Doris Leuthard: «Man kann nicht Nein sagen und Ja haben»

Nr. 3 –

Die Bundesrätin glaubt, dass bei der Personenfreizügigkeit Nüchternheit siegen wird. Zudem findet sie, dass die Grossbanken ein Klumpenrisiko darstellen und der CVP ein zweiter Bundesratssitz zusteht.


WOZ: Die Gegner der Weiterführung und Ausweitung der Personenfreizügigkeit holen angesichts der Wirtschaftskrise auf. Frau Leuthard, sind Sie nervös?

Doris Leuthard: Ich spüre die Unsicherheit vieler Leute. Sie haben Angst vor der Zukunft in ihren Unternehmen. Unsicherheit verleitet die Leute dazu, Nein zu sagen. Die Personenfreizügigkeit könnte plötzlich als Bedrohung wahrgenommen werden. Aber ich glaube, die Nüchternheit wird siegen. Es geht ja primär um die Weiterführung dessen, was wir kennen. Die Gegner suggerieren, dass es primär um eine Ausdehnung geht, dass die Abstimmung neue Dimensionen schaffen wird. Ein Nein würde aber in erster Linie den bewährten Weg gefährden.

Die Guillotine-Klausel der EU - entweder Erweiterung auf Bulgarien und Rumänien oder Kündigung der Bilateralen - wird von manchen als Erpressung aufgefasst. Ist sie nicht kontraproduktiv?

Erpressung? Die Klausel war von Anfang an Teil des Pakets. Man offeriert sich heute gegenseitig vollen Marktzugang, dazu gehört ein Austausch von Waren, Dienstleistungen und eben auch Arbeitskräften. Wenn man zu einem Vorschlag Nein sagt, dann muss man auch mit den Konsequenzen leben. Das hat nichts mit Erpressung zu tun. Man kann nicht Nein sagen und Ja haben. Mich stört, dass die Gegner dieses Wegs jede Abstimmung verloren haben und trotzdem diesen Volkswillen nicht akzeptieren wollen. Wir konnten die Schwarzmalereien von Masseneinwanderung und Massenarbeitslosigkeit klar widerlegen. Trotzdem werden diese Ängste immer wieder geschürt. Diese politische Polemik gehört nun offenbar auch zur Schweiz, diese ständige Suche nach Sündenböcken.

Stört es Sie, dass dazu Menschen als gierige Raben dargestellt werden?

Das empört mich als Bürgerin dieses Landes. Sollen Raben Schmarotzer darstellen? Will man etwa behaupten, dass diese menschliche Schwäche an eine Ethnie oder Nation gebunden ist?

Frau Wirtschaftsministerin, wie sehr spielt bei Ihren politischen Überlegungen für Sie als CVP-Politikerin eigentlich Gott eine Rolle?

Das C spielt für meine Überzeugungen durchaus eine Rolle. Gerechtigkeit und Menschenwürde sind zentrale Anliegen, die ich in meine tägliche Arbeit einfliessen lasse.

Ein konkretes Beispiel, weg von Bern, weg vom Bundeshaus: die Kirchenbesetzung in Zürich. Wurde die Kirche hier missbraucht, oder ist es eben genau Aufgabe der Kirche, sich etwa für Flüchtlinge zu engagieren, gerade wenn politisch ein harter Wind weht?

Es liegt nicht am Staat zu kommentieren, was die Kirche wie zu machen hat. Das Problem der Sans-Papiers ist kein neues. Wir haben versucht, im Ausländergesetz die Härtefallregelung einzubauen. Sie wurde im parlamentarischen Prozess massiv abgeschwächt. Es kann natürlich nicht sein, dass Menschen jahrelang in einem illegalen Status leben, obwohl sie arbeiten oder ihre Kinder hier zur Schule gehen. Ideal wäre natürlich, wir hätten keine Illegalen respektive dass man sie nach einer gewissen Phase zurückführen könnte oder . . .

. . . legalisieren?

