Deutschland: Wer will da noch regieren?

Nr. 24 –

Trotz der vielen Dissonanzen im Regierungskonzert wäre ein Abgesang auf Kanzlerin Angela Merkel verfrüht: Das Berliner Tohuwabohu ist eher Ausdruck der zunehmenden Machtlosigkeit einer politischen Klasse, die vieles so lassen will, wie es ist.


Wer Stabilität schätzt und Überraschungen nicht liebt, für den steckt das politische Deutschland in einer tiefen Krise. Gelassener mit den vielen unerwarteten Ereignissen der letzten Tage können nur jene umgehen, die in fragilen Zuständen inzwischen den Normalfall sehen. Es ist offensichtlich: Die politische Kultur verändert sich, die Politik wird unberechenbarer. Die gewohnten Ansprüche an die Geschlossenheit der jeweiligen Lager sind endgültig Vergangenheit, und die PolitikerInnen verhalten sich anders, als BürgerInnen und Medien es ihnen bisher nachsagten.

Warum kommt es zu den politischen Turbulenzen, die derzeit Schlagzeilen machen? Zwei Vermutungen: Einerseits gibt es seit wenigen Jahren das Fünfparteiensystem, das mal schleichend und mal eruptiv die Verhältnisse immer stärker verändert. Andererseits steht die Politik aufgrund der anhaltenden Finanzmarktkrise, der Eurokrise, der Wirtschaftskrise und der zunehmenden Staatsverschuldung extrem unter Druck.

Ende Mai verkündete der 52-jährige Christdemokrat Roland Koch, dass er all seine politischen Ämter niederlege. Dass der umstrittene Politiker über kurz oder lang seinen Ministerpräsidentenposten in Hessen abgeben würde, war allgemein erwartet worden. Die Radikalität überraschte dann aber doch: Koch steigt ganz aus der Politik aus. Sechs Tage später trat ohne viele Worte, sehr leise und sehr bestimmt, sehr überraschend und sehr resigniert der amtierende Bundespräsident Horst Köhler zurück: Das höchste Amt des Staates wurde von einer Sekunde auf die andere zur Leerstelle. Ein Paukenschlag. Eine Premiere. Er habe zuletzt in der Öffentlichkeit den Respekt vor seinem Amt und seiner Arbeit vermisst, sagte Köhler.

Diese beiden Rückzüge unterscheiden sich in fast allen Punkten, lehren jedoch eines: Inzwischen ziehen sich auch Politiker zurück, als sei dies das Normalste auf der Welt, die sich als Wertkonservative verstehen, denen hohes Arbeitsethos, hohes Pflichtbewusstsein und eiserne Disziplin nachgesagt werden.

Turbulenz 1: Perspektivenwechsel

Der Rücktritt von Horst Köhler verdeutlicht die Entfremdung zwischen der politischen Klasse (zu der mittlerweile auch weitgehend die Medien gehören) und Teilen der Bevölkerung sowie das Unvermögen vieler PolitikerInnen, mit unbequemen BürgerInnen und Ideen umzugehen.

Köhler hielt es mit der politischen Elite nicht mehr aus – und diese nicht mehr mit ihm. Warum? Der ehemalige Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) war als Marktradikaler in sein Amt gestartet und passte gut in das bürgerliche Lager, das ihn 2004 zum Bundespräsidenten gewählt hatte. Nach und nach entfernte er sich jedoch von Union und FDP, ohne sich auf die andere Seite zu schlagen. Er verstand sich als Sprachrohr der BürgerInnen (ohne diesen nach dem Mund zu reden) und forderte mehr direkte Demokratie, höhere Benzinpreise, einen «grünen» Umbau der Volkswirtschaft und bereits Mitte 2008 eine Regulierung der Finanzmärkte, die er «Monster» nannte. Köhler passte zuletzt nicht mehr zur politischen Klasse, die Selbstkritik nicht kennt und seine Demission unisono als persönliches Scheitern begriff: Der konnte es halt nicht.

