Selbst organisiertes Lernen: Das Diplom ist Nebensache

Nr. 25 –

Sie gründen ihre eigenen Klassen, stellen DozentInnen ein und organisieren sich ihre Ausbildung selber. Seit 25 Jahren entstehen immer wieder neue Gruppen autodidaktischer FotografInnen.


Das Atelier von Ferit Kuyas liegt in einem alten Fabrikgebäude in Wädenswil. Langsam trudeln an diesem Samstagmorgen acht FotografieschülerInnen ein, um den dritten Teil eines Kurses über Architekturfotografie zu besuchen. In Kuyas weitem Raum stapeln sich Kartons, auf den Schreibtischen türmen sich Papierberge, in den Regalen stehen unzählige Fotobücher. Eine verstellbare weisse Wand und Stehlampen machen klar, dass hier auch Studioaufnahmen gemacht werden. Im hinteren Teil des Ateliers ist eine kleine Küche untergebracht. Eine junge Kursteilnehmerin mit einer grossen Sonnenbrille im Haar braut sich an der Kaffeemaschine einen Espresso. Sie habe diese Nacht nur eine Stunde geschlafen, stöhnt sie. Zum Kurs ist sie aus Basel angereist.

Während die Letzten eintreffen, zeigt Kuyas Kontaktabzüge, die er auf einem grossen Tisch vor der Küche ausgelegt hat. Es sind Aufnahmen, die derzeit auf seiner Website zu sehen sind. Er will einige dieser Bilder durch neue ersetzen und erklärt, wie er dabei vorgeht. Es folgt eine Diskussion über die Swiss-Foto-Award-Ausstellung in Zürich. Kuyas kritisiert die Auswahl. Einige sagen, welche Bilder sie besonders beeindruckt haben.

«Ufzgi» gehören dazu

Die acht FotoschülerInnen, die sich im Atelier von Kuyas treffen, gehören zur Gruppe autodidaktischer FotografInnen GAF 01.09. Sie haben im letzten Jahr zusammengefunden und sich danach dreimal zur Vorbereitung ihres einjährigen Kurses getroffen. Dabei haben sie sich auf die Inhalte geeinigt, die sie lernen wollen - Porträt- und Studiofotografie, Architekturfotografie sowie Reportagen und Streetlife - und die passenden DozentInnen dazu gesucht.

Am heutigen Kurstag, der bis vier Uhr nachmittags dauern soll, werden die Hausaufgaben der TeilnehmerInnen besprochen. Ziel war es, ein Gebäude möglichst detailgetreu zu fotografieren. Worauf man dabei achten muss, hatte Kuyas in einem Skript festgehalten, das er im Vorfeld verteilte. Cornelia Walder möchte, dass ihre «Ufzgi» zuerst besprochen werden, weil sie nur bis zum Mittag bleiben kann. Sie stellt im Ortsmuseum Urdorf Fotoporträts aus und will während der Öffnungszeiten dort anwesend sein. Ferit Kuyas setzt sich an einen Computer und lädt Walders Bilder auf den Schirm. Die KursteilnehmerInnen stehen hinter ihm.

«Ich habe es immer extrem bereut, wenn ich Architektur von Hand fotografiert habe», ist einer seiner ersten Kommentare zu Walders Bildern. «Von Hand? Ich hatte doch ein Stativ!», gibt Walder zurück. Gerade Linien sind in der Architekturfotografie das A und O. Kuyas zeigt, wie man mit dem Programm Photoshop das Bild so verändern kann, dass die horizontalen und vertikalen Linen nicht mehr schief stehen. «Wir machen hier keinen Journalismus», sagt Kuyas, «Architekturfotografie ändert die Realität nicht so, dass es für die Menschheit schlimme Konsequenzen hat.»

Das System der GAFs gibt es seit über 25 Jahren. Einer der Gründer war Marc Blaser. Er wurde von der Autonomen Lerngruppe inspiriert, einer Gruppe Jugendlicher aus dem Umfeld der Zürcher Bewegung. Sie wollten sich unabhängig von staatlichen und privaten Institutionen auf die Maturaprüfung vorbereiten und hatten ihn als Geografielehrer engagiert.

