Jugendgewalt: Eine Debatte verleumdet die Jugend

Nr. 43 –

Jede Schlägerei eine Schlagzeile. Aber wie gewalttätig ist die Schweizer Jugend wirklich? Verbissen kämpfen PolitikerInnen, ExpertInnen und die Polizei um die Lufthoheit in dieser Frage. Ein Streifzug durch die Diskussion.


Als sich Schweizer Jugendliche Ende der sechziger Jahre in einem Ostschweizer Dorf an einer Schülerin vergingen, war das ein Fall für die Polizei und die Justiz. In den Medien fand sich keine Zeile, kein O-Ton und schon gar kein Bild. Hinter vorgehaltener Hand mochte die Geschichte die Runde machen. Den stumpenrauchenden Honoratioren auf den Lokalredaktionen kam es aber kaum zu Ohren, ihre Neugier fokussierte sich auf das örtliche Establishment, zu dem sie selbst gehörten. Und sollte die Geschichte dennoch bis zu ihnen vorgedrungen sein, hielten sie sie womöglich nicht für berichtenswert. Ihr Nachrichtengeschäft galt der Gemeinde- und Parteipolitik, der Kirche, dem Vereinswesen und den Naturkatastrophen. Selbst eine Schiesserei im lokalen Bandenmilieu hinterliess keine medialen Schmauchspuren. Ganz zu schweigen von den biergetriebenen Wochenendschlägereien, die oft genug blutig und manchmal mit üblen Verletzungen endeten. Man rechnete sie anscheinend zu den Risiken, denen junge Männer ausgesetzt waren, und machte davon kein Aufheben.

Früher blieb nicht nur die Kirche im Dorf, sondern auch die verschwiegene Gewalt. Heute füttert die Polizei ein verästeltes Mediensystem noch mit dem belanglosesten Autounfall und erst recht mit jeder Schlägerei. Niemand vermag das Resultat der medialen Verwurstung vorauszusehen. Aber man kann Gift darauf nehmen, dass sich Geschichten über Jugendgewalt mit politischen Vorstössen und babylonisch anmutenden Talkrunden zu einer explosiven Mischung verbinden. Alle reden dann, aber kaum einer weiss genau, wovon er redet. Das ist gesichert. Alles andere ist unklar. Selbst unter ExpertInnen. Manche SoziologInnen behaupten, die sogenannte Jugendgewalt nehme zu, andere bestreiten es.

Kühlen Kopf bewahren in diesem Klima ausgerechnet die Polizeikorps der Schweiz. Im Bericht des Bundesamts für Polizei «Jugendliche Intensivtäter»  – einem Folgebericht der vom damaligen Bundesrat Christoph Blocher in Auftrag gegebenen Untersuchung zur Jugendgewalt – kontrastieren die Einschätzung der Polizisten die «politisch-medialen Aufbauschungen». Etwa die Hälfte der PraktikerInnen glaubt, dass weder die Zahl der Banden noch jene der Intensivtäter deutlich zugenommen hat.

Allerdings glauben sie, dass Strassenjungs heutzutage brutaler und häufiger zuschlagen. Den Grund dafür sehen sie in Eltern, die ihren Kindern kaum Grenzen setzen, in fehlendem Respekt gegenüber Menschen und Sachen, in Drogenmissbrauch und in der «Machokultur» vor allem bei Jugendlichen aus der Balkanregion. Bloss eine Minderheit der Befragten glaubt, dass sich heute mehr jugendliche Gewalttäter auf den Strassen herumtreiben.

Die Jugend benimmt sich ordentlich

Wie gewalttätig ist die Schweizer Jugend? Noch ist das offensichtlich eine Glaubensfrage, zumindest was die «Intensivtäter» angeht. Mindestens 500 machen die Schweizer Strassen unsicher. Sie begehen fünfzig Prozent aller Straftaten. «Intensivtäter» ist allerdings ein unscharfer Begriff, denn eine einheitliche Definition fehlt. Für eine halbwegs zutreffende Gesamteinschätzung mangelt es an brauchbarem statistischem Material. Die Forschungslücken sind erheblich.

