Weltsozialforum in Caracas: Jubeltruppen mit roten Kappen

Die globalisierungskritische Bewegung darf sich nicht vereinnahmen lassen.

Bleibt das Weltsozialforum (WSF) ein Jahrmarkt der Zivilgesellschaft, oder wird es zur neuen weltweiten Partei? Wie kein anderes Thema dominierte diese Frage das globalisierungskritische Treffen, das am Wochenende in Caracas zu Ende ging. Und ausgerechnet der Staatschef des Gastgeberlandes Venezuela, Hugo Chávez, bezog am deutlichsten Position. Entweder das Forum entwickle sich zu einer effizienten politischen Instanz oder es gebe keinen Grund für seine weitere Existenz, erklärte er vor gut 4000 begeisterten ZuschauerInnen im Sportstadion Poliedo. Er forderte den Aufbau einer «soliden alternativen antiimperialistischen Bewegung für den Sozialismus».
Chávez kommt in der globalisierungskritischen Bewegung gut an: Seine Angriffe auf den US-Präsidenten George Bush, «den grössten Terroristen der Welt», stossen genauso auf Zustimmung wie die Sozialprogramme seiner bolivarianischen Revolution. Darüber hinaus steht Chávez im lateinamerikanischen Trend. In mehreren Staaten des Kontinents konnten sich linke PolitikerInnen durchsetzen: so Lula da Silva in Brasilien und Tabaré Vásquez in Uruguay sowie eben erst Michelle Bachelet in Chile und Evo Morales in Bolivien. Letzterer war am WSF der eigentliche Hoffnungsträger. Immer wieder gab es Applaus, wenn der Name des indigenen Kokabauern Morales fiel. Bei keinem Treffen, das sich mit indigenen Rechten beschäftigte, fehlte der Bezug zu ihm.
Auch in den WSF-Führungsgremien macht sich bezüglich der Zukunft des Welttreffens Unbehagen breit: Das Forum drohe, zu einer «folkloristischen Veranstaltung», zu einem «Weltsalon der Zivilgesellschaft» zu verkommen, erklärte der WSF-Mitbegründer und «Le Monde diplomatique»-Herausgeber Ignacio Ramonet. Viele einflussreiche Organisationen wie die brasilianische Landarbeiterbewegung MST klagen ein, man müsse endlich gemeinsame strategische Alternativen erarbeiten. Gegen diese auf Pragmatismus setzende Tendenz steht eine Minderheit, die sich auf «alte Werte» der Bewegung beruft und am Forum als Ort des Zusammentreffens, der Debatten und des Austausches festhält. So etwa die Gruppe um den brasilianischen WSF-Mitgründer Cándido Grzybowsky. Er stellte auch in Caracas wieder klar: «Wir suchen die Differenz, denn die ist ein wichtiger Wert unserer Bewegung.»
Dass jene, die jetzt nach mehr Effektivität rufen, auf die neuen Regierungsmächte setzen, ist naheliegend und zugleich widersprüchlich. Denn schaut man genauer auf die Erfolge in den einzelnen Ländern, so verschwindet die Euphorie schnell. Lula steht in der brasilianischen Linken unter heftigster Kritik. Er habe lediglich die neoliberale Wirtschaftpolitik seines Vorgängers weitergeführt und in Sachen Landreform kaum Fortschritte erzielt, werfen ihm Kritiker vor. Ausserdem ist Lulas Arbeiterpartei in diverse Korruptionsfälle verstrickt, was praktisch die gesamte Linke des Landes in eine Krise gestürzt hat. In Uruguay und Argentinien warten soziale Bewegungen noch immer auf greifbare Veränderungen, und auch Morales wird noch beweisen müssen, wie er sich zwischen den Sachzwängen der Realpolitik und den radikalen Forderungen seiner Basis, etwa nach der Verstaatlichung der Energieindustrie, zu behaupten weiss.
Eindeutig trumpfen kann dagegen Chávez. Er kann mit den grossen Erdöleinnahmen Venezuelas Projekte finanzieren und folglich Erfolge vorzeigen. Entsprechend stark war seine bolivarianische Revolution auf dem WSF präsent. Auf fast jedem wichtigen Podium war ein Vertreter der venezolanischen Regierung dabei. Während der zweistündigen Rede des Staatschefs im Poliedo sassen über ein Dutzend einflussreicher Personen aus dem WSF-Spektrum auf der Bühne, unter ihnen auch Ramonet. Sie kamen an diesem Abend nicht zu Wort und wirkten wie die zweite Garde des Zentralkomitees.
Zweifellos hat die bolivarianische Revolution die soziale Situation vieler Menschen verbessert. Doch das strukturell autoritäre Auftreten von Chávez, seine simplifizierte Sicht auf den Gegner im Norden, die angereisten Jubeltruppen mit ihren roten Kappen, all das erinnerte an realsozialistische Verhältnisse, aus deren Scheitern heraus sich die globalisierungskritische Bewegung aufgemacht hatte, um nach Alternativen zu suchen. Nicht zufällig zählt die Rebellion der mexikanischen ZapatistInnen zu den Gründungsmomenten dieser Bewegung. Ihr Versuch, «die Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen», hat viele Menschen angesprochen. Auch wenn die verschiedenen Linksregierungen einen mehr oder weniger grossen Spielraum für Veränderung eröffnen können, tun die lateinamerikanischen GewerkschafterInnen, Indígenas, Bauernverbände und sozialen AktivistInnen gut daran, ihre Autonomie zu erhalten und sich nicht in die Regierungsverantwortung ziehen zu lassen. Ihre ausserparlamentarische Position schafft den Freiraum für die Suche nach neuen, auch unkonventionellen Lösungen. Sollten sie zu WahlhelferInnen eines Chávez, Lula oder Morales verkommen, werden sie ihre Bedeutung verlieren.