Durch den Monat mit Marina Belobrovaja (Teil 2): Und die Solidarität?

Nr. 33 –

Zahlreiche PassantInnen haben auf Marina Belobrovajas plakative Auf
forderung reagiert, die seit dem 6. August auf dem Kleinbus am Zürcher 
Helvetiaplatz hängt: «Sehr geehrte Damen und Herren, meine Aufenthaltsbewilligung läuft am 21. August [2007] ab. 
Leider besitze ich keinen Führerschein. Bitte, helfen Sie mir, mich auszuschaffen. Tun Sie etwas Gutes für Ihr Land!» Mehrere haben sich bereit erklärt, sie über die Grenze zu fahren. Einer hat sie vor die Wahl gestellt: Sie heiraten mich – oder ich schaffe Sie aus.

Keiner ist zum verabredeten Termin erschienen. Marina Belobrovaja steht noch immer vor dem Kleinbus – sieben Stunden vor Ende der Aktion. Zehn Tage vor Ablauf ihrer Aufenthaltsbewilligung.

Marina Belobrovaja: «Die Diskrepanz meiner Rolle schafft Verwirrung.»

Sa, 11. August, 15 Uhr

WOZ: Und?
Marina Belobrovaja: Nach sechs 
Tagen intensiver Auseinandersetzungen holt mich die Erschöpfung ein. Heute wollte mich wieder einer ausschaffen. Wir sprachen lange über künstlerisch-formale Aspekte der Aktion und darüber, welcher Ausgang am erfolgreichsten wäre. Schliesslich erklärte er sich bereit, die Rolle des «Henkers» 
zu übernehmen und mich über die Grenze zu fahren. Drei weitere Anwesende versuchten, ihn davon abzuhalten.

Mit welcher Begründung?
Damit, dass sich die Aktion nicht nur auf einer symbolischen Ebene abspiele, sondern auch auf einer realen, und er also auch zu seiner realen Tat Stellung beziehen müsse. Nach einer heftigen Auseinandersetzung wurde ihm die politische Dimension seines Angebots allmählich klar. Den anfangs übersehenen Nebensatz «Tun Sie etwas Gutes für Ihr Land» nutzte er schliesslich als Anlass, um vom Vorhaben abzusehen.

Alle «Ausschaffungsangebote» kamen von Männern. Haben Sie damit gerechnet, dass traditionelle Geschlechterrollen derart mitspielen?
Natürlich stellt meine Aktion keinen von der traditionellen heterosexuellen Rollenverteilung befreiten Raum dar. Dennoch hatte ich Mechanismen 
in diesem Ausmass nicht erwartet. Die Diskrepanz meiner Funktion als 
«Opfer» und als «Täterin» weckt offenbar Aggressionen. Das habe ich unterschätzt.

Weitere Erkenntnisse?
Kategorien wie «links» und «rechts», die für die Definition einer politischen Haltung angewendet werden, haben sich erübrigt. Die Reaktionen waren komplexer und in sich widersprüchlicher, um sie dem einen oder anderen Lager zuordnen zu können. Gespräche mit PassantInnen, die sich dem «linken» Lager zugehörig fühlen, nahmen oft eine unerwartete Wendung. Immer wieder das Argument: «Ich bin zwar links, aber ...» Dann die üblichen reaktionären Aussagen: dass die Gefahr einer «Überflutung» durch Zuwanderung 
bestehe. Dass es darum gehe, das Land vor Arbeitslosigkeit und Kriminalität 
zu schützen. Dass jede für ihr Schicksal die Verantwortung tragen und es aus 
eigener Kraft schaffen müsse. Und dann kamen die biologistischen Argumente, mit denen man «Urinstinkte» wie 
etwa die Angst um den Verlust des Eigenen so schnell für alles verantwortlich machen kann.

Hat Sie das überrascht?
Es erstaunt mich, wie selbstverständlich sich gewisse Menschen der Linken verschreiben – und sich das linke Vokabular, sobald sie in eine unmittelbare Situation involviert werden, als Hülse erweist.

Und die Solidarität?
Viele Menschen, die im Asylbereich 
tätig sind, kamen hier vorbei, um ihre Solidarität mit mir auszusprechen. 
Erstaunt war ich, als sie sich dafür entschuldigten, dass sie mich aus Zeitgründen leider nicht rausfahren können. Auf meine indirekte Frage, ob 
sie bewusst eine solche Funktion im Rahmen der «Abschiebung» auf 
sich nähmen, wenn sie nicht verhindert wären, antworteten viele, dass sie 
aufgrund ihrer beruflichen Erfahrungen so sehr mit Schwierigkeiten von AusländerInnen vertraut seien, dass 
sie gern bereit wären, unmittelbare Hilfe zu leisten. Obwohl ihnen das 
Sarkastische der Situation entgangen ist, haben sie die «Abschiebung» befürwortet.

(Ein Radfahrer, offensichtlich ein Bekannter, macht einen Zwischenhalt.)

Radfahrer: So, noch nicht ausgeschafft?

Belobrovaja: Nein.

Radfahrer: Wir werden dich dann aufnehmen. Asyl auf der Dachterrasse.

Belobrovaja: Ab Januar 2008 ist das aber strafbar.

Radfahrer: Tschüss.

(Fährt weiter.)

MARINA BELOBROVAJA, 1976 in Kiew geboren, studierte nach ihrer Emigration nach Israel (1990) ab 1995 Kunst an der Universität der Künste in Berlin sowie 
ab 2002 Kunst und Kunstvermittlung an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich. Sie hat einen israelischen Pass. Ihre Aufenthaltsbewilligung läuft am kommenden Dienstag, 21. August [2007], ab.

Siehe auch die WOZ-Texte «Diese ganz besondere Paprika» vom September 2009 und «O du Justitia!» vom September 2011 .