Alternative Schule: Jedes Kind will lernen – aber ohne Druck
Viele Kinder, die in die Schaffhauser Stadtrandschule kommen, hatten in der Schule bisher vor allem Probleme. Hier lernen sie in altersdurchmischten Lerngruppen mit individuellen Wochenplänen. Und was sie lernen, geht weit über den Schulstoff hinaus.

Plötzlich steht ein Polizist im Zimmer. Einen Moment lang erschrecken alle: Hat eines der Kinder etwas angestellt? Dann fällt es Thomas Schwarz wieder ein: Er selbst hat den Polizisten ja eingeladen. Der soll mit den Elfjährigen, die bald die Veloprüfung ablegen müssen, Verkehrskunde üben. «Das hatte ich total vergessen!» Aber kein Problem: Der Polizist bekommt ein Stück Kuchen und einen Kaffee, wenige Minuten später sind die SchülerInnen in einem Zimmer versammelt und hören ihm konzentriert zu. Und zeigen, dass sie das auch können: still sitzen beim Frontalunterricht. Obwohl sie das hier, an der Stadtrandschule im Schaffhauser Steingut-Quartier, fast nie müssen.
«Bei uns geht es immer zuerst um das Kind», sagt Thomas Schwarz, der die Stadtrandschule zusammen mit Renate Boll leitet. «Und erst dann um den Schulstoff.» Jedes Kind will lernen – davon gehen hier alle aus. Aber es will es in seinem eigenen Tempo und ohne Druck tun. Darum gibt es in der Stadtrandschule keine Jahrgangsklassen, in denen alle das Gleiche lernen. Die 44 Kinder und Jugendlichen sind in drei Lerngruppen aufgeteilt: erste und zweite Klasse, dritte bis sechste Klasse und Oberstufe. Der Schulstoff entspricht dem kantonalen Lehrplan, aber jedes Kind bekommt Woche für Woche seinen persönlichen Lernplan.
Viele Pädagoginnen und Entwicklungspsychologen sind überzeugt vom individuellen Lernen – auch der bekannte Kinderarzt und Buchautor Remo Largo, der dem Beirat der Schule angehört. Largo betont immer wieder: Wenn Kinder so lernen könnten, dass sie weder über- noch unterfordert seien, stärke das Motivation und Selbstvertrauen.
Der imaginäre Durchschnittsschüler
Im Wochenplan einer Viertklässlerin steht zum Beispiel: «Erfinde eine Räubergeschichte. In deiner Geschichte muss etwas gestohlen werden!» Oder auch trockener: «Lies die Übung b im roten Heft auf Seite 129 einer Lehrperson vor.» Wann die Schülerin das macht, kann sie selber entscheiden – sie trägt es einfach am Montag in den Wochenplan ein. Fix sind nur die Fächer, für die es Gruppen braucht, zum Beispiel Sport. Die meiste Zeit macht jedes Kind etwas anderes.
«Und wir rennen herum», sagt Cornelia Iff, die zusammen mit Thomas Schwarz die dritte bis sechste Klasse betreut. «Heute wollen alle Mathe machen! Das geht nicht. Einige müssen ihr Programm umstellen. Ich kann nicht allen gleichzeitig Mathe erklären.» Iff klingt überhaupt nicht entnervt: «Grundsätzlich finde ich es toll, dass wir uns dauernd neu organisieren müssen.»
Die zehnjährige Saskia ist aus der Sprachheilschule in die Stadtrandschule gekommen. Manchmal stolpert sie noch über Wörter. Aber so schüchtern, wie sie auf den ersten Blick wirkt, ist sie nicht mehr. Gerade übt sie die schriftliche Multiplikation. Cornelia Iff erklärt, dass die Zahlen dabei exakt untereinander stehen müssen. Im gleichen Raum liest ein Junge in einem Buch, ein anderer arbeitet an einer Zeichnung. Die Türen sind offen, und niemand sitzt die ganze Lektion still. Unruhig ist die Atmosphäre trotzdem nicht. Die meisten Kinder sind konzentriert am Arbeiten. Vieles sieht hier aus wie in jeder Schule: An der Wand hängen Buchstaben und Zahlen, Zeichnungen von Walen, Schlangen und Hochhäusern bei Nacht.