Nein. Sie müssen auch einen negativen Entscheid annehmen. Es kann nicht sein, dass jemand einfach untertaucht. Ein Rechtsstaat muss darauf zählen, dass jemand, der sich durch alle Instanzen wehren konnte, den Entscheid akzeptiert, wie er auch immer aussehen mag.

Die christlich-sozial geprägte Mitte etabliert sich seit dem 12. Dezember 2007 als dritte grosse Kraft im Parlament, neben Rot-Grün sowie SVP und Rechtsfreisinn. Geht es dabei eigentlich auch um eine Neudefinition der Bürgerlichkeit?

Die Pole links und rechts egalisieren sich. Eine Mehrheit der Bevölkerung will nicht auf Extrempositionen beharren, sondern vorwärts kommen. Ich bin bürgerlich und nicht rechtsbürgerlich. Und ich bin froh, dass diese Mitte erstarkt, dass der bürgerliche Begriff nicht länger von den Rechtsbürgerlichen dominiert wird. Ich erwarte, dass sich insbesondere jene in der politischen Mitte würdig benehmen, dass sie die Verfassung und die Grundrechte achten und von einer Eigenverantwortung ausgehen, Erfolg und Reichtum teilen können.

Um dabei als Mitte nicht dauernd das Zünglein an der Waage zu spielen - und letztlich auch die echten Mehrheitsverhältnisse im Volk widerzuspiegeln -, bräuchten Sie jetzt bloss noch einen zweiten Bundesratssitz. Konkret den nächsten frei werdenden der FDP . . .

Unsere Fraktion wird den Anspruch beim nächsten Rücktritt stellen. Zumindest habe ich meine Partei so verstanden. Hier klarere Aussagen zu machen, ist jedoch nicht meine Aufgabe, sondern jene der Fraktion.

Thema Finanzkrise: Ihr Chefökonom Aymo Brunetti war in den neunziger Jahren ein strahlender Neoliberaler. Ist er der Richtige, um Sie jetzt in der Krise zu beraten?

Politische Entscheide fällt bekanntlich das Parlament, nicht Bundesangestellte. Es ist aber nach wie vor richtig, für eine offene Marktwirtschaft einzustehen. Nicht die Folgen der Liberalisierung haben zur Krise geführt, sondern - Beispiel USA - Risiken, die nicht mehr kontrolliert wurden, falsch geschaffene Anreize, mangelhafte Aufsichten. Die Amerikaner, sowohl der Staat als auch die Privaten, lebten seit Jahren über den Verhältnissen. Dabei ist eine enorme Schuldenwirtschaft entstanden. Es ist keine Krise des neoliberalen Gedankenguts; die Krise basiert auf falschem Risikodenken. Vereinfacht gesagt: auf dem Streben nach Gewinnen, ohne arbeiten zu müssen.

Es ist doch nicht zu leugnen, dass das neoliberale System jetzt infrage gestellt ist. Sind die alten Brandstifter wirklich die richtigen Feuerwehrmänner?

Wichtig ist doch, dass differenziert wird. Nach der Immobilienkrise Anfang der Neunziger in der Schweiz und dem EWR-Nein brauchten wir zwölf Jahre, um aus dem Reformstau herauszukommen. Wir hatten während dreier Jahre ein Negativwachstum, erst durch die Bilateralen fanden wir da wieder heraus. Es musste etwas passieren. Der Staat ist doch kein Antikrisengarant. Und Ethik können Sie nicht verordnen. Wir alle kaufen Aktien, wir alle versuchen doch, unseren Gewinn zu erhöhen. Wir sind demnach selbst Teil des Systems, das die Banken betrieben haben. Es wurden Fehler gemacht, man sollte aber bei der Kritik korrekt und selbstkritisch bleiben.

Frau Leuthard, die Sozialdemokraten werfen Ihnen vor, Ihr Konjunkturprogramm sei zu knausrig.