Das monieren auch die Schweizer Polizeikorps. Sie wünschen sich vermehrt Hell- und Dunkelfeldforschungen. In der Kriminologie bezeichnet das Dunkelfeld die Differenz zwischen den registrierten Straftaten – dem sogenannten Hellfeld  – und den vermutlich begangenen Taten. Ausserdem vermissen die Ordnungshüter eine systematische Untersuchung über jugendliche Intensivtäter und Jugendbanden. Schliesslich lassen sich Verrohung, Brutalisierung, Gewalt um der Gewalt willen und Respektlosigkeit nicht quantifizieren. Wo es übrigens gelingt, Intensivtäter von der Strasse zu holen, beruhigt sich die Lage meist schlagartig. Jugendgewalt ist – so viel immerhin ist klar – mehr ein sozial und weniger ein kulturell bedingtes Phänomen: Gefährdet ist, wer in einer armen, bildungsfernen Familie und womöglich noch in einem sozialen Brennpunkt aufwächst.

Wie gewalttätig ist die Schweizer Jugend? Für einmal bringt es eine Pauschalisierung auf den Punkt: Die Jugend benimmt sich ordentlich, selbst wenn die Dunkelziffer hoch sein mag. In der Schweiz leben etwa eine Million Kinder und Jugendliche zwischen sieben und siebzehn Jahren. Gerade mal 9556 wurden im Jahr 2006 verurteilt, davon 2370 wegen eines Gewaltdelikts. Achtzig Prozent delinquieren nach drei Jahren nicht mehr.

Gäbe es Forschungen und Statistiken, die einen Langzeitvergleich zuliessen, käme dabei womöglich heraus, dass die Jugend des Jahres 2009 angepasster ist und unter erheblich höherem Druck steht als jene Generationen, die ihr jetzt bedeuten, sie sei nicht ganz richtig. Noch kann man sich – je nach Verfasstheit – die Antworten also zurechtlegen. Angeln PolitikerInnen, ExpertInnen und Polizei nach richtigen Einschätzungen, fischen sie nach wie vor in trüben Gewässern. Das lässt politischen Einheizern viel Spielraum. Ein Politiker raunt mit Blick auf die Konkurrenz von rechtsaussen, natürlich «off the record»: Es würde ihn nicht wundern, wenn demnächst aus den Lautsprechern der Fremdenfeinde der Ruf nach der Todesstrafe erschallte.

«Im Knast hast du einen eigenen Fernseher»

Selbst wenn es sich mit der Jugendgewalt verhält wie mit dem Scheinriesen in «Jim Knopf und die Wilde 13», der in Wahrheit ja ein trauriger kleiner Mensch ist: Wer die Gewalttaten wegrechnen, wegerklären oder wegentschuldigen wollte, wäre nicht ganz bei Trost. München, Locarno oder Winnenden schocken nicht bloss ängstliche ZeitgenossInnen. Auch weniger spektakuläre Vorfälle verunsichern – vermutlich jene am meisten, die weit weg von den sozialen Brennpunkten leben und nach acht Uhr abends das Haus nicht mehr verlassen.

Im Januar gingen 22 Jugendliche im sankt-gallischen Buchs und in Chur auf Beutezug. An zwei Wochenenden verübten sie fünfzig Straftaten. Sie agierten in unterschiedlichen Besetzungen, fast alle stammen sie aus Zuwandererfamilien vom Balkan, aber nicht alle sind das, was man als sozial benachteiligt zu bezeichnen pflegt. Sie verhielten sich wie die Bande, die im März wahllos Leute im Zentrum der Rheintaler Kleinstadt Altstätten niederschlug und ausraubte, spätabends und nachts. Auch sie mehrheitlich junge Leute aus Migrantenfamilien. Im Tal, in dem die SVP nahezu vierzig Prozent der WählerInnen hinter sich schart, war der Teufel los. Sechs Raubüberfälle oder womöglich noch mehr an zwei Wochenenden. Die Überfälle folgten demselben Muster: Die jungen Männer suchten sich ihre Opfer wahllos aus, auch deutlich ältere Personen als sie selbst, schlugen wortlos zu, dann erst holten sie sich Handy, Brieftasche oder was auch immer. Geld war eine schöne Nebensache. Einem Opfer sprang ein junger Mann von hinten mit Wucht in den Rücken. Die Opfer, von denen nicht alle Anzeige erstatteten, hatten Glück im Unglück, bleibende Schäden trug keines davon. Monate später informierte die Polizei: Sie habe elf junge Männer im Alter von sechzehn bis neunzehn dingfest gemacht.

