Kommentar zum Entscheid des EGMR: Ein weiterer Stein für die Festung

Nr. 8 –

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erklärt die Pushback-Praxis der spanischen Behörden für rechtens. Das Urteil ist ein Freipass für die Entrechtung Geflüchteter an den Aussengrenzen des Kontinents.

Jahrelang war der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) so etwas wie eine Korrekturinstanz: Wo die Staaten beim Schutz dieser Rechte versagten, schritt er ein – und fällte gleich mehrfach Entscheide, die Europas tödliche Flüchtlingspolitik revidierten. So gestand er Geflüchteten Ansprüche zu, die ihnen die Politik nicht gewähren wollte.

2011 bemängelten die RichterInnen in Strassburg das griechische Asylsystem, wiesen die Länder des Dublin-Vertrags an, Rückführungen dorthin einzustellen. Ein Jahr später bekräftigte das Gericht ein Verbot «kollektiver Ausschaffungen». Italien habe bei einer Rückweisung nach Libyen auf hoher See gegen das «Non-Refoulement-Gebot» verstossen, befand es im Fall «Hirsi und andere gegen Italien». Das Prinzip verbietet, Geflüchtete in Länder zurückzubringen, in denen ihnen Gefahr droht. 2014 dann folgte eine Rüge an die Schweiz. Sie müsse von Italien erst Garantien zur familiengerechten Unterbringung einholen, bevor sie die Tarakhels mit ihren sechs Kindern dorthin bringen dürfe.

Einige dieser Gebote sind von der Politik inzwischen infrage gestellt worden; seit letztem Donnerstag scheint für die Schutzsuchenden allerdings auch auf den EGMR kein Verlass mehr zu sein. An diesem Tag fällte die Grosse Kammer des Gerichts ein ebenfalls wegweisendes Urteil – allerdings eines, das Geflüchtete entrechtet.

2014 hatten zwei junge Männer aus Mali und von Côte d’Ivoire gemeinsam mit Dutzenden weiteren Personen den Zaun der spanischen Exklave Melilla erklommen, mit dem sich die EU abschottet. Die Behörden griffen sie auf und schickten sie umgehend zurück. «Heisse Abschiebungen» nennt sich das im Beamtenjargon, eine Praxis, die seit Jahren Standard ist und auch unter der sozialdemokratischen Regierung Spaniens weitergeht. Allein 2018 wurden laut offiziellen Zahlen über 650 Personen auf diese Art weggewiesen.

An ihrer Notlage seien die beiden selbst schuld, argumentierten nun die RichterInnen – und urteilten damit konträr zur ersten Strassburger Instanz. Schliesslich hätten sie auch auf legalem Weg in Spanien um Asyl ersuchen können: an einem Grenzübergang etwa oder auf einer Botschaft. Weil sie aber illegal und in der Gruppe eingedrungen seien, sei die kollektive Ausschaffung ohne individuelle Prüfung rechtens.

Abgesehen davon, dass das Urteil das Bild einer anstürmenden barbarischen Horde zeichnet, klingt die Argumentation wie ein schlechter Witz. Weiter weg von der tragischen Realität an Europas Grenzen könnte sie gar nicht liegen. Als würde jemand erst Tausende Kilometer durch die Wüste zurücklegen und dann auch noch freiwillig über meterhohe Zäune mit rasiermesserscharfen Klingen steigen, wenn er auch einfach durch ein Tor spazieren und ein Blatt Papier ausfüllen könnte. Nein, es gibt de facto keine Möglichkeit des Botschaftsasyls, auch die Schweiz hat es als eines der letzten Länder abgeschafft.

Das Urteil bedeutet deshalb nichts anderes, als dass das Recht auf Asyl ausser Kraft gesetzt wird. Denn die gerichtlich postulierten «legalen Wege» gibt es nicht. Stattdessen stehen zwischen Spanien und Marokko seit Jahrzehnten von der EU mitfinanzierte Grenzanlagen, die ja gerade verhindern sollen, dass Geflüchtete zu ihrem Recht kommen. Ebenfalls erhält Marokko von der EU Geld, damit seine BeamtInnen nur ein paar wenige zu den spanischen Grenzposten durchlassen, und schon gar nicht jene, die wenig Chancen auf Asyl haben. In den letzten Jahren hat Europa seine Flüchtlingspolitik zunehmend externalisiert, die Aussengrenzen immer weiter nach Afrika verlagert, nach Niger etwa oder in den Sudan. Mit seinem Urteil hat der EGMR dieser Praxis nun auch noch den juristischen Segen erteilt.

Das einst progressive Gericht steht dabei schon lange unter Druck. Vielleicht lässt sich sein aktueller Befund also auch mit vorauseilendem Gehorsam erklären. Klar ist jedenfalls: Er rüstet bloss jene mit juristischen Argumenten auf, die seit Jahren Stein um Stein, Zaun um Zaun an der Festung Europa bauen.

Europas Regierungen gilt Spaniens Praxis als Labor für die eigenen Abschottungsexperimente. Sie dürften den Entscheid vom Donnerstag deshalb genauestens zur Kenntnis genommen haben – und ihn womöglich als Persilschein verstehen, um die Pushbacks an den eigenen Grenzen zu intensivieren: am Evrosfluss in Griechenland, an der bosnisch-kroatischen oder ungarisch-serbischen Grenze ebenso wie im Mittelmeer.

So bitter das Urteil auch ist, letztlich zeigt es auch: Mit juristischen Mitteln allein ist der Kampf gegen die Entrechtung an Europas Aussengrenzen nicht zu gewinnen. Er ist vor allem auch ein politischer.