Was passiert, wenn ein Kind sehr langsam lernt? Das sei kein Problem, sagt Thomas Schwarz: «Wer am Ende der zweiten Klasse nicht fertig ist mit dem Stoff, macht einfach in der dritten Klasse mit dem Zweitklassstoff weiter. Das Ziel ist, den Primarschulstoff in fünf bis sieben Jahren zu erarbeiten.» Und wer am Ende im Rückstand ist, macht als RealschülerIn weiter. «Es gibt ja auch in der öffentlichen Schule Kinder, die stark hinterherhinken. Aber dort tut man einfach oft so, als wären alle gleich weit. Man geht von einem imaginären Durchschnittsschüler aus.»
Auch in der Stadtrandschule gibt es Zeugnisse, aber die Noten bedeuten etwas anderes: «Ein leistungsschwaches Kind, das sehr engagiert lernt, hat bei uns gute Noten. Dafür bekommt ein Schüler, der viel kann, sich aber nicht anstrengt, vielleicht nur eine Vier.» Es gibt auch Prüfungen, aber die Kinder entscheiden, wann sie dafür bereit sind. Schummeln sei hier einfach, sagt Schwarz. Er erlebe es oft, dass neue Kinder ihre Freiheiten ausnützen. «Aber wer gute Leistungen hat, bekommt bei uns mehr und schwierigere Aufgaben. Wer nur dank Schummeln aufsteigt, hat es nachher umso strenger. Mit der Zeit merken sie, dass das nichts bringt. Dass sie für sich selbst lernen, nicht für die Schule.»
Möglichst wenige Regeln – das sei ein Prinzip der Stadtrandschule, sagt Schwarz. «Es gibt keinen Regelkatalog. Der Rahmen entsteht durch das Zusammenleben. Wenn fünf Kinder in einem Zimmer lesen, kann man dort nicht schreiend herumrennen. Das ist für alle verständlich. Sie halten sich nicht daran, weil sie müssen, sondern weil sie den Sinn verstehen.» Möglichst wenige Regeln heisst auch, dass die Kinder ihre Handys mitnehmen dürfen und Zugang zu Computern haben – «und natürlich schauen sie da manchmal etwas anderes an, als sie sollten», sagt Cornelia Iff. «Es braucht auf beiden Seiten Vertrauen», sagt Thomas Schwarz. «Wenn die Kinder uns nicht mögen würden, würden sie es ausnutzen, wenn wir knapp besetzt sind.»
Auch hier orientiert sich die Schule an Remo Largo. «Ein Schüler kann nur dann gut lernen, wenn er sich geborgen und angenommen fühlt», schreibt Largo in seinem Buch «Lernen geht anders». «Je jünger ein Kind ist, desto mehr erwartet es, dass der Lehrer emotional zu ihm steht, es beschützt und ihm Hilfe bietet, wenn es danach fragt.»
Mathe nervt trotzdem
Der zappelige Drittklässler Miguel liest seinen Aufsatz vor: eine Rittergeschichte voller List und Tücken. Vier Seiten lang! Miguel ist stolz darauf. Hier sei es viel schöner als in seiner früheren Schule: mehr Pausen, keine Hausaufgaben. Das System der Wochenpläne gefällt ihm. Der Oberstufenschüler Musa stimmt zu: «So geht es viel besser, als wenn man immer aufstrecken muss. Ich kann mich hier besser konzentrieren. Und die Lehrer erklären so, dass ich es verstehe. Früher hasste ich Mathe …» «Ich hasse Mathe immer noch!», fällt ihm Miguel ins Wort. Musa fährt fort: «Aber wenn ich es nicht mache, ist es mein Problem, nicht das von Herrn Schwarz.» Er klingt überzeugt. In der Stadtrandschule hat Musa aufgeholt. Kaum zu glauben, dass er vor drei Jahren aus der Primarschule flog.
Dann muss Miguel wieder zurück zu seinen Mathematikaufgaben. Es ist schon Freitag, nur dieses Fach fehlt ihm noch für die Erfüllung seines Wochenplans. Miguel lässt den Kopf auf die Tischplatte sinken, wackelt mit dem Stuhl, gähnt. Auch selbstständiges Lernen kann nerven.
Die meisten Kinder sind in der Stadtrandschule gelandet, weil sie in der öffentlichen Schule über- oder unterfordert waren, gemobbt wurden, mit den Strukturen nicht zurechtkamen. «Wir haben alles, von gläubigen Muslimen bis zu Hippies», sagt Thomas Schwarz. Der Anteil an Kindern von MigrantInnen ist hoch, die Stadtrandschule ist für wenig Verdienende attraktiv: Eltern mit einem steuerbaren Jahreseinkommen von weniger als 60 000 Franken bezahlen nur 150 Franken im Monat – inklusive Mittagstisch. Das sei weniger, als allein der Mittagstisch in der öffentlichen Schule koste, sagt Schwarz.