Sie hatten die unbewaffneten Raubüberfälle in unterschiedlicher Besetzung begangen. Manche haben eine Strafakte, dick wie Arnies Oberschenkel, andere sind Mitläufer aus intaktem Elternhaus. Die Motive der jungen Männer bezeichnet der zuständige Jugendanwalt Reto Walther als «undurchsichtig». Die Überfälle gingen ihnen leicht von der Hand, und so machten sich die jungen Männer wohl einen Sport daraus.

Jugendgewalt bezeichnet Walther als «politisch hochgekochtes» Thema. Dass seine Klientel Migrantenfamilien entstammt, ist für ihn nicht wirklich von Belang: «Ich achte nicht auf den Pass, sondern auf das, was sinnvollerweise anliegt.» Das Jugendstrafrecht fokussiert nämlich die Entwicklung und Potenziale des Jugendlichen – manchmal reicht eine Familienbegleitung, manchmal ist eine Heimplatzierung unumgänglich. Die Palette der Massnahmen ist breit. Solange sich der jugendliche Straftäter gut entwickelt, ist seine Strafe ausgesetzt.

Könnten sie wählen, würden manche jungen Männer einen Gefängnisaufenthalt einer Massnahme vorziehen. Einer bestätigt es: «Ich wollte meine Ruhe, im Knast hast du einen eigenen Fernseher.» Er ist ein ehemaliger Gewalttäter, den keine Schule mehr wollte. Im Jugendheim Platanenhof im sankt-gallischen Oberuzwil haben ihn die Erzieher auf einen guten Weg gebracht. Inzwischen lebt er in der offenen Wohngruppe und absolviert eine Anlehre. Jetzt ist nicht nur der Oberkörper des Jünglings gestählt, jetzt schmiedet er Zukunftspläne.

Im Gefängnis hätte er die Strafe unbehelligt von lästigen Forderungen absitzen können. Im Heim konfrontierten ihn die Erzieher mit seinen Taten. Unabhängig vom Strafmass oder den Wünschen der Eltern kann die Jugendanwaltschaft über einen Straftäter bis zu seinem 22. Geburtstag bestimmen. Im alten Jugendstrafrecht lag diese Limite höher, bei 25.

Reto Walther kritisiert die Herabsetzung der Alterslimite. Gerade wer nach mehr Härte schreit und sich über die angebliche «Kuscheljustiz» enerviert, sollte nicht längere Gefängnisaufenthalte fordern, die in der Regel kürzer ausfallen als die Maximalmassnahme. Denn wer seine Strafe abgesessen hat, wird in der Regel ohne Auflagen in die Freiheit entlassen. Jugendanwaltschaften aber können unabhängig von der Höhe der Strafe die Massnahmen bis zur Alterslimite ausreizen, sollte ein junger Straftäter nicht kooperieren. Das erzeugt Druck und wirkt erst noch besser auf die jungen Menschen. Am Schluss entlässt man nicht gut ausgebildete Kriminelle in die Freiheit, sondern Berufsleute mit Perspektive. Womöglich wird die Alterslimite schon bald wieder heraufgesetzt: Die Zürcher Nationalrätin Chantal Galladé (SP) verlangt es in einer Motion.

Bei Migranten ist die Verurteilungsrate fünfmal höher

Mit der scheinbar dramatisch ansteigenden Jugendgewalt korrespondiert der Ruf nach mehr Repression. Einig sind sich fast alle darin, dass die Täter heutzutage brutaler vorgehen. Ob die Delikte und die Zahl der Gewalttäter insgesamt zugenommen haben, ist umstritten.

