«Nahrung»: Diese ganz besondere Paprika
Filme, eine Kunstausstellung, Podiumsgespräche, Musik, ein Stadtrundgang und ein Kitchen Battle beleuchten in der Roten Fabrik unterschiedlichste Aspekte von Nahrung. Ein Bericht von der Ausstellungseröffnung.
Über Essen lässt sich nicht leicht schreiben. Es handelt sich wohl um eine Erfahrung, die gemacht werden muss. Wobei «machen muss» eine an dieser Stelle merkwürdige Formulierung ist, weil man diese Erfahrung zwangsläufig täglich macht, ob man nun will oder nicht.
Über das Verhältnis, das Menschen zur Nahrung haben, darüber lässt sich eher berichten, ein Verhältnis, das eines zur Welt schlechthin ist und fast alles beinhaltet, was menschliches Leben ausmacht. Geht es doch nicht nur um den Hunger oder die Völle, die Lust oder den Überdruss, zeigen sich doch im Umgang mit der Nahrung sowohl die sozialen Konventionen, die politischen Machtverhältnisse wie auch das Bild, das sich die Menschheit von ihrer Leiblichkeit macht. Denn von der Abhängigkeit von Nahrung kann sich niemand befreien, und privilegiert ist, wer wählen kann, was oder wie viel er oder sie isst.
Teuer, dieses Essen
«Mehr Zeit zum Leben». Mit diesem Slogan wird für exotische Fertiggerichte geworden. Die Zeit, die wir für die sorgfältige Beschäftigung mit unserer Nahrung benötigten, scheint nicht zum Leben zu gehören. Eine solche Lebensauszeit nimmt sich jedoch die Rote Fabrik in Zürich und widmet sich ausgiebig dem Thema Nahrung: Nahrung in der Kunst, als politische Munition, als Historie, Nahrung im Filmskript, als Menetekel menschlicher Grausamkeit und Perversität, Nahrung als Hilfsmittel und als Baustein für Kultur.
David Höner ist Begründer des Vereins Cuisine sans frontières, der sich für eine bessere Esskultur in Krisengebieten einsetzt. Mit ihm schlendere ich durch die von Esther Eppstein kuratierte Ausstellung «Nahrung – kaleidoskopische Untersuchung eines Treibstoffs». Trotz interessanten Werken will sich weder Hunger noch Lust nach Essen einstellen. Die Exponate erzählen nicht vom Treibstoff an sich, was unsere Geschmacksnerven reizen dürfte, sondern ausschliesslich von seiner sozialen und emotionalen Funktion.
Lebenszeit aufgewendet haben die Performancekünstlerinnen Marina Belobrovaja und Ana Strika. An der Vernissage verkaufen sie Lose, zu gewinnen gibt es ein «Dinner for two» an einem schön gedeckten Tisch, der auf einer Bühne steht. In der Hoffnung auf Essen kaufen wir ein Los. Wir gehören eine Stunde später nicht zu den Glücklichen und müssen zuschauen, wie das Gewinnerpaar ausgiebig tafelt. Noch weiss niemand um die Rechnung, die zum Ende präsentiert und über tausend Franken betragen wird. Ja, teuer ist dieses Essen. Über zwei Monate dauerte die Lebensmittelbeschaffung, da jeder Bestandteil des Menüs in einem seiner Herkunftsländer über Kontakte zu Freunden oder Onlineshops direkt bestellt und von dort zugeschickt worden ist. Ob es sich nun um Pfeffer aus dem Iran (10 Gramm, Einkauf: 1 Franken, Transport: 2 Franken) oder Reis aus Japan (80 Gramm, Einkauf: 4 Franken, Transport: 17 Franken) gehandelt hat, bestellt wurde nur so viel wie nötig für diese einmalige Performance.
Belobrovaja entschädigt uns für das Nichtgewinnerlos mit Anekdoten über das Beschaffungsabenteuer, in ihren Händen eine imaginäre Paprika, die es aus der Türkei nicht bis hierher geschafft hatte und schlussendlich aus Kroatien geholt werden musste. Ihre Augen leuchten. Es sei umwerfend, wie kostbar eine Paprika werde, wenn man so viel Zeit für ihre Beschaffung gebraucht habe und nur diese und keine andere für den geplanten Zweck zu verwenden sei.
