale Drogen konsumieren oder handeln. Weisse Jugendliche landen sogar dreimal häufiger mit Drogenproblemen in der Notfallaufnahme als ihre afroamerikanischen AltersgenossInnen.

Darauf würde man nie kommen, wenn man die US-amerikanischen Gefängnisse besucht, die mit schwarzen und braunen Drogendelinquenten überfüllt sind. In manchen Staaten machen die AfroamerikanerInnen (die zwölf Prozent der US-Bevölkerung stellen) achtzig bis neunzig Prozent aller inhaftierten DrogentäterInnen aus.

Die Politik der Härte

Im Jahr 1982 lancierte US-Präsident Ronald Reagan den Drogenkrieg, zu einem Zeitpunkt, als die Drogenkriminalität im Abnehmen und nicht im Steigen begriffen war. Es ging dabei von Anfang an eher um Politik. Der Drogenkrieg war Teil einer grossen und höchst erfolgreichen Strategie der Republikanischen Partei: Diese nutzte rassistisch besetzte politische Statements zu Kriminalität und Sozialhilfeabhängigkeit, um Stimmen aus der verarmten weissen Arbeiterklasse zu gewinnen; viele waren damals über die Aufhebung der Rassentrennung und die aktiven Gleichstellungsmassnahmen für AfroamerikanerInnen («Affirmative Action») verärgert oder fühlten sich gar bedroht. Der Stabschef des republikanischen Präsidenten Richard Nixon drückte es so aus: «Die Schwarzen sind wirklich das Problem. Wir müssen ein System entwickeln, das dies klar erkennt, ohne es an die grosse Glocke zu hängen.»

Kurz nachdem der Drogenkrieg ausgerufen worden war, tauchte Crack-Kokain in den Strassen der Innenstädte auf. Die Regierung von Ronald Reagan stürzte sich mit Begeisterung auf die neue Entwicklung. Es wurden PR-Leute angeheuert, um die Crack-Babys und Crack-Mütter, die Crack-Huren und die Drogengewalt in den Innenstädten publizistisch gross herauszubringen. Der Crack-Missbrauch und die Gewalt in den Innenstädten sollten zur Mediensensation aufgebauscht werden. Auf diese Weise, so hoffte die Regierung, werde die öffentliche Zustimmung zum Drogenkrieg gefördert und der Kongress dazu gebracht, zusätzliche Millionen für die Drogenbekämpfung bereitzustellen.

Die Rechnung ging auf. Mehr als zehn Jahre lang beherrschten die dunkelhäutigen Drogenhändler und DrogenkonsumentInnen die Schlagzeilen der Presse und die Abendnachrichten des Fernsehens. Milliarden flossen in den Drogenkrieg. Die GesetzgeberInnen verabschiedeten harte Mindeststrafen auch für erstmalige Drogendelikte – darunter Gefängnisstrafen, die härter waren als in anderen Ländern das Strafmass für Mörder.

Die PolitikerInnen der Demokratischen Partei begannen, in dieser Sache mit den RepublikanerInnen zu wetteifern. Sie wollten beweisen, dass sie gegen die dunkelhäutigen Ausgestossenen noch konsequenter durchgreifen können. Präsident Bill Clintons «Politik der Härte» resultierte im grössten Zuwachs an Gefangenen in der Geschichte der USA. Aber Clinton gab sich nicht mit dem rasanten Anstieg der Gefängnisbevölkerung zufrieden. Er und die «neuen Demokraten» unterstützten eine Gesetzgebung, die Leute mit Vorstrafen wegen Drogendelikten kategorisch aus staatlich subventionierten Wohnungen verbannte (egal, wie geringfügig das Vergehen war). Auch sollten einmal straffällig gewordene DrogensünderInnen lebenslang von Sozialhilfe, inklusive Lebensmittelmarken, ausgeschlossen werden. Diskriminierung im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben ist seither gegenüber jenen, die einmal als Verbrecher abgestempelt wurden, vollkommen legal.

Ein rassistischer Albtraum

Wohlmeinende sagen, die «Politik der Härte» habe nichts mit Rassismus zu tun. Die Anti-Drogen-Krieger würden doch bloss versuchen, die Drogenbosse zu fassen, die das Leben in den Ghettos zur Hölle machten. Und wird der Drogenkrieg nicht vor allem deshalb in den Ghettos geführt, weil eben dort die Gewalttäter und Drogenbosse zu finden sind? Ja, das ist vielleicht in den Actionfilmen so. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus.