Blaser wirkte in der Folge während zehn Jahren als GAF-Dozent und hat in dieser Zeit auch immer wieder Gruppen zusammengeführt. «Wer meine Telefonnummer rausfand, hatte schon eine erste Hürde übersprungen.» Inzwischen entstehen neue GAFs dank der Website www.gaf-portfolio.ch. Dort hatte auch Manu Heim ihr Inserat platziert, das schliesslich zur Gründung der GAF 01.09 führte. «Ich bin dem Produkt GAF immer wieder begegnet. Schon mehrmals wollte ich bei einer Gruppe mitmachen, kam aber immer zu spät.» Jedes Jahr entstehen fünf bis neun GAF-Klassen in verschiedenen Regionen der Schweiz - sie sind voneinander unabhängig.

Das selbst organisierte Lernen hat sich unter FotografInnen etabliert. Doch Marc Blaser ist über die Entwicklung bei den GAFs nicht nur glücklich. «Ich finde es schade, dass eine Schule mit professionellem Ansatz zur Amateurgruppe verkommt.» Das Engagement der SchülerInnen sei seit den achtziger Jahren stark zurückgegangen. Früher hätte man ein Arbeitspensum von fünfzig Prozent während eines Jahres vorausgesetzt. GAF-AbsolventInnen seien immer wieder direkt in den Fotografenberuf hineingerutscht. «Der ‹Tages-Anzeiger› war eine Zeit lang völlig vergafft», sagt Blaser. Mit der heutigen GAF-Ausbildung sei so ein Einstieg nicht mehr möglich.

Kurs abgebrochen

Silvia Luckner war in den achtziger Jahren Absolventin der fünften GAV-Klasse. Sie arbeitet bis heute als Fotografin und unterrichtet auch GAF-Gruppen. Ausserdem wird sie als Chefexpertin bei Lehrabschlussprüfungen im Bereich Fotografie beigezogen. Auch sie stellt eine Veränderung im Arbeitspensum der GAFs fest. Allerdings ohne es zu bedauern: «In den achtziger Jahren wollten wir eine andere Art von Fotografie lernen, als sie an der Kunstschule oder in der Berufsschule angeboten wurde.» Heute könne jedoch, wer Fotografie zum Beruf machen wolle, zwischen sehr vielen Angeboten wählen. «Für eine professionelle Ausbildung sind inzwischen andere zuständig.»

Olivia Heussler unterrichtet seit zwanzig Jahren an GAFs. Auch sie bestätigt, dass heute eine Lerngruppe weniger Zeit in die Ausbildung investiert. Aber gerade in ihrem Bereich - der Reportagen- und der Autorenfotografie - sei es eben auch extrem schwierig geworden, von der Arbeit zu leben. «Was mir an den GAFs gefällt, sind die sehr unterschiedlichen Leute, die da zusammenkommen. Viele haben ganz konkrete Projekte, auf die ich im Kurs eingehen kann.» Heussler stellt fest, dass das Niveau der einzelnen GAFs sehr unterschiedlich ist. «Ich habe auch schon zweimal einen Kurs abgebrochen. Wenn die Hausaufgaben nicht gemacht werden und der Kurs nicht ernst genommen wird, dann ist es für mich unmöglich, zu unterrichten.»

Der GAV-Dozent Roland Iselin hält hingegen das Engagement der SchülerInnen nach wie vor für hoch. «Vielleicht ist man nicht mehr so visionär wie früher», sagt er. Viele würden sich nicht mehr klar dazu bekennen, dass sie die Fotografie zum Beruf machen wollten, auch wenn sie den Wunsch insgeheim hegten.

