«Neuer Anarchismus in den USA»: Spiegelung der Träume

Nr. 8 –

Vielfältige Strömungen, aber oft fragwürdige Positionen: Ein Lesebuch geht den Widersprüchen des US-amerikanischen Anarchismus nach.


Staatsfeinde gibt es in den USA viele. Für einen grossen Teil der US-AmerikanerInnen ist der Staat mit seinen Rechten und Pflichten, Gesetzen und Steuern ein notwendiges Übel. Sind die USA also ein Traumland für AnarchistInnen? Einer, der es wissen muss, ist Gabriel Kuhn. Der in Innsbruck geborene Autor lebte jahrelang dort und war in anarchistischen Kreisen aktiv.

Chic und sexy

Mit einem historischen Rückblick ruft Kuhn in Erinnerung, wie wichtig der Anarchismus in Nordamerika einmal war. So war die ArbeiterInnenversammlung auf dem Haymarket in Chicago am 1. Mai 1886, der Ursprung der linken 1.-Mai-Feiern, anarchistisch geprägt. Der Schwerpunkt des Buches liegt jedoch auf dem letzten Jahrzehnt. Nach den Protesten gegen das Treffen der Welthandelsorganisation WTO in Seattle im November 1999 wuchs die anarchistische Szene rasant - auch weil die Medien auf der Suche nach den spannendsten Figuren häufig AnarchistInnen porträtierten. «Der Anarchismus war - dank der medialen Inszenierung einer anarchistischen Bedrohung - chic und sexy geworden.» Es gehe ihm vor allem darum, «einen Eindruck von der Vielfalt, aber auch von den Schwächen und Konflikten der US-amerikanischen anarchistischen Bewegung zu vermitteln», schreibt Kuhn. Das gelingt ihm ausgezeichnet. Er hat neunzehn Originaltexte übersetzt, die bisher nur in englischer Sprache zugänglich waren. Ausführlich stellt er die AutorInnen vor und geht auch auf die Diskussionen ein, die die Texte ausgelöst haben.

Das Buch zeigt eine erstaunliche Vielfalt von Strömungen und Szenen. Es gibt Organisationen, die klassische anarchistische Arbeitskampfpolitik betreiben, etwa die Northeastern Federation of Anarcho-Communists (NEFAC). Am anderen Ende stehen «primitivistische» Kreise, die vor allem an der Nordwestküste beheimatet sind. PrimitivistInnen halten die Zivilisation und mit ihr die Landwirtschaft für das Grundübel und vertreten «rewilding», die Rückverwilderung von Mensch und Tier. Heftig gestritten wird über die Frage, ob sich AnarchistInnen noch als Teil einer linken Tradition verstehen sollten. AktivistInnen nichteuropäischer Herkunft werfen der Szene ausserdem vor, die Anliegen ethnischer Minderheiten zu wenig zu beachten. Aufschlussreich ist dazu Elizabeth Martinez› Text, der der Frage nachgeht, warum sich so wenige nichtweisse Menschen an den Seattle-Protesten beteiligten.

Für viele junge AktivistInnen bedeutet Anarchie vor allem Freiheit, Abenteuer, Subkultur. Mit Güterzügen und Autostopp reisen sie quer durchs Land, planen Aktionen, organisieren Strassenpartys und propagieren vegane Ernährung. Kein Wunder, dass Gruppen wie NEFAC diesen «Lifestyle Anarchism» vehement ablehnen - aber der Traum vom wilden Leben trägt entscheidend zur Attraktivität der Szene bei. Und er ist direkt mit uramerikanischen Träumen verknüpft: Ein Leben «on the road», Individualismus, Streben nach Glück. «Anarchismus bedeutet, die Suche nach Sinn und Glück in deinem Leben selbst zu bestimmen», schreibt beispielsweise das Crimeth-Inc.-Kollektiv.

Auch bei anderen Themen spiegelt die Bewegung die Gesellschaft, aus der sie kommt: Die Idealisierung der wilden Natur der PrimitivistInnen und radikalen Umweltschutzgruppen ist nicht weit vom Naturkult durchschnittlicher NationalparkbesucherInnen entfernt - während eine vertiefte Auseinandersetzung mit ökologischen Fragen fehlt.

Die Theorie fehlt

Der US-Anarchismus ist heute vor allem vom Aktivismus geprägt. Auf der Ebene der Theoriebildung ist wenig los. Das zeigt auch Kuhns Buch: Pamphlete und Erlebnisberichte dominieren. Eine Ausnahme macht Saul Newman, der versucht, anarchistisches Denken mit postmoderner und poststrukturalistischer Theorie zu verbinden. Bedenkenswert ist vor allem sein Vorschlag, die Machtanalyse von Michel Foucault zu berücksichtigen: Machtausübung und Herrschaft finden immer und überall statt, auch in Befreiungsbewegungen. Ein wichtiger Punkt angesichts der romantischen Vorstellungen vieler AnarchistInnen: «Menschen sind frei, sich mit allen Menschen zu vereinen, mit denen sie sich vereinen wollen, und zwar auf genau die Weise, auf die sie das wollen. Gleichermassen sind sie frei, diese Vereinigungen jederzeit aufzuheben», schreibt etwa Jason McQuinn, einer der «postlinken» AnarchistInnen - als hätte es nie eine Psychoanalyse gegeben.

Das ist nur ein Beispiel für einen Schwachpunkt, der immer wieder auftaucht. Viele AnarchistInnen glauben offenbar immer noch, dass mit der Abschaffung hierarchischer Institutionen auch die Machtausübung verschwindet - obwohl Erfahrungen in informellen linken Gruppen etwas anderes zeigen.

So bleibt inhaltlich einiges ziemlich unbefriedigend. Dennoch ist das Buch sehr lesenswert - gerade weil Kuhn kein geschöntes Bild zeichnet, sondern Widersprüche, Schwächen und Ambivalenzen offen anspricht.

Gabriel Kuhn (Hrsg.): ‹Neuer Anarchismus› in den USA. Seattle und die Folgen. Unrast Verlag. Münster 2008. 304 Seiten. Fr. 30.90