Durch den Monat mit Marina Belobrovaja (Teil 4): Ist Kunst probat?
Sechzehn Tage sind seit dem Ende von Marina Belobrovajas sechstägiger Aktion «Öffentliche Abschiebung» am Zürcher Helvetiaplatz vergangen. Seit sechs Tagen ist Belobrovajas Aufenthaltsbewilligung abgelaufen.

Mo, 27. August, 18.30 Uhr
WOZ: Marina Belobrovaja, vor einer Woche haben Sie gesagt, dass es Ihnen in Ihrer Performance darum ging, ein bisher persönliches Problem als Teil eines globalen Phänomens zu thematisieren ...
Marina Belobrovaja: Es ging mir darum, einen diskursiven Raum zu öffnen. Deshalb war es mir ein Anliegen, Bea Schwager, die sich in ihrer täglichen Arbeit mit dieser Thematik befasst, in unsere Auseinandersetzung miteinzubeziehen.
WOZ: Bea Schwager, die Anlaufstelle SPAZ für Sans-Papiers, für die Sie arbeiten, befindet sich im Volkshaus – wenige Meter vom Schauplatz der Aktion «Öffentliche Abschiebung» entfernt. Glauben Sie, dass Kunst ein probates Mittel ist, in den politischen Diskurs einzugreifen und die Öffentlichkeit auf die prekären Bedingungen des illegalisierten Aufenthalts aufmerksam zu machen?
Bea Schwager: Ja. Ihre Aktion, Marina, war ein gutes Beispiel dafür. Hier im Volkshaus wurde viel darüber gesprochen. Und sie hat Aufsehen erregt. Leider neigen viele Medien dazu, nur dann über dieses Thema zu berichten, wenn eine spektakuläre Geschichte vorliegt, die sich personalisieren lässt. Mit dem Ende der Kirchenbesetzungen und der Aktionen der Kollektive hat das Thema, das über 100 000 Menschen in der Schweiz betrifft, an Attraktivität verloren.
WOZ: Wird das Problem der Sans-Papiers nicht auch ignoriert, weil sie notgedrungen im Schatten leben?
Schwager: Das kommt erschwerend hinzu. Für die Medien, die Politik und die Öffentlichkeit wäre es sehr wichtig, den Sans-Papiers ein Gesicht und der Thematik eine Identität zu geben. Dadurch, dass Sie, Marina, ganz persönlich als von der Ausschaffung bedrohte Person dastanden und mit den Leuten über die Situation sprachen, wurde eine grössere Wirkung erzielt, als wenn nur über Fakten gesprochen worden wäre.
Belobrovaja: Was mich erstaunt, ist, dass sich im Gespräch mit vielen Menschen, die sich als weltoffen bezeichneten, herausstellte, dass sie kaum nähere Beziehungen zu MigrantInnen haben. Entsprechend tief war ihr Wissensstand über die Realität von AusländerInnen in der Schweiz. Die Vorstellungen darüber nähren sich vor allem aus medialen und politischen Behauptungen.
WOZ: Kann es sein, dass einem grossen Teil der Bevölkerung die gesetzliche Brutalität und ihre verheerenden Auswirkungen nicht annähernd bewusst sind?
Schwager: Davon ist auszugehen. Tatsache ist, dass es für MigrantInnen aus Nicht-EU-Staaten praktisch unmöglich geworden ist, zu einer Aufenthaltsbewilligung zu kommen. Weil ihre Arbeit aber gefragt ist, leben sie hier, ohne eine Bewilligung zu beantragen, unter den misslichsten Bedingungen. Die Verschärfungen im Asylgesetz haben auch dazu geführt, dass immer weniger Asylanträge gestellt werden. Ehemalige, illegalisierte Asylsuchende leben in einer besonders unmenschlichen Situation, da sie den Behörden bekannt sind und das behördliche Interesse an einer Ausschaffung besonders gross ist. So werden sie mürbe gemacht – mit langer Ausschaffungshaft und mehrfachen Verurteilungen wegen illegalen Aufenthalts.
WOZ: Wie wirkt sich das auf die Arbeit von SPAZ aus?
Schwager: Die Solidarität mit Sans- Papiers wird noch wichtiger. Die öffentliche Sensibilisierung ist umso dringlicher, als im Zug des neuen Asyl- und Ausländergesetzes sowohl der illegale Aufenthalt als auch die Solidarität gegenüber Menschen, die sich in einer solchen Situation befinden, zunehmend kriminalisiert wird.
Die «Erleichterung des illegalen Aufenthalts» war ja bereits nach dem noch bis Ende Jahr gültigen Ausländergesetz ANAG strafbar. Mit dem neuen Ausländergesetz wurde das Strafmass aber massiv erhöht. Dabei geht es um elementare Menschenrechte, deren Einforderung nicht kriminalisiert werden darf. Die Migration lässt sich durch die Verschärfung der Gesetze nicht stoppen, es werden aber immer mehr MigrantInnen in die Irregularität abgedrängt, mit verhängnisvollen sozialen und gesundheitlichen Konsequenzen für die Betroffenen – und für die Gesellschaft als Ganzes. Es gibt kaum einen Bereich, in dem die Härte des Gesetzes so ungebrochen zutage tritt.
MARINA BELOBROVAJA wurde 1976 in Kiew geboren, emigrierte 1990 nach Israel, studierte ab 1995 Kunst an der
Universität der Künste in Berlin sowie ab 2002 Kunst und Kunstvermittlung
an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich.
Derzeit bearbeitet Belobrovaja
das gesammelte Videomaterial zu ihrer
Performance «Die Abschiebung».
Die WOZ wird zu einem späteren Zeitpunkt erneut darüber berichten und den weiteren Weg Marina Belobrovajas verfolgen.
http://die-abschiebung.blogspot.com
Siehe auch die WOZ-Texte «Diese ganz besondere Paprika» vom September 2009 und «O du Justitia!» vom September 2011 .
Sans-Papiers-Anlaufstelle Zürich, SPAZ, Postkonto: 85-482137-7, www.sans-papiers.ch/index.php?id=184