Warum kann sich die Stadtrandschule das leisten? Weil sie Teil eines grösseren Projekts ist: Das Atelier A bildet in Schaffhausen junge Leute aus, die Probleme haben, in einer Berufslehre Fuss zu fassen, bei der IV gelandet oder kriminell geworden sind. Ohne wirtschaftlichen Druck können sie zum Beispiel Koch, Schuhmacherin oder Schreiner werden. IV und Jugendanwaltschaft finanzieren die Ausbildungen mit. Die Stadtrandschule ist eine Ausbildungsstätte des Ateliers A: Drei junge Leute lernen hier den Beruf «Fachfrau/Fachmann Betreuung Fachrichtung Kinder». Sie nehmen am Schulalltag teil und betreuen manchmal auch Kinder einzeln, zum Beispiel die drei behinderten SchülerInnen, die die Schule besuchen.
Freiraum macht stark
Am Mittag gehen alle zusammen über die Strasse zum ehemaligen Restaurant Sandlöchli. Grössere halten Kleinere an der Hand. Das Restaurant ist ein weiterer Ausbildungsbetrieb des Ateliers A. Hier kochen Lernende täglich für sechzig Leute: für die anderen Lernenden, die LehrmeisterInnen und die SchülerInnen der Stadtrandschule.
Beim Mittagessen vermischen sich die Altersstufen. Zehnjährige blödeln mit Teenagern. Ein wuschelköpfiger Lehrling nimmt ein kleines blondes Mädchen an der Hand, gemeinsam gehen sie Suppe holen. Ein berührender Moment – vielleicht passiert das Wichtigste an der Stadtrandschule ausserhalb des Unterrichts. Nach dem Essen beginnt der zehnjährige Simon mit Downsyndrom zu brüllen. Thomas Schwarz beruhigt ihn, andere Kinder begleiten ihn auf den Spielplatz.
Aber was passiert, wenn die Jugendlichen die Stadtrandschule verlassen? Wenn sie in einem Alltag landen, der von Hektik und Konkurrenz geprägt ist? Thomas Schwarz ist überzeugt: «Man kann nicht schlechter mit Druck und Autoritäten umgehen, wenn man mehr Freiraum in der Schule hatte. Im Gegenteil. Unsere Kinder haben ein gesundes Selbstbewusstsein, weil sie nicht dauernd hören: ‹Das kannst du eh nicht.› Damit sind ihre Chancen sicher nicht schlechter.»
Alternativen für die Schule : Privat oder öffentlich
Persönliche Wochenpläne, Lernen in altersgemischten Gruppen ohne Konkurrenz – die private Schaffhauser Stadtrandschule macht gute Erfahrungen damit (vgl. Haupttext). Warum gibt es in der öffentlichen Schule kaum ähnliche Versuche?
«In der öffentlichen Schule herrscht heute ein elendes Gehetz», sagt der Kinderarzt und Stadtrandschule-Beirat Remo Largo. «Die Kinder lernen auf Prüfungen, dann vergessen sie wieder. Noten bringen überhaupt nichts, das weiss man aus diversen Studien.»
Largo glaubt nicht mehr daran, dass sich die öffentliche Schule entscheidend verändern lässt. Er hat darum letztes Jahr die (chancenlose) Initiative für eine freie Schulwahl im Kanton Zürich unterstützt, die forderte, dass auch Privatschulen staatlich unterstützt werden. Thomas Schwarz, Lehrer an der Stadtrandschule, sieht die freie Schulwahl skeptischer: «Es besteht die Gefahr der Elitebildung.» Er hält es weiterhin für wichtig, Veränderungen in der öffentlichen Schule zu fordern: «Dort wäre viel mehr möglich. Ich habe auch in der Schule, in der ich früher angestellt war, mit Lernplänen und persönlichen Leistungszielen gearbeitet – nicht in einer Kleingruppe, sondern mit 24 Kindern. Aber ist das überhaupt erwünscht?»
Die Gewerkschaft VPOD fordert seit langem Alternativen innerhalb der öffentlichen Schule. Zum Beispiel mit dem Manifest für eine Schule ohne Selektion (www.schule-ohne-selektion.ch): Alle Jugendlichen sollen gemeinsam bis zur neunten Klasse unterrichtet werden. Finnland hat mit diesem Modell gute Erfahrungen gemacht.
Bettina Dyttrich