Der an der Universität Zürich lehrende Kriminologe und Soziologe Martin Killias spricht von einer Zunahme. Sein Institut hat in mehreren Kantonen Jugendliche über ihre Gewalterfahrungen befragt, zuletzt im Kanton St. Gallen. 5200 OberstufenschülerInnen der neunten Klasse beantworteten online einen Fragenkatalog. Selbst berichtete Delinquenz nennt sich das. Beispiel: «Hast Du schon einmal jemanden geschlagen oder verprügelt (mit den Fäusten, mit einer Waffe, mit Fusstritten etc.), sodass er/sie ernsthaft verletzt wurde (blutende Wunde, blaues Auge etc.)?» Kreuzt ein Schüler diese Frage mit Ja an, weiss niemand, was genau er getan hat und wie schlimm der Vorfall tatsächlich war. Das öffnet einen grossen Interpretationsspielraum.

Ein Viertel der befragten SchülerInnen berichtet über Gewalterfahrungen. Und die Studie bestätigt, was bereits andere Studien herausgefunden haben und was sich auch aus den Kriminalitätsstatistiken ableiten lässt: Jugendliche aus Migrantenfamilien sind häufiger gewalttätig. Ein Befund der St. Galler Studie liess aber besonders aufhorchen: Migrantenkinder der zweiten Generation sind demnach genauso oft in Gewalttaten verstrickt wie die der ersten Generation.

Nachdem die Studie im August der Öffentlichkeit vorgestellt worden war, kritisierten Fachleute die ihr zugrunde liegende Methode beziehungsweise die Schlüsse, die man aus den Daten zog. Einer der KritikerInnen äusserte sich in einem Interview mit der Hauszeitung der Universität St. Gallen. Der HSG-Soziologieprofessor Franz Schultheis kritisierte, die Art der Befragung lasse bei der Interpretation der «seriös erhobenen Daten» einen grossen Spielraum, sofern man nicht die genauen Hintergründe ausleuchte. «Wenn solche Daten auf eine sensibilisierte Öffentlichkeit treffen, werden Aussagen produziert, die nicht kontrollierbar sind.» Der Soziologe knöpfte sich auch die Medien vor. Sie inszenierten spektakuläre Einzelfälle und zeichneten so ein Zerrbild. Das Phänomen der Jugendgewalt sei teilweise ein Konstrukt, an dem Medien, die Statistiken, die Polizei und die Wissenschaft mitbauten.

Schultheis’ Interpretation des hohen Migrantenanteils in den Kriminalitäts- und Urteilsstatistiken läuft dem politischen Mainstream zuwider: Migrantenkinder werden bei gleichen Straftaten durchgehend häufiger verurteilt als einheimische, bei Gewaltdelikten ist die Verurteilungsrate bei den MigrantInnen über fünfmal höher.

Schultheis stützt sich dabei auf die Untersuchung «Kindheit und Jugend in der Schweiz». Die hohen Verurteilungsquoten sind demnach auf Faktoren zurückzuführen, die Schweizer genauso gewalttätig werden lassen  – die ethnische Herkunft als Faktor gilt hier als «eigentlich irrelevant». Ins Gewicht fallen vielmehr Schichtzugehörigkeit, Bildungsniveau oder das soziale Umfeld.

Mit diesen Befunden stehen die Schweizer ForscherInnen nicht allein da. So bestätigen etwa die Arbeiten des Soziologen Bernd Holthusen vom Deutschen Jugendinstitut diese Befunde. Insgesamt habe die Gewalt sogar abgenommen. Gewaltvorfälle mit tödlichem Ausgang wie in München seien Einzelfälle, auch wenn die Menschen es wegen des starken medialen Rauschens anders wahrnehmen.

