Deutschland nach der Wahl: Wohlstandsland in Krisenstarre

Nr. 39 –

Wird Deutschland jetzt schwarz? Ganz so einfach ist das Ergebnis der Bundestagswahl vom Sonntag nicht zu interpretieren. Aber Deutschland bleibt, wie es war. Und das ist schlimm genug.

Wie machtvoll ist jetzt Angela Merkel und wie ohnmächtig das zerstrittene linke Lager? Die Verhältnisse sind klar: «Deutschland wird schwarz», sagte ein Hörfunkjournalist am Tag nach der Wahl. Angela Merkel, die Siegerin, wurde zum dritten Mal zur Kanzlerin gewählt; die Union – seit 2005 führende Regierungspartei – gewann im Vergleich zu 2009 etwa 3,5 Millionen WählerInnen hinzu, schrammte mit 42 Prozent haarscharf an der absoluten Mehrheit im Bundestag vorbei und ist wieder eine richtige Volkspartei – und zwar die einzige in ganz Deutschland. Also: schwarzes Deutschland.

Aber auch das Folgende ist richtig: Ihre Regierung wurde krachend abgewählt, denn die FDP hat vier Millionen Stimmen verloren und flog aus dem Bundestag. Das heisst: Zuallererst gewann die Union WählerInnen zurück, die 2009 noch für die FDP gestimmt hatten. Eine weitere Zahl, die den Glanz der greifbar nahen absoluten Mehrheit ermatten lässt: Etwa fünfzehn Prozent aller Wählenden sind wegen der Fünfprozenthürde im Bundestag gar nicht vertreten – ein historischer Höchststand. Die FDP scheiterte knapp, ebenso die neue national-liberale Alternative für Deutschland (AfD), die Piraten erhielten 2,2 Prozent, mehrere Splitterparteien zusammen etwa 4 Prozent. Allein deshalb reichten der Union letztlich bescheidene 42 Prozent, um fast an die absolute Mehrheit der Mandate im Bundestag heranzukommen.

Immer schwächere Opposition

Und dann muss noch der schwache Rückhalt der «Mutti» der Nation berücksichtigt werden (Merkels CDU-interner Spitzname ist längst in die Alltagssprache eingegangen). In nur sechs von sechzehn Bundesländern ist die Union die stärkste Regierungskraft, und ihr Ministerpräsident in Hessen könnte ihr noch abhandenkommen. Die Länder spielen in der föderalen Bundesrepublik jedoch eine zentrale Rolle: Ohne die Zustimmung des Bundesrats kann die Bundesregierung kein wichtiges Gesetz durchsetzen. So bleibt Angela Merkel nichts anderes übrig, als eine Koalition mit der SPD einzugehen, muss sie doch die Mehrheit der Zweiten Kammer für sich gewinnen.

Ist Deutschland also doch nicht schwarz? Stimmt auch nicht ganz. Denn die versammelte Opposition links des Mainstreams ist in den vergangenen zehn Jahren rechnerisch immer schwächer geworden. 2005 repräsentierten SPD, Grüne und die Partei Die Linke etwa 51 Prozent der Stimmen; damals sprach man sogar von einer «strukturellen linken Mehrheit». 2009 war dieser Anteil bereits auf 46 Prozent geschrumpft, und heute bringen SPD, Grüne und Linkspartei lediglich noch 43 Prozent auf die Waagschale. Das bürgerliche Lager kommt dagegen auf stolze 51 Prozent, wenn man die Voten für Union, FDP und AfD zusammenzählt. Allerdings steht damit das traditionelle bürgerliche Lager neu vor einer Dreiteilung, wie sie im linken Lager schon lange gegeben ist.

Wenn das alles so diffus und widersprüchlich ist und Angela Merkel mehr Scheinriesin denn mächtige Siegerin – warum steht sie trotzdem so glänzend über allem und allen?

Nur geschickt managen

Da ist etwa ihr Stil. Es reicht, sie im Fernsehen zu erleben, um davon einen Eindruck zu bekommen. Beispielsweise am Wahlabend: In der Wahlsendung mit allen SpitzenkandidatInnen legt ein hektischer ZDF-Chefredaktor eine Hochrechnung nach der anderen vor und fragt: «Frau Bundeskanzlerin, Sie haben vermutlich die absolute Mehrheit, wagen Sie es, alleine zu regieren, nein, jetzt liegt knapp Rot-Rot-Grün vorn, mit wem koalieren Sie, wagen Sie eine Minderheitenregierung, und wie …» Angela Merkel lächelt milde, streicht dem Moderator mit ihren Worten sanft übers Haupt: «Wir warten jetzt das Ergebnis ab, ich freue mich über den Erfolg, ich werde umsichtig mit dem Vertrauen umgehen, ich bin sicher, es wird eine gute Lösung geben, wir werden eine stabile Regierung bilden, Sie müssen sich nicht sorgen …», und zwischendrin flicht sie ein, es gebe gerade eine Bankenreform in Slowenien, da müsse man auch ein Auge darauf haben. Nach einer solchen Sendung wissen alle: Bei dieser seriösen, hart arbeitenden Frau sind wir viel besser aufgehoben als bei diesen testosterongeschwängerten Spitzenmännern von CSU, SPD, Grünen und Linkspartei.