Wer kündigt als Nächstes? Nach den Rücktritten von Koch und Köhler wechselte eine TV-Redaktion kurzerhand den Titel einer Talkshow aus, und stellte die Frage: «Will uns keiner mehr regieren?» In das von allen Medien geförderte Alltagsgeschimpfe über die korrupte Parteienpolitik, die nur versagt, schleicht sich – nicht nur als spassige Zuspitzung – die Angst ein: Was wird, wenn jetzt noch mehr gehen? Wenn immer mehr PolitikerInnen keine Lust mehr haben? Und stimmt das noch, was alle immer gesagt und geglaubt haben und was die Medien ständig schreiben – dass die da oben um jeden Preis und bis zum letzten Atemzug an ihren Posten kleben?

Turbulenz 2: Präsidentenwahl

Angela Merkel, Horst Seehofer und Guido Westerwelle, die Parteivorsitzenden von CDU, CSU und FDP, stellten unverzüglich den niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff (CDU) als Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten auf. Ihre Mehrheit ist in der Bundesversammlung, die den Präsidenten wählt, eindeutig. Trotzdem ist Wulffs Wahl inzwischen alles andere als sicher.

Um Merkel das politische Leben so schwer wie möglich zu machen, schicken SPD und Grüne einen Gegenkandidaten ins Rennen, für den auch Merkel stimmen könnte: Joachim Gauck, ehemaliger Leiter der Behörde für die Stasi-Unterlagen und untadeliger DDR-Bürgerrechtler. Wer Wulff wählt, kann auch Gauck wählen, da ist politisch kaum ein Unterschied. Jedoch: Gauck fliegen jetzt alle Herzen zu, weil Christian Wulff als Kandidat des Establishments gilt und Gauck als Unabhängiger erscheint. Und die Medien tun alles, um Gauck hochzujubeln und diesen Zweikampf zu schüren.

Ihre Überlegung: Vor allem FDP-AnhängerInnen, die mit Bundeskanzlerin Merkel ebenso unzufrieden sind wie mit ihrer eigenen Parteispitze, könnten die Parteidisziplin verletzen und eventuell Gauck wählen; die Wahl ist Ende Juni. Ihre These: Über einen Bundespräsidenten Gauck stürzt die Kanzlerin. Diese These hat kein rationales Fundament, denn die Kanzlerin verfügt im Bundestag weiterhin über eine stabile Mehrheit, und ein Präsident Gauck wäre ihr politisch genauso genehm wie der eigene Kandidat. Vermutlich dürfte sie mit dem Wertkonservativen Gauck, der sozialen Fragen gegenüber wenig aufgeschlossen ist, sogar mehr Freude haben als SPD und Grüne, die ihn aus vordergründigen taktischen Gründen aufgestellt haben.

Rationalität zählt jedoch in diesen Wochen noch weniger als sonst, und deshalb steckt in allen Köpfen der Gedanke: Wer Merkel stürzen will, findet jetzt in der Bundesversammlung eine gute Chance. Ein erster Landesverband der FDP ist bereits auf Distanz zu Wulff gegangen. Jene, die immer noch davon ausgehen, dass politische Formationen in allen Fragen geschlossen auftreten müssen, sehen die Lage für Merkel und ihre Regierung als gefährlich an. Wer hingegen eine lebendige Demokratie schätzt, entdeckt in diesen Vorgängen einen Fortschritt.

Turbulenz 3: Pflegefall FDP

Innerhalb von wenigen Monaten ist die FDP für die Unionsparteien vom politischen Wunschpartner zum Sicherheitsrisiko, ja zur Achillesferse der Bundesregierung geworden. Es handelt sich dabei um einen Vorgang, der nicht überschätzt werden kann: Die FDP erreichte bei der letzten Bundestagswahl nahezu 15 Prozent der Stimmen. Bei der jüngsten Landtagswahl im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen kam die strahlende Wahlsiegerin vom Herbst 2009 auf 6,7 Prozent. In Umfragen liegt sie inzwischen bundesweit zwischen fünf und sechs Prozent und müsste, wäre jetzt Bundestagswahl, um den Wiedereinzug ins Parlament kämpfen.