Schultheis’ unbeabsichtigter Stich ins politische Wespennest schmerzte allerdings erst richtig, als das «St. Galler Tagblatt» das HSG-interne Interview nachdruckte. Die St. Galler Regierungsrätin und Justizchefin Karin Keller-Sutter (FDP) – zusammen mit Erziehungschef Stefan Kölliker (SVP) Aufraggeberin der Killias-Studie – konterte in Windeseile in der nächsten Ausgabe. Die Magistratin warf dem Soziologen ideologische Verblendung vor und verteidigte die Killias-Studie und ihre Sicht auf die Jugendgewalt. Die Freisinnige aus einem CVP-Elternhaus, die als Nachfolgerin von Bundesrat Hans-Rudolf Merz gehandelt wird, gab ihrer Interpretation der Wirklichkeit den Anstrich der Objektivität: Die Schweiz sei kein Ausnahmefall mehr, die Jugendgewalt habe statistisch belegbar zugenommen und sich dem Niveau des europäischen Umfelds angepasst – was nicht nur Schultheis ganz anders einschätzt. Und man könne nun mal nicht die Augen davor verschliessen, dass Migrantenkinder, statistisch gesehen, überdurchschnittlich gewalttätig würden. Das allein mit Schichtzugehörigkeit zu begründen, greife zu kurz. Die Bekämpfung der Jugendgewalt müsse sich analog zum Drogenmissbrauch auf mehrere Säulen stützen. Und die Magistratin führte eines ihrer Lieblingsargumente an: die 24-Stunden-Gesellschaft und die enorme Mobilität. Man kann das beklagen. Dass ihre Partei aber an vorderster Front für möglichst schrankenlose Öffnungszeiten erst die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, lässt sie jeweils unerwähnt.

Gibt man heute den Suchbegriff «Franz Schultheis» im Online-Archiv des freisinnig navigierten «St. Galler Tagblatts» ein, erscheint zwar die Stellungnahme der Regierungsrätin und der sie stützende Kommentar des Chefredaktors, nicht aber das Schultheis-Interview.

Das mag Zufall sein oder auch nicht: Symbolisch jedenfalls steht dieses digitale Verschwinden für den verbissenen Kampf um die politisch-thematische Lufthoheit. Der Scheuklappenvorwurf lässt sich übrigens leicht gegen die bürgerliche Fraktion wenden: Was nicht sein darf, kann nicht sein.

«Wir müssen über Missstände und Wertmassstäbe reden»

Manche leben ständig in Bodennähe in und mit den sozialen Realitäten, über die andere bloss gescheit reden. Stefan Ambühl, 52, ist kein einflussreicher Politiker und auch kein hoher Funktionär. Aber sein handfester Einsatz für die Jugend macht ihn zu einem glaubwürdigen Gesprächspartner. Früher war Ambühl Verkaufsleiter bei der Swisscom. Heute leitet er das Asylzentrum in Appenzell. Der Sozialdemokrat und alte Gewerkschafter ist mit einer Algerierin verheiratet. Vor dreissig Jahren gründete er das Jugendforum im ausserrhodischen Dörfchen Stein, wo er aufgewachsen ist. Und später, als der Jugendtreff wiederbelebt werden musste, liess er sich vom Gemeinderat breitschlagen und hilft nun wieder mit. Ausserdem ist er Beistand von vier jungen Männern. Allerdings will, kann und darf er nicht offen über seine Schützlinge reden und muss sich ins Allgemeine flüchten. Aus seinen Erfahrungen und Beobachtungen destilliert er Einsichten, die sich zum Teil mit den Befunden von Soziologen wie Franz Schultheis, aber auch mit jenen von PolitikerInnen wie Karin Keller-Sutter decken. Stefan Ambühl kennt die Lebenswelten von sozial unauffälligen Jugendlichen, von AusländerInnen und von schwierigen Jugendlichen aus nächster Nähe.

Ambühl sieht hinter die Fassaden von Familien, in denen die Mutter die Verkehrssprache Deutsch nicht beherrscht und daher in der für sie fremden Umwelt nicht nur mit den Kindern überfordert ist. Dann kippen innerfamiliäre Machtverhältnisse. Dank ihrer Sprachbeherrschung sind die Kinder der Mutter überlegen. Der Vater, müde von der schweren Arbeit, findet am Abend nicht die Kraft oder den Willen, sich um die Erziehung der Kinder zu kümmern. Diese Kinder landen auf der Verliererseite, ehe sie eingeschult werden. «Die spüren das, und es frustriert sie.»

