Gossau SG: Auch die Affen bleiben zu Hause

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Die Kleinstadt im Westen von St. Gallen ist eigentlich ein grosses Dorf. Bericht von einem Samstagabend in der 17 000-Seelen-Gemeinde, die es mit einem neuen Polizeireglement in die Schlagzeilen gebracht hat.


Es ist wie früher: Kaum steigt man aus dem Zug, riecht es nach Joghurt, manchmal auch ein wenig nach ranziger Butter. Die «Butteri», wie die Butterzentrale genannt wurde, ist zwar verschwunden, ebenso ihre Nachfolgebetriebe Säntis und Swiss Dairy Food. Doch der Geruch ist geblieben. Gossau ist eine Lebensmitteldrehscheibe. An der Industriestrasse, entlang den Geleisen Richtung St. Gallen, reihen sich die Lager der Grossverteiler. Beim Bahnhof reckt sich Gossaus alles überragendes Wahrzeichen in die Höhe: der Betonkoloss der Nafag-Tierfutterfabrik,

Bis etwa 1850 war Gossau ein Bauerndorf. Dann wurde der Ackerbau durch die Milchwirtschaft abgelöst. Die Nähe zu landwirtschaftlichen Gebieten im Appenzellischen und Thurgauischen und die gute Verkehrslage eröffneten dem Dorf neue Perspektiven, besonders nach der grossen Stickereikrise in den zwanziger Jahren, die Elisabeth Gerter im Roman «Die Sticker» beschrieben hat. Ab 1927 war die «Butteri» für viele Jahrzehnte die grösste Arbeitsgeberin im Ort. In den sechziger Jahren legte ein Grossverteiler und Lebensmittelproduzent nach dem andern seine Verteilzentrale zwischen Gossau und dem St. Galler Quartier Winkeln an: zuerst Coop und Migros; ab 1969, mit dem Bau der Autobahn, CCA, Spar, Suttero und Jowa.

Eine Kleinstadt wird umgebaut

Angepriesen wird Gossau als «Erlebnisstadt». In seinem Charakter ist es aber ein grosses Dorf geblieben. 17 300 Menschen leben hier. Im Norden befindet sich der grösste Privatzoo der Schweiz: «Abenteuerland Walter Zoo mit der schweizweit einmaligen Schimpansen-Anlage». Weitere Sehenswürdigkeiten: Schloss Oberberg, Kolumbanshöhle, Motorradmuseum. Ach ja, und seit zwei Jahren spielt der FC in der zweithöchsten Schweizer Liga. Dort spielt jetzt auch der FC St.Gallen - dessen Stadion, die AFG-Arena, steht in Winkeln, fast schon auf Gossauer Boden.

Gossau, das ist kein Ort, aus dem die Schlagzeilen sind. Bis im November 2008 das Stadtparlament ein neues Polizeireglement erliess. Seither steht Gossau SG im Schweizer Repressionsranking vorne. Erbrechen auf öffentlichem Grund: 60 Franken. Kaugummi oder Zigaretten auf Strasse werfen: 60 Franken. Auch Spucken wird mit 60 Franken gebüsst. Das gibts sonst nur in Wallisellen. Überwachung durch Videokameras: abgesegnet. Und: Ab 23 Uhr dürfen Jugendliche nur in Begleitung von Erwachsenen auf die Strasse. Zurzach AG, Kerzers FR und Dänikon ZH lassen grüssen.

Nicht dass Gossau eine überdurchschnittliche Kriminalitätsrate zu verzeichnen hätte. Hoch ist vielmehr der bürgerliche Anteil in Parlament und Regierung. Schon wenige Tage nach Verabschiedung des Reglements durfte Stephan Kramer, Leiter des Amts für Sicherheit, von «positiven Reaktionen auf die neuen Verbote» berichten. Derweil läuft beim Bahnhof, wo früher die «Butteri» stand, das UBS-Überbauungsprojekt «Perron 3». Im Herbst sollen die ersten der 89 schicken Eigentumswohnungen und Gewerberäume bezogen werden. Gesucht sind gut verdienende ZuzügerInnen. Gossaus Einwohnerzahl steigt, viele NeubürgerInnen kommen aus Deutschland, nicht wenige aus dem medizinischen Bereich: Gossau liegt zwischen den Spitälern in St. Gallen, Herisau, Wil und Frauenfeld.

Sauber bis in die Wälder

Die Stadt soll ein neues Gesicht erhalten. Dazu gehört die «Neustadt» beim Bahnhof als urbanes Entwicklungsgebiet. Doch von Urbanität ist an diesem Tag, an dem der Frühling beginnt, wenig zu spüren. Kaum ein Mensch, der durchs Städtchen geht. Keine Kinder, die auf der grossen Wiese spielen. Die wenigen, die durch die Scheiben ihrer verglasten Balkone gucken, schauen skeptisch. Andere nicken mit dem Kopf und murmeln einen Gruss, wie man es in Dörfern zu tun pflegt.

Der Abendspaziergang führt mich in die Poststrasse, die den Bahnhof mit dem alten Kern verbindet. Ich biege rechts ab, den Dorfbach entlang bis zum Backsteingebäude, in dem heute Happy-Betten hergestellt werden. Die Gasse links, und schon hocke ich im «Treff» und trinke ein Stadtbühler Bier. Seit 1858 hat die Familienbrauerei der Konzentration im europäischen Biergeschäft standgehalten.

Auf dem Bildschirm läuft Premiere life, Bundesliga. Sport ist der dominierende Gesprächsstoff. Und das neue Polizeireglement? Peter, der Wirt, findet das Spuckverbot übertrieben. Der Nachbar ist anderer Meinung, berichtet von regelrechten Pfützen beim Bahnhof. Im «City Treff» treffe ich den neunzehnjährigen P. Die polizeiliche Kontrolle sei bis in die Wälder vorgedrungen, sagt der Lehrling, nicht mal dort sei man noch sicher.

Seit diesem Jahr ist in der «Erlebnisstadt» eine Velopatrouille unterwegs, und die kursierenden Securitas-Wächter halten das Funkgerät spruchbereit vor den Mund. Doch das Polizeireglement ist kein Thema in den Kneipen an diesem Abend, auch nicht im «Nelson Pub», wo man sich bei Hardrock vorkommt wie in den späten siebziger Jahren. Oder im portugiesischen Klub, wo das Lissabonner Derby zwischen Sporting und Benfica übertragen wird.

Sieben Minuten

23 Uhr. Ich ziehe wieder Richtung Bahnhof, noch mal durch diesen doch eigentlich gar nicht so unsympathischen Ort, der sich mit strengen Verboten, sauberen Strassen und teuren Wohnungen ein neues Image verpassen will. Vor dem Bahnhof sitzen drei jugendliche Frauen. Sie haben sich schön gemacht. Sieben Minuten dauert die Zugfahrt zum St. Galler Hauptbahnhof. Von dort sinds ein paar Schritte zur angesagtesten Disco der Stadt. Die Strassen von Gossau sind leer an diesem Samstagabend - und sauber. Nur der Joghurtgeruch, der ist noch geblieben.