CDU und CSU sind zu vernünftig und inzwischen zu sozial, um der FDP in ihrer unsozialen Politik zu folgen. Angela Merkel, fleischgewordene politische Mitte, verspürt offenbar auch in der Koalition mit der FDP keine Lust, zu ihrem einst marktradikalen Kurs zurückzukehren. So versucht sie einerseits nach aussen die Gegensätze in der Bundesregierung auszutarieren und der FDP und ihrem Vizekanzler Westerwelle zu helfen, das Gesicht zu wahren. Andererseits aber liess und lässt sie die CDU-PolitikerInnen und –BundesministerInnen gewähren, die die Steuersenkungspläne der FDP unterminierten – ein Vorhaben, mit dem sich die FDP vor allem vor dem Hintergrund der hohen Staatsverschuldung völlig isoliert hatte.

Nachdem CDU und CSU so in einem monatelangen Kleinkrieg den Partner FDP zurechtgestutzt hatten, folgt nun der Streit um Steuererhöhungen: Weite Teile der CDU wollen im Rahmen einer Spar- und Sanierungspolitik auch die Steuern für Vermögende und sehr gut Verdienende erhöhen. Sogar der Vorsitzende des CDU-Wirtschaftsrats plädiert dafür: Wenn ärmeren Schichten soziale Leistungen gestrichen würden, dann müssten auch die Reichen etwas beisteuern, so sein Argument. Die FDP ist jedoch strikt dagegen. Und Kanzlerin Merkel stützt diese Position; so werden im jüngsten Sparpaket, mit dem die Regierung in den nächsten Jahren bis zu achtzig Milliarden Euro sparen will, zwar die Ärmsten der Republik belastet (vgl. Seite 1 der Print-WOZ), aber weder der Spitzensteuersatz, noch die Erbschaftssteuer erhöht oder die Vermögenssteuer wieder eingeführt.

Merkel weiss: Es hat die FDP, ihren politischen Pflegefall, blamiert, als sie öffentlich ihrem Steuersenkungsvorhaben abschwören musste. Müsste sie nun auch noch für das Gegenteil, also für Steuererhöhungen, die Hand heben, würde dies die FDP und deren Spitze in so schwere Turbulenzen stürzen, dass die Regierung gefährdet wäre. Da jedoch an Steuererhöhungen kein Weg vorbeiführt – aus Gründen der Gerechtigkeit und um auch nur annähernd eine Chance zu haben, die Staatsschulden in den Griff zu bekommen –, brauchen Merkel und Westerwelle noch Zeit, um diese nächste Wende für die FDP vorzubereiten. Heute geht dies auf gar keinen Fall: Denn Merkel und Westerwelle brauchen in der Bundesversammlung jede FDP-Stimme für ihren Kandidaten Wulff.

Turbulenz 4: Vakuum NRW

Auch Wochen nach der Wahl hat Nordrhein-Westfalen (NRW) immer noch keine neue Landesregierung. Die bisherige Regierung aus FDP und CDU hatte keine Mehrheit erzielt, für eine rot-grüne Regierung reicht es jedoch auch nicht. Es gab Gespräche von SPD und Grünen mit der Linkspartei über eine rot-rot-grüne Regierung: gescheitert. Es gab Gespräche mit der CDU über eine Grosse Koalition: gescheitert. Es gab Gespräche mit der FDP über eine sogenannte Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP: gescheitert. Jetzt wird die bisherige Regierung weiter die Geschäfte führen, und die SPD will versuchen, für ihre Gesetzesvorhaben mit unterschiedlichen Bündnissen parlamentarische Mehrheiten zu organisieren. Unklare Verhältnisse auf Dauer: Ein Zustand, der bisher in Deutschland eine Rarität war. Die Bevölkerung wird sich daran gewöhnen müssen.