Ambühl trifft auf prekäre Wohnverhältnisse. Alkohol, Gewalt und Scheidungen spielen oft mit. Aber nicht alles, was Ambühl sieht, animiert seinen Helfertrieb. Die schlechte Stellung der Frauen in manchen muslimischen Familien und die Verhätschelung ihrer Söhne  – daran stösst er sich. Er will diese Dinge offen beim Namen nennen. «Über Missstände und die Wertmassstäbe unserer Gesellschaft müssen wir reden, wer hier leben will, soll sich an unsere Regeln halten. Wer keine Einsicht zeigt, den muss man ohne falsche Rücksichtnahme sanktionieren.»

Im Gespräch mit seinen Schützlingen fühlt sich Ambühl mitunter ohnmächtig. «Sie versprechen zwar, dass sie sich bessern, und entschuldigen sich für ihr Verhalten. Aber im Grunde wissen die Jugendlichen doch, dass ihnen keine wirklich harten Sanktionen drohen, wenn sie nicht spuren. Dabei geben wir ihnen echte Chancen.» Maulfaul seien manche und wirkten gleichgültig. Handkehrum klagt Stefan Ambühl die masslose Individualisierung an, geisselt die schlechten Vorbilder in Politik und Wirtschaft und deren Geldgetriebenheit, er fordert mehr Solidarität ein. Nicht weniger, sondern mehr Staat.

Mit Repressions-verherrlichung kommt man nicht weit

Dafür plädiert auch der Soziologe Martin Hafen. In einem aktuellen Aufsatz kritisiert der Dozent an der Hochschule Luzern den Ruf nach einfachen Lösungen. Mit «Grenzen setzen» und «hart bestrafen» komme man nicht weit. Die Polemik gegen «Kuscheljustiz» und «Kuschelpädagogik» führe zu nichts. Als «Repressionsverherrlichung» geisselt er das. Komplexe Probleme erforderten komplexe Lösungen. Zwar räumt Hafen der Erziehung eine bedeutende Rolle ein. Aber die Politik müsse sich um die Familien kümmern, in denen benachteiligte Jugendliche aufwachsen.

Einen Lösungsansatz sieht er in früh ansetzenden Förder- und Begleitprogrammen. Solche Programme zahlen sich aus. Das belegt eine Langzeituntersuchung in den USA, die eine Gruppe von geförderten Kindern mit einer Gruppe sich selbst überlassener Kinder vergleicht. Die öffentliche Hand hat hier mit jedem eingesetzten Dollar 16 Dollar gespart. Das Programm kostete pro Kind 15 000 Dollar, was einer Einsparung von 245 000 Dollar pro Kind entspricht. Ein Fazit Hafens: Prävention kann sich nicht auf Abschreckung, Sensibilisierung oder die kompromisslose Durchsetzung von Gesetzen und Regeln beschränken. Jugendgewalt ist demnach nicht primär ein Problem einer Jugend, die ihre Grenzen nicht kennt. Hafen sieht das Problem vielmehr bei der Politik, die Familien generell und besonders arme Familien weitgehend sich selber überlasse und den Kindern und Jugendlichen zu wenig Gestaltungsfreiheit im öffentlichen Raum zugestehe.

Jugendgewalt geht aber nicht bloss die Politik an: «Sie ist auch ein Problem der Gemeinschaft, die sich aus der Erziehung künftiger Generationen weitgehend zurückzieht und sich aufs Reklamieren beschränkt.»


Was die Statistik sagt

Die Anzeige- und Urteilsstatistiken erlauben aufgrund der bislang nicht abschätzbaren Dunkelziffer keinen genauen Aufschluss über das Ausmass der sogenannten Jugendgewalt. Umstritten ist auch, ob ein verändertes Anzeigeverhalten die Statistiken beeinflusst. Nimmt man diese zum Nennwert, legen sie allerdings nahe, dass die Gewaltbereitschaft Jugendlicher in den letzten Jahren deutlich angestiegen ist: Gemäss Kriminalstatistik hat die Zahl minderjähriger GewalttäterInnen von 1999 bis 2006 markant zugenommen (Körperverletzung: Zunahme von 760 auf 1525; Drohung: Zunahme von 405 auf 869). Die Anzahl der Jugendstrafurteile wegen Gewaltdelikten hat sich im gleichen Zeitraum von 1241 auf 2268 Verurteilungen beinahe verdoppelt.