Wenn man kein Essen bekommt, erzählt man sich Geschichten. David Höner berichtet von einer anderen Ausstellung in Deutschland, die sich mit der Nahrung von AstronautInnen beschäftigt. Obwohl sie sich mitunter über Jahre im All aufhalten und jedeR von ihnen pro Tag eineinhalb Kilo Nahrung vertilgt, ist es möglich, einen ausreichenden Vorrat an gesunder, schmackhafter Nahrung zu gewährleisten. Man entzieht den Lebensmitteln das Wasser, in der Raumkapsel kommt die Feuchtigkeit wieder dazu, und die italienische Pasta quillt auf wie ein duftender Stocki von Knorr. Als ich später nochmals durch die Ausstellung gehe, frage ich mich vor Martin Städelis Installation «Ich. Nahrung» – drei abgemagerte Papiermachéfiguren halten je eine zerbeulte Weltkugel in Händen –, warum es denn möglich sei, AstronautInnen über Jahre im All zu ernähren, nicht jedoch alle Menschen, die auf der Erde im Vergleich zu den AstronautInnen in direktester Nachbarschaft leben? An Rohstoffen, Technologie und Organisationstalent fehlt es offensichtlich nicht.
Der Mensch will nicht. So mein Fazit. Und ich ziehe den Duft von Russ und Asche in die Nase, der von Via Lewandowskys Installation «Tischgebet» aufsteigt. Verbranntes Geschirr, verbrannte Pizza, schwarze Gläser unter dem Titel: «Verbrenne, was du angebetet hast, und bete an, was du verbrannt hast.»
Um Brandherde kümmert sich auch Cuisine sans frontières. Die ganze Welt ist scharf auf Palmöl, das in Kolumbien grossflächig und unter der Kontrolle von internationalen Konzernen, Grossgrundbesitzern und Regierungen gewonnen wird. Ein Milliardengewinn, gescheffelt auf den Gräbern von unzähligen Toten. Die Bauernfamilien werden von ihrem Boden vertrieben, gefoltert, getötet. Das Friedensdorf San Josecito versucht zu widerstehen, indem es sich jeglicher Teilhabe am Krieg entzieht. Die Köche David Höner, Tom Gfeller und Ivo Müller haben dort eine kleine Schokoladenfabrik und eine Gemeinschaftsküche aufgebaut, die den Kindern pro Tag eine warme Mahlzeit und den Frauen ein zusätzliches Einkommen ermöglichen soll. Im Holzofen backen sie Brot, sie pressen frische Säfte und verarbeiten den Kakao mit den Schokolademaschinen zu handelsfertigen Klötzchen.
Netze flicken
Es steht aber nicht nur der physische, sondern auch der soziale Stoffwechsel im Zentrum des Anliegens. Gemeinsam kochen und essen ist ein kulturelles Ritual, das Lebensfreude und Vertrauen stiftet. Man sitzt am selben Tisch, diskutiert, tauscht sich aus. Netze flicken, nennt es David Höner, den Menschen das soziale und politische Selbstvertrauen zurückgeben. Für Cuisine sans frontières, deren MitarbeiterInnen alle ehrenamtlich arbeiten, werden zum Ende des Nahrungsmonats im Restaurant Ziegel oh Lac vier Teams von Zürcher Spitzenrestaurants in einen Krieg der ganz anderen Art ziehen. Kitchen Battle. Die Gäste und eine Fachjury entscheiden, wer gewinnt. Der Erlös geht an Cuisine sans frontières für zukünftige Projekte in Brasilien, Ecuador und Albanien.
Ich nehme vom Vernissagenbuffet ein mit Käse und Spinat gefülltes und in Öl ausgebackenes Ding. Die Ausstellung und die BesucherInnen verschwinden für einen Augenblick aus meinem Fokus. Es zählt nur mein Hunger, das knusprige Ding in meinen Händen, Mund und Magen. Ich esse. Also lebe ich.
Siehe auch das Monatsinterview vom August 2007 und «O du Justitia!» vom September 2009 .
«Nahrung in der Roten Fabrik – ein polymorphes Festival zu vielfachen Aspekten des Phänomens Nahrung» in: Zürich, Rote Fabrik, bis Sa, 3. Oktober 2009. www.rotefabrik.ch