Die Politik, auch das hat die NRW-Landtagswahl gezeigt, hat keine Machtzentren mehr. Die kleinen Parteien werden grösser, die bisher grossen kleiner. Und alle Parteien zusammen sind weniger denn je legitimiert. Das Ergebnis dieser Wahl war bis zuletzt offen und deshalb spannend. Es gab deshalb einen Grund, zur Wahl zu gehen. Vor allem in der schweren Krise kommt es auf die richtige Politik an – noch ein Grund, die Wahllokale aufzusuchen. Wenn in einer solchen Situation weniger als sechzig Prozent der BürgerInnen wählen, dann ist dies mehr als nur eine geringe Wahlbeteiligung. Dann ist es ein Akt der Delegitimierung der Parteien.

Es gibt also Anzeichen politisch-kultureller Umbrüche. Doch das meiste ist so wie immer: Die Banken behalten ihre Macht, die Reichen ihr Geld, und den Ärmeren wird es – siehe das jüngste Sparpaket – genommen.

Unverändert redet die regierende Politik Unfug daher. So sagt die Kanzlerin: Wir können nur ausgeben, was wir einnehmen. So sagt Westerwelle: Bei einem Staatshaushalt ist es wie bei einem privaten Haushalt, man kann nicht mehr ausgeben als das, was man hat. So sagt Merkel: Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt. Stereotype, mit denen unter anderem Staatshaushalte mit Privathaushalten gleichgesetzt werden – das ist pure Desorientierung, die das Nachdenken über Alternativen bereits im Keim ersticken soll.

Unverändert spielen wichtige Fragen kaum eine Rolle: Wie kann die Finanzbranche so reguliert und geschrumpft werden, dass sie BürgerInnen und Unternehmen dient? Wer zahlt die Zeche der Krisen? Wie kann die deutsche Wirtschaft zu einer ökologisch geprägten Wissensindustrie umgebaut werden? Wird die jetzige Eurokrise genutzt, um zu einer gemeinsamen EU-Wirtschaftspolitik zu kommen? In all diesen zentralen Themenbereichen bleibt alles beim Alten im turbulenten Deutschland.


Wieder keine Frau

Am 30. Juni entscheidet die Bundesversammlung, wer auf Horst Köhler folgt, der Ende Mai mit sofortiger Wirkung vom Amt des Bundespräsidenten zurückgetreten war. Die Bundesversammlung besteht aus den 622 Mitgliedern des Bundestags und 622 Abgesandten der Bundesländer, die jedoch nicht Abgeordnete sein müssen. In letzter Zeit war es Usus, dass auch Prominente, Künstlerinnen, ehemalige Politiker oder SportlerInnen für die Bundesversammlung nominiert wurden. Sie sind nicht weisungsgebunden; das macht eine Prognose über den Ausgang der Wahl schwierig. Sicher ist nur, dass Luc Jochimsen, die Kandidatin der Linkspartei, keine Chance hat. In Deutschland ist noch nie eine Präsidentin gewählt worden.

Das Präsidialamt hat vor allem repräsentative Funktion. Zu den Befugnissen des Präsidenten (der Präsidentin) gehört jedoch die Auflösung des Parlaments, sofern – wie zuletzt Gerhard Schröder (SPD) – der Kanzler respektive die Kanzlerin eine Vertrauensabstimmung verliert. Zudem kann sich der Präsident weigern, ein Gesetz zu unterschreiben. Horst Köhler soll mehrfach mit seiner Unterschrift gezögert haben. Im Oktober 2006 stoppte er das von der Grossen Koalition verabschiedete Gesetz zur Privatisierung der Flugsicherung.