Vergleiche mit anderen Ländern funktionieren nicht. Italien zum Beispiel war schon 2008 in der Misere. Deutschland ist auch stärker betroffen als wir. Und schauen Sie, in Deutschland diskutieren sie immer noch. Wir haben seit Januar eine Milliarde Franken freigegeben. Es gibt nicht viele Staaten, die ihre Massnahmen schon umgesetzt haben. Aber vielleicht hätten wir auch alles zusammenzählen und in einem Guss präsentieren sollen. Mein Kollege Hans-Rudolf Merz etwa hat Pläne bei der Familienbesteuerung, dem Ausgleich der kalten Progression, der Ehegattenbesteuerung. Das sind weitere zwei Milliarden Franken. Das könnten wir auch dazurechnen.Wir sind also bei den Leuten.

Ihr Kollege Merz hat das sogenannte UBS-Rettungspaket am Parlament vorbeigeschleust. War das der richtige Weg, um der Bevölkerung das Vertrauen in eine liberale Politik zurückzugeben?

Der bundesrätliche Vorschlag zur Finanzkrise war schwierig zu verstehen. Das mussten wir im kleinen Kreis vorbereiten. Und dann - peng! - war es da. Da sind die Leute natürlich erschrocken. Viele glauben, wir hätten der UBS sechs Milliarden geschenkt. Wir haben eine Pflichtwandelanleihe gezeichnet, die dreissig Monate läuft und 12,5 Prozent Zins bringt. Ich verstehe die Wut in der Bevölkerung, und wer Fehler gemacht hat, soll dafür geradestehen. Aber wir haben jetzt eine Wirtschaftskrise. Diese gilt es zu bewältigen, damit wir so schnell als möglich aus dieser Krise herausfinden und die Arbeitsplätze in einem vernünftigen Mass erhalten bleiben. Das sind meine Sorgen, ich kann die Weltkrise nicht wegzaubern.

Dass das Rettungspaket notwendig war, darüber waren sich die meisten Ökonomen einig. Das Problem war die Demokratiefrage. Merz sagte, er würde es wieder so machen, wieder am Parlament vorbei.

Das Problem ist doch, dass wir über eine börsenkotierte Firma sprechen. Wie wollen Sie das vor Publikum diskutieren? Eine Staatsgarantie kam auch nicht infrage. Der Wert der UBS überschreitet den Bundeshaushalt bei weitem. Das Klumpenrisiko ist zu gross.

Finden Sie es also richtig, dass das Paket am Parlament vorbeigeschleust wurde?

Es wurde nicht einfach «vorbeigeschleust», die Finanzdelegation war involviert. Und die ist von der Verfassung dafür vorgesehen, in Krisensituationen mit dem Bundesrat Probleme zu lösen - in Vertretung des Parlaments. Das waren zusätzliche sieben Personen, die also davon wussten. Das war ein Risiko. Denn es hätte sein können, dass etwas an die Öffentlichkeit durchsickert. Da haben wir natürlich Blut geschwitzt: Klappt das wirklich? Lassen wir nirgendwo ein Papier liegen?

Die UBS machte sich indirekt auch für die Freizügigkeit stark. Haben Sie Angst, dass die Gegner da nun Sachen durcheinanderbringen? Der SVP-Nationalrat und Personenfreizügigkeitsgegner Lukas Reimann hat deswegen bereits sein UBS-Konto aufgelöst.

Die Bankenkrise und die Personfreizügigkeit haben nichts miteinander zu tun. Dieser Zusammenhang ist völlig konstruiert.

Die Ängste vor der Personenfreizügigkeit sind nicht alle konstruiert.

Unterschätzen Sie die Stimmbürger in unserem Land nicht. Die sehen auch, die Bankenkrise, die Boni, die Gier, das ist das eine und die Personenfreizügigkeit . . .

. . . aber die Folgen der Krise, die Unsicherheit, Sie sagten zu Beginn des Gesprächs ja selbst . . .

Ein Ja am 8. Februar bedeutet Stabilität. Wir profitieren enorm von der EU. Und wir haben eine gewisse Bedeutung für die EU, das darf man auch gar nicht kleinreden, wir sind vom Handelsvolumen nach den USA der wichtigste Handelspartner für die EU. Es ist nicht ein einseitiges, sondern ein freundschaftliches Verhältnis, das beiden Seiten guttut.

Danke für das Gespräch.

Danke für Ihr Engagement.