Der Drogenkrieg hat sich nie auf das Ausschalten der Drogenbosse oder der GewalttäterInnen konzentriert. Die Bundesgelder fliessen an jene Dienststellen, welche die Zahl der Verhaftungen dramatisch steigern, und nicht zu denen, die die Drogenbosse stürzen. Belohnt wird in diesem Krieg die schiere Anzahl der Verhaftungen. Und um die Sache noch schlimmer zu machen, erlauben US-Bundesgesetze den Strafvollzugsbehörden, achtzig Prozent des Bargelds, der Autos und der Häuser, die bei Drogenverdächtigen beschlagnahmt werden, für den Eigengebrauch zu behalten. Die Strafverfolgungsbehörden haben mithin ein direktes finanzielles Interesse an der Rentabilität des Drogenhandels.

Die Resultate dieser Politik waren voraussehbar: Menschen dunkler Hautfarbe werden heute en masse für relativ geringfügige Drogendelikte verhaftet. 2005 wurden vier von fünf Drogenverhaftungen in den USA wegen Besitz vorgenommen; nur in einem Fünftel der Fälle ging es um den Verkauf von Drogen. Die meisten Gefängnisinsassen hatten nie etwas mit Gewaltverbrechen oder mit Drogenhandel zu tun. In den neunziger Jahren, als der «Krieg gegen Drogen» dramatisch ausgeweitet wurde und die Zahl der Verhaftungen enorm anstieg, erfolgten fast achtzig Prozent der zusätzlichen Festnahmen wegen Besitz von Marihuana – eine Droge, die in den Quartieren des weissen Mittelstands mindestens so häufig vorkommt wie in den Innenstädten.

Und so entstand durch den Drogenkrieg in erstaunlich kurzer Zeit eine neue Unterkaste von Schwarzen. Millionen von AfroamerikanerInnen und Latinos haben heute einen Eintrag im Vorstrafenregister und haben ihre Bürgerrechte verloren, für die ihre Eltern und Grosseltern einst so hart gekämpft hatten und für die sie in einigen Fällen sogar gestorben waren.

In mancherlei Hinsicht geht es den AfroamerikanerInnen 2012 nicht besser als 1968, als Martin Luther King ermordet wurde und grosse Aufstände die Innenstädte der USA erfassten. Fast ein Viertel aller AfroamerikanerInnen lebt heute unter der Armutsgrenze, das ist in etwa der gleiche Prozentsatz wie damals. Die Armutsrate für schwarze Kinder liegt heute sogar höher als damals. Die Arbeitslosenrate unter den Schwarzen nähert sich den Verhältnissen in einigen Staaten der sogenannten Dritten Welt – und das trotz Affirmative Action.

Das ist nicht, wovon Martin Luther King geträumt hatte. Das ist nicht das gelobte Land. Die zyklische Wiedergeburt des rassistischen Kastenwesens in den USA ist ein immer wiederkehrender Albtraum.

Michelle Alexander ist aktive Bürgerrechtlerin, Rechtsprofessorin an der Ohio State University 
und Autorin von «The New Jim Crow: Mass Incarceration in the Age of Colorblindness» 
(New Press 2010). Dieser Text ist eine 
Bearbeitung ihres englischen Originalbeitrags 
auf www.tomdispatch.com. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Lotta Suter.

«Gerechtigkeit für Trayvon»

Im US-Bundesstaat Florida erschoss der ehrenamtliche Chef einer privat organisierten Quartierpatrouille Ende Februar einen unbewaffneten Jugendlichen auf dem Weg von einem Kiosk zum Haus seines Vaters. Das Opfer Trayvon Martin war Afroamerikaner, der Todesschütze George Zimmerman ein hellhäutiger Latino. Anklage wurde gegen Zimmerman bisher nicht erhoben, denn der Nachbarschaftswächter machte sein Recht auf Selbstverteidigung geltend. Das gibt ihm in Florida und in mittlerweile dreissig andern US-Bundesstaaten auch das Recht zum Waffengebrauch, wenn er sich bedroht fühlt.

Seit Gouverneur Jeb Bush, der Bruder des früheren Präsidenten George W. Bush, dieses Gesetz 2005 in Florida eingeführt hat, verdreifachte sich die Rate der «gerechtfertigten Tötungen». Nach dem Todesschuss in Florida protestierten schwarze Bürgerrechtsorganisationen, kirchliche Gruppierungen und Gewerkschaften im ganzen Land gegen Rassismus und bewaffnete Selbstjustiz. Die Demonstrationen halten immer noch an. Mittlerweile hat sich auch Präsident Barack Obama dazu geäussert: Hätte er einen Sohn, sähe er aus wie Trayvon Martin, sagte er.