Im Kurs der GAF 01.09 ist es inzwischen Mittag geworden. Cornelia Walder muss zu ihrer Ausstellung. Sie will Fotografin werden, sagte sie, ohne zu zögern. Besonders angetan hat es ihr die Porträtfotografie. Neben der GAF verfolgt sie ihre Projekte auch im Rahmen des Lernfoyers der EB Zürich (siehe weiter unten). «Ich höre immer wieder, dass es schwer ist, in der Fotografie Fuss zu fassen.» Doch die 36-jährige kaufmännische Angestellte lässt sich nicht beirren. «Ich habe schon sechs Aufträge in der Pipeline.»

Entscheidend sind die Bilder

Die KursteilnehmerInnen sitzen jetzt um den grossen Tisch herum. Ferit Kuyas kocht für alle Spaghetti. Manu Heim erzählt, dass in der Gruppe niemand «den Lead» habe. Finanziert werden die DozentInnen aus einem gemeinsamen Konto. Alle TeilnehmerInnen haben am Anfang des Jahres je 500 Franken überwiesen, mit diesem Geld zahle man die Kurskosten. Wenn das Geld aufgebraucht sei, müssten alle nochmals einen Betrag nachschiessen. Heim arbeitet achtzig Prozent in der Unternehmenskommunikation. Sie sieht sich als «ambitionierte Hobbyfotografin», arbeitet aber gleichzeitig noch bei einer zweiten GAF mit.

Die Spaghetti sind im Wasser, die Sauce köchelt vor sich hin. Ferit Kuyas setzt sich ebenfalls an den Tisch. Neben den Kursen und der Architekturfotografie beschäftigt sich Kuyas auch mit künstlerischen Projekten. Er selber hat zwei Jahre Architektur studiert und danach einen Jus-Abschluss gemacht. In die Fotografie sei er reingerutscht, ohne einen entsprechenden Abschluss: «Entscheidend sind nur die Bilder selber, die jemand macht. Und in der Schweiz leider auch noch die Beziehungen, die man hat. Doch kein Mensch verlangt in der Fotografie von jemandem ein Diplom.»

Dennoch: Auf eine schriftliche Kursbestätigung muss auch in der GAF niemand verzichten. Wer so ein Papier will, kann es sich von der GAF-Website herunterladen und von mindestens zwei DozentInnen unterschreiben lassen.


Das Lernfoyer der EB Zürich



«Hierher kann jeder mit seinem individuellen Lernprojekt kommen», sagt Hans-Peter Hauser stolz. Hauser ist Rektor der EB Zürich, der kantonalen Berufsschule für Weiterbildung. Die EB-Zürich beherbergt an ihrem Hauptsitz im Zürcher Seefeldquartier eine schweizweit einzigartige Einrichtung - ein Lernfoyer für selbstorganisiertes Lernen. Das Lernfoyer ist gedacht für jene, die bezüglich Zeit und Strukturen flexibel sein wollen und ein ganz bestimmtes Lernziel verfolgen. Fünfzig Arbeitsplätze stehen von Montag bis Samstag zur Verfügung.

Im Lernfoyer wird zumeist an Computern gearbeitet. Neben einem Internetzugang sind auf ihnen all die Programme installiert, welche die EB Zürich in ihrem Kursangebot braucht. Man kann hier also selbstständig Computeranwendungen wie die Bild- und Videobearbeitung erlernen, diese aber auch für eigene Projekte einsetzen. Wer etwa eine Fremdsprache lernt, kann auch auf das vorhandene schriftliche Unterrichtsmaterial der Schule zurückgreifen.

«Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass so eine Einrichtung nur mit einer guten Betreuung funktioniert», sagt Hauser. Im Lernfoyer sind immer zwei MitarbeiterInnen anwesend, die bei Fragen Hilfe bieten. Sie beraten auch NeueinsteigerInnen, um Lernvorhaben zu strukturieren. Im Lernfoyer werden auch themenbezogene individuelle Beratungen sowie Lernateliers in Gruppen angeboten. Die Teilnahme an einem Lernatelier inklusive Lernfoyerbenutzung kostet für drei Monate 200 Franken. Die Foyerbenutzung alleine kostet im gleichen Zeitraum 100 Franken.

www.eb-zuerich.ch