Doch es ist nicht nur Merkels Stil. Es ist auch ihr Umgang mit den in Deutschland herrschenden Interessen, Mächten und Erwartungen: Sie nimmt alle als gegeben hin, will nichts verändern, nur möglichst geschickt managen. Das ist ihr Anliegen. Ein Beispiel: Angela Merkel kämpft in diesen Monaten Arm in Arm mit der IG Metall und der deutschen Automobilindustrie gegen die in ihren Augen zu harten Umweltauflagen der EU. Diese Haltung empört sogar die wirtschaftsnahe «Frankfurter Allgemeine Zeitung», die es beschämend findet, dass beispielsweise ein Unternehmen wie Daimler Umweltvorgaben nicht als technische Herausforderung annehme, so wie Toyota dies bereits seit Jahren tue.

Als Kanzlerin vertritt Merkel mit Hingabe und grossem Geschick die Interessen von Unternehmen und Banken ebenso wie die mancher Gewerkschaften. Kein Wunder, signalisierten zumindest die Industriegewerkschaften schon früh, wie sehr ihnen eine Grosse Koalition unter Merkel zupasskäme.

Ähnlich geht sie mit den öffentlichen Erwartungen um, die sie wie selbstverständlich aufgreift: Mindestlohn, Abschied vom Atomstrom, mehr Frauen in Führungspositionen, gleiche Rechte für gleichgeschlechtliche Paare. PolitikwissenschaftlerInnen nennen das die «Sozialdemokratisierung» der Union, ein Begriff, mit dem Merkel mit Sicherheit nichts anfangen kann. Denn die Tatsache, dass die Union unter ihrer Führung so liberal wie die FDP und sozialer als die SPD unter dem Agenda-2010-Kanzler Gerhard Schröder geworden ist, hat für sie allein damit zu tun, dass es eben starke Mächte, Interessen oder Erwartungen gibt, die berücksichtigt werden müssen. So ist Merkel wie eine Tagesmutter, die sich in der Kita Deutschland um jeden kümmert, der eine ausreichend mächtige Beschwerde oder ein ausreichend mächtiges Anliegen hat. Klar, dass sie die deutschen Besitzstände in der EU verteidigt wie eine Löwin ihr Junges.

Bloss nichts verändern

Zu diesem Vorgehen – mit dem Bestehenden so hantieren, dass es bleibt, wie es ist – gehört auch, das Wahlvolk mit Problemen möglichst wenig zu behelligen. Da haben sich zwei gefunden: Für die Mehrheit der Bevölkerung ist das völlig in Ordnung, denn 71 Prozent halten die wirtschaftliche Lage für gut oder sehr gut. So wurde zwar über den Mindestlohn diskutiert, aber nicht über Bankenmacht, das Risiko der dominierenden Exportorientierung, Geldentwertung, den masslosen privaten Reichtum oder die Eurokrise. Denn diese haben ja mit Macht, mit Veränderung von Machtverhältnissen, eventuell mit der Zurückweisung mächtiger Interessen zu tun.

So wurde in diesem Wahlkampf noch einmal festgeklopft, was zuvor schon sehr fest war: der mehrheitliche Wunsch, sich am Bestehenden festzukrallen und nichts zu verändern. Ein Wohlstandsland in Krisenstarre.

Am Stimmeneinbruch der Grünen lässt sich dieses Erstarren gut ablesen. Denn sie waren – teilweise wider Willen – mutig. Sie schlugen mit guten Argumenten einen freiwilligen fleischlosen Tag in öffentlichen Kantinen vor, stiessen mit dem Ansinnen, den Lebensstil generell zu ändern, aber auf entschiedene Vorbehalte. Und der Gegenwind zu ihrer Idee einer stärkeren Besteuerung der obersten zehn Prozent war so stark, dass die SPD – mitten im Wahlkampf – ihre eigenen Steuererhöhungspläne spektakulär relativierte und die Grünen schmählich im Stich liess.

Wie geht es weiter? Es wird in Berlin eine Grosse Koalition geben. Das kann noch dauern, weil die SPD pokert. Aber Merkel bleibt nichts anderes übrig, der SPD auch nicht. Dabei könnte es in Hessen erstmals eine Landesregierung aus Grünen, SPD und Linkspartei geben. Das Tabu einer Zusammenarbeit mit der Linkspartei wird sowieso nur noch von Teilen der SP-Führung gepflegt; eine Haltung, die höchstens mit dem Besteckkasten der Psychoanalyse erklärt werden kann. Die Grünen werden sich verändern: weniger links, weniger sozial, auch offen gegenüber der Union; das ist erkennbar ihre Lehre aus dem Wahlergebnis. Taktisch ergab das sogar Sinn, denn schliesslich hatten sie sich im Wahlkampf um das Soziale und die Umverteilung allein deshalb so intensiv gekümmert, weil es das strategische Ziel von Grünen und SPD war, die Linkspartei aus dem Bundestag zu drängen. Aber all diese Fragen sind unbedeutendes Beiwerk im Vergleich zur Botschaft dieser Wahl: Deutschland verharrt in seinem Wohlstand.